Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein
Читать онлайн книгу.und des Sternschen Seminars war Georg Moskiewicz (von seinen Freunden »Mos« genannt), damals schon Dr. med. et phil., etwa 33J. alt, als ich anfing zu studieren. Die nähere persönliche Bekanntschaft zwischen uns vermittelte Rose Guttmann. Mos war der Sohn eines wohlhabenden, jüdischen Kaufmanns. Mit Rücksicht auf seinen Vater hatte er das »praktische« Medizinstudium gewählt, später erhielt er aber die Erlaubnis, zur Philosophie und Psychologie überzugehen. Er war Schüler von Ebbinghaus und sollte sich bei ihm habilitieren; aber sein Lehrer starb, ehe es dazu kam. Nun arbeitete er weiter an seiner psychologischen Habilitationsschrift, ohne zu wissen, wer sie ihm abnehmen würde. Er hatte – wie viele Ostjuden – rötliche Haare und helle Augen. Seinem blassen, nervösen Gesicht und dem etwas scheuen und unruhigen Blick merkte man an, daß ihn etwas innerlich quälte. Welche Tragik sein Leben verbarg, das fand ich aber erst später heraus. Damals schmeichelte es mir sehr, daß auch dieser vielseitig gebildete Mann danach verlangte, mit mir zusammenzuarbeiten. Er bat mich zunächst darum, ihm als Versuchsperson für seine Arbeit zu dienen. Es handelte sich um »Ausfrageexperimente« nach der damals vieldiskutierten »Würzburger Methode« (Külpe, Bühler, Messer etc.). Wir trafen uns regelmäßig im psychologischen Seminar; aber wir verbrachten mehr Zeit mit Diskussionen über die Methode als mit wirklichen Versuchen. Ich merkte allmählich, daß von der Arbeit noch kaum etwas vorhanden war außer einer Sammlung von Versuchsprotokollen und daß seine eigenen Zweifel an der Tauglichkeit der Methode ihn lähmten und ihm die Weiterarbeit schließlich unmöglich machten. Dabei bedrückte es ihn schwer, daß seine Familie auf die Habilitation wartete und an seine akademische Laufbahn glaubte; daß sein alter Vater im Vertrauen darauf immer noch für ihn sorgte zu einer Zeit, in der andere längst in Amt und Würden sind und eine eigene Familie haben.
Die Pädagogische Gruppe war nicht die einzige akademische Vereinigung, der ich angehörte. In den ersten Semestern war unser ganzes Kleeblatt im Studentinnenverein. Der Charakter der wöchentlichen Vereinsabende war ein überwiegend geselliger. Wir hatten eine kleine Wohnung in der Nähe der Universität, die wir auch tagsüber benutzen konnten. Wenn wir abends zusammenwaren, kam kurz nach Beginn ein Laufbursche aus einer nahen Konditorei, nahm unsere Bestellungen entgegen und brachte uns das Gewünschte. Dann saßen wir bei Kaffee, Chokolade oder Tee und Torte in kleinen Gruppen und plauderten ungezwungen, berieten uns über unsere Fachangelegenheiten oder sprachen auch alle zusammen über eine allgemein interessierende Frage. Die Vorbereitungen auf ein großes Kostümfest, das der Verein am Ende meines zweiten Semesters gab, führten zu einem sehr kindlichen Konflikt zwischen unserm ganzen Kreis und der Vorsitzenden. Da wir alle unsere Lehrer und Studiengefährten eingeladen hatten, mußten wir das Fest noch mitmachen. Hinterher aber erklärten wir geschlossen unsern Austritt. Die Freude an dem fröhlichen Abend ließen wir uns übrigens durch den vorausgehenden und nachfolgenden Verdruß nicht stören. Eine ebenso anmutige wie geistvolle Studentin – Ernas Klassengefährtin Else Heß – hatte die Einladung in munteren Versen verfaßt und hielt auch eine »Herrenrede« in Versen. Aufführungen und Tanz wechselten miteinander ab bis zum Morgen. Herr Dr. Popp war in altdeutschem Kostüm erschienen. Er holte meine Schwestern und mich unermüdlich zum Tanz. Gegen sechs Uhr früh begleitete er uns nach Hause. Meine Schwestern gingen voraus, wir folgten in lebhafter philosophischer Diskussion. Der Hauptreiz war natürlich, unsere Professoren in Kostümen zu sehen und mit ihnen zu tanzen. Es war zur Zeit des Konfliktes zwischen Türkei und Italien: Stern kam als Türke, seine Frau als Italienerin. Kühnemann trug ein griechisches Gewand und einen Kranz auf dem Haupt. Er stellte sich als »Speusippos« vor. »Er sagt Speusippos«, bemerkte ich boshaft, »aber er meint Plato.« Ich war als Holländerin gekleidet und mußte mir wiederholt anhören, daß mir das sehr gut stünde. Else Heß versicherte mir mit der sachkundigen Miene der erfahrenen Balldame, daß ich »sehr gut gefiele«. Das war mir sehr unsympathisch. Ich tanzte auch jetzt noch sehr gern. Aber ich mochte es lieber, wenn wir es zu Hause zwanglos improvisierten, als diese offiziellen Veranstaltungen. Erna und ich haben wenig Bälle besucht, und wenn wir nach so einem Abend heimkamen, sagten wir beim Zubettgehen zueinander: »Gott sei Dank, daß dies nicht unser Lebensinhalt ist.«
Wenn ich nicht irre, war es eine klassische Philologin aus dem Studentinnenverein, die mich in den »Akademischen Zweigverein des HumboldtVereins für Volksbildung« einführte. Die Studenten, die diesem Verein angehörten, stellten sich zur Leitung von Arbeiterunterrichtskursen zur Verfügung. Diese Kurse waren von den späteren Volkshochschulen wesentlich unterschieden. Sie umfaßten nur Elementarfächer, wie Deutsch und Rechnen; die Leute, die hinkamen, wollten zu praktischen Zwecken – z.B. für den Übergang vom niederen zum mittleren Postdienst – ihre Schulkenntnisse wieder auffrischen. Im ersten Semester gab ich mit einem etwas älteren Studenten zusammen einen Rechtschreibungskursus (jede Woche einen Abend), im zweiten hatte ich ihn allein. Für den Winter 1912 kündigte ein älterer Student einen Anfängerkursus in Englisch an. Das ging über den bisherigen Rahmen hinaus und war ein erster Versuch. Es meldeten sich soviel Teilnehmer, daß drei Parallelkurse vorgesehen wurden; der ursprüngliche Leiter bat mich, einen davon zu übernehmen. Die Bekanntschaft dieses Herrn – er hieß Artur Wilhelm Wolf – hatte ich auf etwas eigenartige Weise gemacht. Er sprach mich eines Tages nach einer Vorlesung an und stellte mich zur Rede, weil ich auf der Straße seinen Gruß nicht erwidert hätte. Ich antwortete wahrheitsgetreu, ich hätte seinen Gruß nicht bemerkt, könnte mich auch gar nicht erinnern, ihn überhaupt schon gesehen zu haben. (Ich hatte ein ausgezeichnetes Personengedächtnis und erkannte jeden Menschen, den ich einmal richtig erfaßt hatte, noch nach Jahren wieder. Ich hatte auch noch nie etwas von »Abtötung der Augen« gehört und sah mir die Leute, die mich interessierten, scharf und gründlich an. Aber die Masse der Studenten betrachtete ich als quantité négligeable. Ich ging durch die Hörsäle, ohne auf sie zu achten, und wählte möglichst einen Platz in der ersten Reihe, um ungestört der Vorlesung folgen zu können. Dabei kam mir gar nicht der Gedanke, daß ich vom Katheder aus beobachtet werden könnte. Ich glaubte, die Professoren seien so von ihrem Thema in Anspruch genommen, daß sie sonst nichts bemerken könnten. Erst später, im freundschaftlichen Verkehr mit Dozenten und schließlich aus eigener Erfahrung, lernte ich, wie ein Hörsaal vom Dozentenstandpunkt aussieht.) Ganz übersehen zu werden – das war für einen selbstbewußten jungen Mann natürlich noch kränkender als »geschnitten« zu werden. Er machte mich darauf aufmerksam, daß er mir in einer Sitzung des Akademischen Humboldtvereins vorgestellt worden sei, also ein Recht habe, mich zu grüßen. Nun erklärte ich mein Bedauern, gab mir auf der Straße Mühe, etwas besser aufzupassen, und dankte höflich, wenn ich ihn wieder traf. Auch jetzt sagte ich freundlich zu, als er mir seine Bitte aussprach.
Noch vor Beginn der Unterrichtskurse machte mich der damalige Vorsitzende des Akademischen Zweigvereins, Eduard Metis, darauf aufmerksam, daß Herr Wolf und sein Freund, der den dritten Parallelkursus übernehmen wollte, moralisch nicht einwandfrei seien und die Kurse benützten, um mit den weiblichen Teilnehmern Beziehungen anzuknüpfen. Ich war ganz außer mir über diesen empörenden Mißbrauch einer sozialen Einrichtung. Nach einigem Überlegen kam mir ein glücklicher Gedanke: Ich bat Herrn Wolf, mir die »Damen« zu überlassen, die sich gemeldet hätten, und sich mit Herrn Fellmann in die »Herren« zu teilen. Der Vorschlag war so natürlich, daß ich gar keinen Grund anzugeben brauchte, und er kam für den gefährlichen Don Juan so überraschend, daß er zunächst Ja sagte. Als wir aber an dem Eröffnungsabend in der Realschule am Nikolaistadtgraben zusammentrafen (dort wurden die Kurse gegeben), teilte er mir wenige Minuten vor Beginn mit, sie hätten es sich überlegt und wollten doch lieber gemischte Kurse bilden. Ich erschrak sehr, hatte aber Geistesgegenwart genug, um zu sagen, wir müßten doch wenigstens den Vorschlag machen und die Leute selbst entscheiden lassen. Das war wieder so einleuchtend, daß er nichts dagegen einzuwenden fand. Wir begaben uns nun zu dritt in den großen Raum, in dem die ganze Schar der Lernbegierigen auf die Eröffnung wartete. Herr Wolf begrüßte sie, erklärte die Notwendigkeit zu teilen, stellte Herrn Fellmann und mich vor und fragte, ob die Damen einen eigenen Kursus wünschten, dann sollten sie sich mir anschließen. Mit Ausnahme eines einzigen Mädchens hoben alle den Finger, und ich zog, froh wie nach einer gewonnenen Schlacht, mit meiner Herde ab. Ich trauerte zwar um das verlorene Schäflein und hätte es gern zu mir geholt; aber ich konnte es ja nicht zwingen. Bald darauf erfuhr ich, daß dieses Mädchen schon seit mehreren Semestern die Kurse des Herrn Wolf besuche. Die andern folgten mir in den für uns bestimmten Klassenraum. Sie sprachen mir in lebhaften Worten ihre Freude und Dankbarkeit aus, daß ich