Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein

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Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften - Edith  Stein


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etwas zu sagen; meine Freundinnen hingen mit Liebe und Bewunderung an mir. So lebte ich in der naiven Selbsttäuschung, daß alles an mir recht sei: wie es bei ungläubigen Menschen mit einem hochgespannten ethischen Idealismus häufig ist. Weil man für das Gute begeistert ist, glaubt man selbst gut zu sein. Ich hatte es auch immer als mein gutes Recht angesehen, auf alles Negative, was mir auffiel, auf Schwächen, Irrtümer, Fehler anderer Menschen schonungslos den Finger zu legen, oft in spottendem und ironischem Ton. Es gab Leute, die mich »entzückend boshaft« fanden. So mußten mich diese ernsten Abschiedsworte eines Mannes, den ich hochschätzte und liebte, sehr schmerzlich berühren. Ich war ihm nicht böse darum. Ich schüttelte sie auch nicht als ungerechten Vorwurf ab. Sie waren wie ein erster Weckruf, der mich nachdenklich machte.

      Wir begegneten uns noch einmal, als wir beide zum Ferienaufenthalt in Breslau waren. Hermsen versprach mir, mich in Göttingen zu besuchen, wenn er von Neuwied in seine Heimat führe. In den ersten Augusttagen 1914, kurz nach Kriegsausbruch, bekam ich eine Karte von Göttingen nach Breslau nachgesandt, in der er seinen Besuch ankündigte. Ob es für ihn noch zu dieser Reise gekommen ist oder ob auch seine Pläne durch die Kriegsereignisse durchkreuzt wurden, weiß ich nicht. Ich erhielt keine persönliche Nachricht mehr von ihm, nur später durch Rose die Mitteilung, daß er als »vermißt« gemeldet sei, und einen Bericht über seine letzten Tage im Karpatenwinter, bis sich seine Spur verlor. Als ich im Herbst 1916 nach Freiburg i.Br. kam, sah ich im Schaufenster eines Photographen in der Kaiserstraße Hermsens Bild; er trug die kleidsame Uniform des deutschen Alpenjägerregiments, das im Schwarzwald für den Hochgebirgskampf geübt wurde. Die Platte war noch vorhanden, und ich konnte die alten Freunde des Toten mit Abzügen erfreuen.

      Nach Hermsen war das einflußreichste Gruppenmitglied Hermann Popp. Er war schon über 30 Jahre alt, hatte mehrere Jahre als Lehrer in der Volksschule gestanden, ehe er das Abitur machte und auf die Universität kam. Er war lang und hager; seine äußere Erscheinung erinnerte etwas an Don Quichote, den Ritter von der traurigen Gestalt. Man konnte in jeder Diskussion sicher sein, daß er das Wort ergreifen würde und daß dann nicht so bald jemand anders an die Reihe käme. Er hatte schon seine festen Grundsätze, wonach er zu jeder Frage mit Sicherheit Stellung nahm. Er trug seine Meinung mit viel Temperament und Nachdruck, mit schallender Stimme und oft in komisch übertreibender Weise vor. Es war nicht leicht, ernst dabei zu bleiben, auch wenn es ihm selbst ganz ernst war. Wir schätzten ihn aber alle hoch als einen charakterfesten und aufrechten Menschen, einen selbständigen und scharfsinnigen Denker. Er machte seine Doktorarbeit bei Stern (über das Associationsproblem), hatte sich aber von der Leitung dieses »Meisters« ganz frei gemacht. Überhaupt war unser Verhältnis zu unserem Lehrer ein sehr selbständiges. Stern vertrat einen bestimmten Typus jüdischen Menschentums. Er war damals anfangs der 40er, gut mittelgroß, wirkte aber kleiner, weil er etwas gebückt ging. Das blasse Gesicht war von einem braunen Bart umrahmt, die Augen blickten klug und gütig, der Gesichtsausdruck und der Klang der Stimme waren überaus milde und freundlich.

      Als er einmal bei einem Maskenfest in orientalischem Kostüm erschien, sah er aus wie Nathan der Weise. Er hat immer versichert, daß er im tiefsten Herzen Philosoph sei (darum eiferte er auch gegen die Trennung der philosophischen und psychologischen Lehrstühle) und daß sein großes philosophisches Werk »Person und Sache« ihm wichtiger sei als alle andern. Trotzdem war er mehr und mehr in die experimentelle Psychologie hineingeraten und verdankte seinen Ruhm den psychologischen Schriften, die in alle Kultursprachen übersetzt wurden. Sein Werk über »Kindersprache« und die »Psychologie der frühen Kindheit« stützte sich auf genaue Beobachtungen an seinen eigenen Kindern und auf die sorgfältigen Tagebücher seiner klugen und liebenswürdigen Frau, die seine treueste Mitarbeiterin war. Damals war er viel mit Methoden der Intelligenzprüfung beschäftigt; sein Verfahren der Berufseignungsprüfungen, mit dem er später in Hamburg praktisch durchdrang, wurde darin vorbereitet. Wir hatten gegen alle diese Dinge starke Bedenken, ebenso gegen sein allgemeines Prinzip der »goldenen Mitte«. Sein boshafter Kollege Hönigswald äußerte sich einmal zur Frage der Einführung von »Schulpsychologen«: »Der Schulpsychologe wird dann der mächtigste Mann im Staat. Er bestimmt einem jeden Menschen, was er werden soll, und wenn er jemandem ganz besonders gewogen ist, dann bestimmt er ihn zum Schulpsychologen!«

      Sterns eifrigste Schüler waren seine schärfsten sachlichen Gegner. Wir saßen im Seminar an dem hufeisenförmigen Tisch rechts und links von ihm und antworteten oft wie aus einem Munde mit einem lebhaften und entschiedenen »Nein!« Er nahm uns das nicht übel, war immer gleich gütig und freundlich, behielt aber seine eigene Linie unbeirrt bei. Popp, dieser radikale Denker, konnte sich natürlich bei einer so vorsichtigen Mittellinie nicht beruhigen. Er ging seine eigenen Wege. Ich wurde gründlich in seine Probleme eingeweiht, denn von meiner ersten Einführung in die Gruppe an war es sein Ehrenamt, mich heimzubegleiten. Er hat es sich nie von jemand anderm abnehmen lassen, obwohl sich meist noch mehrere andere uns anschlossen. Wenn wir vor unserem Hause anlangten, war er gewöhnlich noch lange nicht mit seinen Erörterungen fertig. Ich mußte dann eine ganze Weile mit ihm vor dem Gitter unseres Vorgärtchens auf- und abspazieren, um den Vortrag zu Ende anzuhören. Manchmal kam inzwischen mein Bruder heim, ich habe die beiden vor dem Gittertörchen einander vorgestellt. Diese Gespräche spät abends vor der Haustür waren nicht im Sinne meiner Mutter. Sie glaubte, dagegen Einspruch erheben zu müssen, und sagte, das erinnere ja ganz an meine Schwester Else, die auch oft abends, wenn sie heimkam, noch solche »Ständerle« vor der Tür gehalten hätte. Ich wies das mit Empörung zurück: ich bäte dringend, mich nicht mit Else zu vergleichen. Ich wußte wohl, daß es sich dort um »Verehrer« gehandelt hatte, und davon war in diesem Fall wirklich keine Spur. Meine Mutter hatte wohl auch nicht diesen Verdacht. Aber natürlich – die Leute aus der Nachbarschaft, die uns bei diesen nächtlichen Promenaden zuschauen mochten, konnten nicht ahnen, daß wir in psychologische oder erkenntnistheoretische Probleme vertieft waren. Doch solche Rücksichten lagen uns damals fern. Wir betonten bei jeder Gelegenheit, es sei uns gleichgültig, was »man« sagte und was »die Leute« dächten. Es war eine der wenigen scharfen und ungezogenen Antworten, die meine Mutter von mir bekommen hat; ich habe sie später bitter bereut.

      Im Sommer 1912 arbeitete Dr. Popp für sein Staatsexamen. Wenn es in seinem Studierzimmer so heiß wurde, daß sein Kopf nicht mehr funktionieren wollte, ging er in die Küche an den heißen Ofen. Kehrte er nach einer Weile an seinen Schreibtisch zurück, dann empfand er eine so angenehme Abkühlung, daß das Gehirn nun wieder zur Arbeit fähig war. Als er sein Staatsexamen hinter sich hatte und an eine Schule in der Provinz gehen sollte, bat er mich auf einer Postkarte noch um einen Abschiedsspaziergang. Er hätte auf seinen Karten die intimsten Geheimnisse schreiben können, denn niemand außer mir vermochte seine Hieroglyphen zu entziffern. Es war die erste und letzte solche Verabredung. Er wollte sich vor dem Untertauchen ins Philisterium noch einmal gründlich aussprechen.

      Der Verkehr mit Menschen, die soviel älter, reifer und wissenschaftlich fortgeschrittener waren, bot der kleinen Studentin natürlich viel Anregung und Förderung; er war aber auch eine Gefahr. Wenn die Kommilitonen mir von ihren Doktor- und Staatsarbeiten sprachen, so erlaubte mir eine leichte Auffassungsgabe und eine ungewöhnliche Fähigkeit, mich in andere hineinzudenken, ihnen im Augenblick zu folgen, vielleicht sogar kritische und anregende Bemerkungen einzustreuen. Das erweckte den Anschein, daß ich ihnen gleichstünde, und täuschte auch mich selbst. Ich besuchte die Kollegs und Seminare für Fortgeschrittene und übersprang manche Grundlagen, die mir nötig gewesen wären.

      Leiter der Pädagogischen Gruppe war in jenen Semestern Alfred Mann. Auch er war einige Jahre älter als ich, aber doch erheblich jünger und unreifer als Hermsen und Popp. Er trat auch in den Diskussionen noch bescheiden hinter ihnen zurück. Nur manche Bemerkungen im privaten Gespräch zeigten ausgesprochen demokratische Neigung (die Gruppe als solche war ganz unpolitisch), scharfe Kritik und einen derben Humor. Er war groß und für seine Jugend schon viel zu dick, sein rundes, hübsches Gesicht war bleich; eine nervöse Schwäche – eine in kurzen Abständen wiederkehrende zuckende Bewegung des Kopfes – wirkte sehr störend. Außerdem war er sehr zerstreut und vergeßlich und kokettierte etwas damit: Oft sagte er mir schon morgens vor acht Uhr telephonisch alles, woran ich ihn im Laufe des Tages erinnern sollte. Da ich damals noch ein vorzügliches Gedächtnis hatte, konnte er dann beruhigt sein. Von dem gesteigerten Selbstbewußtsein und der lauten, rücksichtslosen Art, die später im öffentlichen


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