Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein

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Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften - Edith  Stein


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Breslau gelangte, fand er seine Braut und seine Mutter als Mitglieder der »Deutschen Demokratischen Partei«, und bei den Wahlen blieb ihm auch nichts anderes übrig, als sich dafür zu entscheiden, denn weiter rechts konnte er als Jude auf keine Sympathie rechnen.

      Lagen so über dem Wiedersehen schwere Schatten – das Glück des Vereintseins nach der jahrelangen Trennung brach doch siegreich durch. Eines Tages erschien Hans in feierlichem Schwarz bei meiner Mutter, um nun endlich in aller Form um Ernas Hand anzuhalten. In »meinem« Saal wurde die Verlobung von beiden Familien mit herzlicher Freude gefeiert. Bald darauf gab es allerdings eine neue Trennung. Hans mußte ja nun erst mit seiner spezialärztlichen Ausbildung beginnen. Er wollte wie sein Bruder Fritz Dermatologe werden und ging jetzt zunächst für ein Jahr zu dem Bakteriologen Professor Morgenroth nach Berlin. Berlin in der Nachkriegszeit mit seinen bolschewistischen Unruhen, den Streiks, den Drahtverhauen und Barrikaden in den Straßen – eine schlimmere Umgebung hätte es für ihn kaum geben können. Er vergrub sich ganz in seine Arbeit; er, der die Geselligkeit so liebte, hatte gar keine Lust auszugehen. Natürlich hatte er Heimweh und war meist in sehr trüber Stimmung.

      Während dieses Jahres 1919 hatte ich zweimal einige Tage in Berlin zu tun. In diesen Tagen lebte er auf. Er holte mich schon früh, ehe er in seinen Dienst ging, am Bahnhof ab und brachte mich zu meinen Verwandten: Seit Onkel David Courant in Berlin wohnte, hatte ich dort mein Absteigequartier, und in diesem gastlichen Haus war auch Hans stets willkommen. Soviel es seine und meine Zeit erlaubte, waren wir zusammen; er ging auch mit mir ins Theater, was er sonst kaum tat. Er war sehr dankbar für diese Besuche; aber sie verstärkten noch seinen stillen Ärger darüber, daß Erna das ganze Jahr hindurch nicht nach Berlin kam. Er sah darin ein Zeichen von Gleichgültigkeit und trug es ihr noch nach, als sie schon längst verheiratet waren. Sicherlich sehnte sich Erna nicht weniger nach einem Zusammensein als er, aber sie hatte ihre junge Praxis zu versehen und die Familie hätte sich dem Plan einer Fahrt nach Berlin »ohne besondere Veranlassung« sicher widersetzt; bei ihrer leichten Beeinflußbarkeit genügte das für sie, um auf ihren stillen Wunsch zu verzichten. Hans spürte diesen Einfluß der Familie genau, und das wurde der Anfang einer feindseligen Einstellung, die sich immer mehr steigerte.

      Für den 1.Februar hatte Erna in den Zeitungen den Beginn ihrer Praxis bekanntgegeben. Am Haus und am Gitter unseres Vorgärtchens war ein Schild angebracht und daneben eine Nachtglocke; die Leitung führte in unser Schlafzimmer. In der Nacht vom 31.Januar zum 1.Februar wurde ich zum erstenmal durch die Nachtglocke geweckt. Ich mußte Erna erst rufen. Sie fuhr schlaftrunken in die Höhe. »Du mußt jetzt ans Fenster gehen«, sagte ich. Sie kam erst allmählich zur Besinnung. Richtig – es stand ein Mann unten, um sie zu seiner Frau zu holen: in ein Proletarierhaus in einer sehr finsteren Gegend. Nach einigen Stunden kam sie nach einem erfolgreichen Eingriff zurück. Die Praxis richtete sich erstaunlich schnell ein. Die ganze Familie nahm lebhaften Anteil daran und wollte am liebsten über jeden Fall genauen Bericht haben, so daß Erna manchmal kopfschüttelnd abwehrte, da es ja bekanntlich eine Schweigepflicht gäbe. Im Winter erkrankte eine ältere Cousine an einem schweren Unterleibsleiden. Sie wurde von einem »berühmten« Frauenarzt operiert (meine Mutter und Hans nahmen das sehr übel), Erna wurde nur gebeten, der Operation beizuwohnen, und als der Zustand der Kranken sich nachher verschlimmerte und hoffnungslos wurde, verlangte sie häufig nach ihr. Einmal wurde Erna noch spät am Abend in die Klinik gerufen; zum Rückweg in der kalten Winternacht konnte sie kein anderes Gefährt finden als einen offenen Schlitten. Die Folge war ein schwerer Bronchialkatarrh, der lange nicht weichen wollte. Zusammen mit den Anstrengungen eines Arbeitsjahres, in dem sie sich keine Erholung gegönnt hatte, und den Aufregungen dieser Tage ergab das eine große Erschöpfung: Sie sah elend aus und magerte ab. Im November starb unsere Cousine, im Januar 1920 kam Hans nach Breslau zurück, um dauernd daheimzubleiben. Er begann nun seine Tätigkeit an der Universitätshautklinik: erst als Volontär, später als etatmäßiger Assistent; schließlich rückte er zum Oberarzt auf. Er hatte sich herzlich auf diese Heimkehr gefreut; nun fand er seine Mutter und seine Braut leidend vor. Dieses Mißgeschick empfand er wie eine persönliche Kränkung; er empörte sich darüber wie ein verwöhntes Kind. Er verlangte, daß Erna jeden Tag Temperatur messen müsse; tatsächlich zeigte sich abends meist eine leichte Steigerung. Nun war für ihn kein Zweifel mehr, daß die Lunge angegriffen sei. Meine Mutter war außer sich. Sie kannte kein ärgeres Schreckgespenst als die »Schwindsucht«, und es schien ihr ausgeschlossen, daß in unserer gesunden Familie so etwas vorkommen könnte. Das tägliche Messen erschien ihr als die Wurzel des Übels; sie glaubte, daß Hans durch seine schwarzen Befürchtungen nur alle quälen wolle. Das war nun wohl nicht ganz richtig, aber der Ärger über die Familie spielte doch neben seiner Besorgnis eine große Rolle: Zu ihm hätte sie nicht kommen dürfen, aber um der Verwandten willen, denen sie als behandelnder Arzt nicht gut genug war, hätte sie ihre Gesundheit aufs Spiel setzen müssen. Schließlich schickten wir sie mitten im Winter für einige Wochen ins Riesengebirge. Dort erholte sie sich schnell und konnte ihre Praxis bald wieder aufnehmen.

      Als Erna abgereist war, nahm ich mir meinen Schwager vor und bat ihn um das Versprechen, Erna während ihrer Erholungszeit Ruhe zu lassen und sie mit keinerlei Klagen oder Vorwürfen zu quälen. Wenn er oder seine Mutter sich durch irgendjemanden aus der Familie beleidigt fühlten – ein Fall, mit dem man erfahrungsgemäß in kurzen Abständen immer wieder rechnen mußte –, dann sollte er es mir sagen; ich wollte mir die größte Mühe geben, Abhilfe zu schaffen. Nach einigem Zögern ging er darauf ein.

      2.

      Ich wohnte damals nicht zu Hause. Als unsere Cousine Selma Schlesinger starb, war ich in Hamburg, kam aber bald darauf nach Breslau zurück. Ihre Mutter – Tante Bianca, die älteste Schwester meiner Mutter – hatte die letzten Jahre mit ihr allein gelebt. Die älteste Tochter war in Budapest verheiratet, die zweite leitete ein Kinderheim in Berlin. Der einzige Sohn, der Stolz der ganzen Familie, hatte eine große ärztliche Praxis in Berlin. Tante Bianca war damals 75 Jahre alt, sie hatte ein unheilbares Augenleiden und war auch sonst kränklich. Trotzdem besorgte sie ihren kleinen Haushalt noch allein mit einem ganz jungen Dienstmädchen. Die Pflege ihrer jüngsten Tochter, die bis zu ihrer Erkrankung einen Vertrauensposten als Büroangestellte bekleidete, war ihre Hauptbeschäftigung. Natürlich hatte sie der Verlust dieses geliebten Kindes sehr hart getroffen, und man konnte sie jetzt nicht alleinlassen. Der Familienrat beschloß, daß eine ihrer Nichten bei ihr schlafen müsse. Erst war es Grete Pick, dann Martha Burchard. Aber beide waren tagsüber außerhalb des Hauses beruflich tätig und empfanden es als große Last, wenn sie sich abends nicht in ihr gewohntes Heim zurückziehen konnten. Beim ersten Besuch nach meiner Rückkehr durchschaute ich diese Situation und sagte zu meiner Mutter, als wir aus dem Hause heraustraten, ich würde recht gern zu der Tante übersiedeln, da die andern doch offenbar nur gezwungen bei ihr blieben. Meine Mutter war sehr erfreut über diesen Vorschlag, und auch allen andern Beteiligten war er willkommen.

      Am Neujahrstag 1920 übernahm ich mein neues Amt. Die Tante begrüßte mich überrascht und gerührt. »Bist du wirklich zu mir gekommen? Ich habe es gar nicht glauben können.« Tatsächlich war ich in diesem Hause fremder als bei den andern Verwandten. Aus einem sehr eigenartigen Grunde hatte der Verkehr zwischen den beiden Familien Jahre hindurch geruht. Unsere älteste Cousine Jenny war in ihrer Jugend mit unserm Schwager Max Gordon verlobt. Er hatte die Verbindung gelöst, weil man ihn drängte zu heiraten, noch ehe er imstande war, eine Frau zu ernähren. Als er sich viele Jahre später mit meiner Schwester Else verlobte, wurde das von der ganzen Familie Schlesinger als eine schwere Kränkung empfunden, und sie betraten unser Haus nicht mehr, obgleich meine Mutter doch an dieser Verlobung gänzlich unschuldig war. Man muß der Tante ihren Schmerz darüber zugutehalten, daß ihre drei schon reichlich bejahrten Töchter noch unverheiratet waren. Als es endlich doch noch glückte, für ihre Älteste einen Mann zu finden – einen Witwer mit drei Töchtern –, söhnte sie sich sofort mit meiner Mutter aus.

      Häusliche Pflichten brauchte ich nicht zu übernehmen. Im Gegenteil, es kam darauf an, daß die Tante wieder jemanden zu betreuen hatte. Sie hatte ihr Nähtischchen auf einem erhöhten Platz am Fenster, so daß sie die Straße gut übersehen konnte. Das mußte nun mein Arbeitsplätzchen werden. Wenn ich dort schrieb und sie nicht gerade in der Küche beschäftigt war, saß sie ganz still mit ihrem Strickstrumpf am andern Fenster und sah mir ehrfürchtig


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