Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein

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Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften - Edith  Stein


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Da ich außerdem bemerkte, daß die klassischen Sprachen eigentlich nicht zu trennen waren und daß Latein ohne Griechisch eine halbe Sache sei, entschloß ich mich – nicht ohne Bedauern – das Lateinstudium der Philosophie zu opfern.

      Ich trug einmal in der Zeit des Überlegens meine Gründe pro et contra meiner Mutter vor. »Liebes Kind«, sagte sie, »ich kann dir leider darin gar nicht raten. Tu, was du für richtig hältst; du wirst es selbst am besten wissen.« Ich wußte auch sonst niemanden, der mir raten konnte. Und so suchte ich mir ganz getrost selbst meinen Weg. Es gibt viele Leute, die mehrere Semester an der Universität verbringen, ehe ihnen klar wird, was sie eigentlich anfangen sollen. Viele wechseln das Studienfach, weil sie merken, daß sie sich auf der Schule über ihre Begabung und Neigung getäuscht haben. Besonders bei Mathematik ist das häufig, weil hier durch bloßen Fleiß ohne die spezifische Veranlagung nichts zu erreichen ist. Manche werden durch diese Unsicherheit sehr entmutigt und kommen vielleicht gar nicht ans Ziel. Am besten sind natürlich die dran, die aus einer Gelehrtenfamilie stammen und vom Vater die rechte Anleitung bekommen. Immerhin, zu der Erkenntnis kommt wohl jeder am Ende seines Studiums: daß er jetzt erst wüßte, wie es anzufangen sei.

      Ich litt damals unter meiner Freiheit keineswegs. Ich ließ es mir an der vollbesetzten Tafel wohl sein und schwamm seelenvergnügt wie ein Fisch im klaren Wasser und bei warmem Sonnenschein. Erst lange Jahre später ist mir die Erkenntnis gekommen, welche verhängnisvollen Folgen auch bei mir der Mangel einer sachkundigen Leitung hatte.

      Die erwähnte zielbewußte Studiengefährtin lernte ich bald in den ersten Wochen kennen. Sie hatte kein Abitur, sondern Lehrerinnenexamen und zwei Jahre Schulpraxis hinter sich: der sogenannte »4.Weg« zur Universität, der von der Frauenbewegung als ein Danaergeschenk des Ministeriums abgelehnt wurde, weil er keine geeignete Vorbereitung zum Studium war und darum die Gefahr eines ungünstigen Urteils über die Leistungen der studierenden Frauen mit sich brachte. Die meisten Lehrerinnen sahen den Mangel zunächst nicht ein und begrüßten die Erleichterung der Zulassung freudig. Die Einsichtigsten aber machten von der Erleichterung keinen Gebrauch, sondern holten das Abitur nach oder suchten sich wenigstens die fehlenden Kenntnisse anzueignen. Kaethe Scholz war ein ungewöhnlich tüchtiger und begabter junger Mensch. Ich kannte sie schon vom Sehen, denn sie hatte während ihrer beiden praktischen Jahre an der Viktoriaschule in den Vorschulklassen unterrichtet. Das genügte als Anknüpfung. Bald hatten wir verschiedene Arbeitsverabredungen und wandelten in den Pausen zwischen den Vorlesungen in lebhaften Gesprächen in den Gängen der Universität auf und ab. Wir waren nicht das einzige solche feste »Pärchen«. Es ist allgemeine Erscheinung, daß sich solche feste Verbindungen beim Studium herausbilden, und wenn man ein paar Monate an einer Universität ist, dann kennt man diese Kombinationen genau. Kaethe Scholz stammte aus einer protestantischen Familie vom Lande. Sie war groß, schlank und blond, aus ihren hellen Augen leuchteten Frische, Lebenslust und ein übersprudelndes Temperament. Wenn sie von Anfang an auf die Prüfung und den Lehrberuf hinarbeitete, so war sie doch nicht mit geringerer Freude als ich beim Studium. Überdies war sie sehr »geschäftstüchtig«. Sie hatte mehrere Zirkel, in denen sie Damen der Gesellschaft in geschichtliche und philosophische Fragen einführte. Das war viel einträglicher als gewöhnliche Privatstunden – sie konnte davon ihr Studium bestreiten. Es machte ihr außerdem Freude und war eine gute Methode, sich das, was sie im Kolleg gehört hatte, einzuprägen. Ihre Eltern wohnten draußen in Brockau; sie kam jeden Morgen auf der Eisenbahn hereingefahren und blieb tagsüber in Breslau. Sie kam sehr gern in ihren freien Stunden zu mir zu gemeinsamer Arbeit und war bald ganz bei uns zu Hause. Dankbar und ohne Ziererei nahm sie es an, wenn uns eine kleine Stärkung gebracht wurde. Auch in der Universität verspeiste sie oft mit gutem Appetit mein Frühstücksbrot. Wir lernten eifrig zusammen Griechisch. Für den Anfängerkursus waren drei Wochenstunden angesetzt; in einem Sommersemester wurde die ganze Grammatik, natürlich in groben Umrissen, durchgenommen.

      Im Winter folgte noch ein einstündiger Fortbildungskursus zur ersten Einführung in die Lektüre: Xenophons Anabasis und ein wenig Homer. Natürlich konnte dieser Unterricht nichts anderes sein als eine Anregung für eigene Arbeit. Die meisten Teilnehmer – Juristen, Theologen und Historiker – konnten sich dazu nicht entschließen und blieben nach wenigen Stunden fort. Sie wollten nur später eine Bescheinigung ihrer Teilnahme vorweisen können. Wir beide gaben uns viel Mühe, uns die vielen Verbformen einzuprägen und hielten durch. Aber freilich – wir waren Studentinnen und mochten dem eigentlichen Studium nicht gar zu viel Zeit für dieses schulmäßige Lernen entziehen. So bin ich zu meinem großen Schmerz nie zu einer so gründlichen und sicheren Beherrschung der griechischen Sprache gelangt, wie ich sie für das Lateinische hatte. Auch das Studium des Althochdeutschen begannen wir gemeinsam. Tatians Evangelienharmonien und etwas später Ulfilas Bibelübersetzung vermittelten mir die erste Bekanntschaft mit dem Evangelium (abgesehen von den Bruchstücken, die ich in den Schulandachten kennengelernt hatte). In unserem gotischen Lesebuch stand unter dem gotischen der griechische Urtext. Ich wurde aber damals nicht religiös davon ergriffen. Auch bei Kaethe Scholz habe ich nicht bemerkt, daß die Schrift für sie etwas Heiliges bedeutet hätte. Die Verschiedenheit der Konfession und Abstammung störte unsere Freundschaft nicht und wir hätten über religiöse Fragen ebenso offen wie über andere gesprochen, wenn sie uns bewegt hätten.

      Eine kleine Verstimmung gab es manchmal bei politischen Gesprächen. Ich stand damals stark unter liberalen Einflüssen. Die schlesische Landbevölkerung war unter dem Druck des beherrschenden Großgrundbesitzes überwiegend preußisch-konservativ. Kaethes Bruder begann damals gerade die Offizierslaufbahn. Dieses Milieu wirkte noch etwas bei ihr nach, obgleich sie viel in anderen Kreisen verkehrte. Später hat sie mancherlei Gesinnungswandlungen durchgemacht. Auch bei mir begann damals eine Veränderung in meinem Verhältnis zum Staat sich anzubahnen. Dazu trug mein Geschichtsstudium bei. Der alte Geheimrat Kaufmann, ein Greis mit schönen schneeweißen Haaren und jugendlich leuchtenden blauen Augen, und der noch ziemlich junge, kleine, aber straffe und schneidige Professor Ziekursch waren national-liberale Politiker. Sie hatten den freudigen Stolz auf das neue Reich, in dem wir alle erzogen waren, aber es war keine blinde Vergötterung des Herrscherhauses und keine Einengung durch den preußischen Gesichtswinkel. Die großzügige Beleuchtung weltgeschichtlicher Zusammenhänge weckte meine alte Liebe zur Geschichte wieder auf, so daß ich in den ersten Semestern noch schwankte, ob ich nicht sie zu meinem Hauptarbeitsgebiet machen sollte. Diese Liebe zur Geschichte war bei mir keine bloß romantische Versenkung in vergangene Zeiten; mit ihr hing aufs engste zusammen eine leidenschaftliche Teilnahme an dem politischen Geschehen der Gegenwart als der werdenden Geschichte, und beides entsprang wohl einem ungewöhnlich starken sozialen Verantwortungsbewußtsein, einem Gefühl für die Solidarität der Menschheit, aber auch der engeren Gemeinschaften. So sehr mich ein chauvinistischer Nationalismus abstieß, so fest war ich doch immer von dem Sinn und der natürlichen wie geschichtlichen Notwendigkeit einzelner Staaten und verschiedengearteter Völker und Nationen überzeugt. Darum konnten sozialistische Auffassungen und andere internationale Bestrebungen niemals Einfluß auf mich gewinnen. Mehr und mehr machte ich mich auch von den liberalen Ideen frei, in denen ich aufgewachsen war, und kam zu einer positiven, der konservativen nahestehenden Staatsauffassung, wenn ich mich auch von der besonderen Prägung des preußischen Konservatismus immer freihielt.

      Zu den rein theoretischen Erwägungen kam als ein persönliches Motiv eine tiefe Dankbarkeit gegen den Staat, der mir das akademische Bürgerrecht und damit den freien Zugang zu den Geistesschätzen der Menschheit gewährte. Alle die kleinen Vergünstigungen, die uns unsere Studentenkarte sicherte – die billigen Theater- und Konzertkarten u. dgl. –, sah ich als eine liebevolle Fürsorge an, die der Staat seinen bevorzugten Kindern angedeihen ließ, und sie erweckten in mir den Wunsch, später durch meine Berufsarbeit dem Volk und dem Staat meinen Dank abzustatten. Ich war empört über die Gleichgültigkeit, mit der die Mehrzahl der Kommilitonen den allgemeinen Fragen gegenüberstand: Ein Teil ging in den ersten Semestern nur dem Vergnügen nach, andere waren ängstlich darauf bedacht, das nötige Examenswissen zusammenzubekommen und sich später eine Futterkrippe zu sichern. Aus diesem starken sozialen Verantwortungsgefühl heraus trat ich auch entschieden für das Frauenstimmrecht ein; das war damals innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung noch durchaus nicht selbstverständlich. Der preußische Verein für Frauenstimmrecht, dem ich mit meinen Freundinnen beitrat, weil er die volle politische Gleichberechtigung für die Frauen anstrebte,


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