Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein

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Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften - Edith  Stein


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      3.

      Wenn Hans in jenen Wochen etwas auf dem Herzen hatte, holte er mich hier ab und ich begleitete ihn zur Klinik. Manchmal verabredeten wir uns auch in der Klinik und machten dann gemeinsam einen Besuch in der Michaelisstr.38. Ich lernte nun aus eigener Erfahrung die Diskussionen kennen, in die Erna beständig verwickelt wurde; sie griffen mich nur viel weniger an als sie. Ich will einen Fall anführen, der mir noch in Erinnerung geblieben ist. Hans und seine Mutter wollten einen Abend bei uns zubringen. Frau Biberstein kam von ihrer Wohnung aus, Hans aus der Klinik. Er kam meist lange nach unserer gewöhnlichen Abendessenszeit. Da meine Mutter, wenn sie aus dem Geschäft kam, Verlangen nach heißem Tee hatte und überhaupt nicht gern spät aß, warteten wir nicht auf ihn. Er bekam später allein serviert. An jenem Abend hatte Rosa für ihn statt unseres einfachen Abendmahls ein Beefsteak vorbereitet, da sie fand, daß er nach der langen Dienstzeit etwas Kräftiges brauchen könnte. Es war ihr aber nicht eingefallen, auch für seine Mutter eins aufzutragen. Ich weiß nicht, ob sie schon zu Hause ihr Abendessen genommen hatte oder an dem unsern teilnahm. Jedenfalls wurde ihr Tee, süßes Gebäck und Obst vorgesetzt, wie wir alle es noch am späteren Abend zu nehmen pflegten, wenn Gäste da waren. Aber das nicht vorhandene Beefsteak wurde als Zeichen der Nichtachtung und Gleichgültigkeit schwer übelgenommen. Ich blieb ganz ernsthaft, während ich diese schwere Anklage anhörte. Ich versicherte natürlich mit aller Entschiedenheit, daß Rosa jede kränkende Absicht ferngelegen habe, aber ich wollte dafür sorgen, daß sie sich entschuldigte. Tatsächlich besprach ich die Angelegenheit mit ihr unter vier Augen, redete ihr gut zu, zur Wiederherstellung des Friedens dieses Opfer zu bringen, da man die Menschen nun einmal nehmen müsse, wie sie seien, und bewog sie, brieflich um Verzeihung für die unbeabsichtigte Kränkung zu bitten. Das genügte, um Mutter Biberstein zu versöhnen, und es herrschte nun wieder Ruhe bis zur nächsten Gelegenheit.

      Diese Aussprachen zwischen Hans und mir dienten nur zur Befestigung der alten Freundschaft. Ich erinnere mich, daß er einmal in einer solchen Unterredung in sehr herzlichem Ton sagte: »Du weißt doch, daß ich nächst Erna zu dir das größte Vertrauen habe – ein fast unbegrenztes.« Wir gerieten nie aneinander, wie es in unserer Studentenzeit manchmal geschehen war. Das lag daran, daß sich meine Einstellung zu den Menschen und zu mir selbst völlig geändert hatte. Es kam mir nicht mehr darauf an, Recht zu behalten und den Gegner unter allen Umständen »unterzukriegen«. Und wenn ich noch immer einen scharfen Blick für die Schwächen der Menschen hatte, so benützte ich das nicht mehr, um sie an ihrer empfindlichen Stelle zu treffen, sondern um sie zu schonen. Auch die erzieherische Einstellung, die ich wohl immer noch hatte, hinderte mich daran nicht. Ich hatte es gelernt, daß man Menschen nur sehr selten bessert, indem man ihnen »die Wahrheit sagt«: Das kann nur dann helfen, wenn sie selbst das ernste Verlangen haben, besserzuwerden und wenn sie einem das Recht zur Kritik einräumen. So war es auch in jenen Gesprächen mit meinem Schwager für mich das Wichtigste, daß ich ihn und seine Mutter in ihrer uns so fremden Wesensart besser kennenlernte. Ich habe Erna dadurch später oft beistehen können.

      Im Laufe des Jahres 1920 wurde die Hochzeit vorbereitet. Die Wäscheaussteuer wurde für beide im Guten-Hirten-Kloster genäht. Die Möbel ließ meine Mutter aus gutem Holz, das sie für diesen Zweck zurückgelegt hatte, von einigen ihrer Kunden arbeiten. Hans wollte alles möglichst elegant und modern und war nicht leicht zufriedenzustellen. Das Schwerste war, eine passende Wohnung zu finden. Es war die Zeit der größten Wohnungsnot. Während der Kriegsjahre hatte in ganz Deutschland die Bautätigkeit stillgestanden. Dazu kam, daß sich in Breslau die Flüchtlinge aus Posen und Oberschlesien zusammendrängten. Man konnte nur auf Karten durch Vermittlung des Wohnungsamtes eine Unterkunft bekommen. Erna und Hans hatten Nr.23000 (es war etwas darüber, ich weiß die genaue Zahl nicht mehr). Es war klar, daß sie darauf nicht warten konnten. Es blieb nichts übrig, als den Giebel unseres Hauses für sie herzurichten. Dazu mußte erst eine sehr unangenehme Haushälterin, die nicht in Güte zum Ausziehen zu bewegen war, durch ein langes Gerichtsverfahren ausquartiert werden.

      Während dieses ganzen Jahres war ich in Breslau. Es brannte mir zwar dort der Boden unter den Füßen. Ich befand mich in einer inneren Krisis, die meinen Angehörigen verborgen war und die in unserem Hause nicht gelöst werden konnte. Doch ich hätte nicht fortgehen mögen, ehe Ernas Los entschieden war. Ihre Brautzeit war eine lang ausgedehnte Qual. Wenn sie morgens aus unserm Giebelzimmer herunterkam, saß ich gewöhnlich schon an meinem Schreibtisch bei der Arbeit. Dann kam sie regelmäßig herein, um mir zu berichten, was sich am Abend vorher zugetragen hatte. Die Verlobten waren ja täglich entweder bei uns oder bei Bibersteins zusammen. Sehr oft fing sie mit den Worten an: »Ich weiß mir keinen Rat mehr, ich bin am Verzweifeln.« Dann ließ ich sie auf dem Stuhl neben meinem Schreibtisch – mir schrägüber – niedersitzen (meine Freundin Trude Kuznitzky nannte ihn immer den »Sprechstunden-Stuhl«) und alles erzählen und riet ihr, so gut ich konnte. Meine Richtschnur war immer: Nachgeben in allem, was kein Unrecht wäre. Nach der Aussprache ging sie erleichtert hinunter: zum Frühstück und in ihre Sprechstunde. Es handelte sich meist um ähnliche Fälle wie der, den ich vorhin als Beispiel erzählte. Aber es stand doch etwas Ernsteres dahinter. Als Hans sich entgegen seinen jugendlichen Zukunftsplänen zur Heirat entschloß, hielt er daran fest, daß er sich von seiner Mutter nicht trennen wolle, und Erna willigte darein, daß sie zu ihnen ziehen solle. Aber die ganze Familie riet ihr davon ab, mit der Schwiegermutter gemeinsamen Haushalt zu führen, und sie selbst fürchtete sich davor.

      Auch Hansens Verwandte, die seine schöne und liebenswürdige Braut bald ins Herz geschlossen hatten, redeten heimlich auf meine Mutter ein, sie solle so etwas nicht zugeben, Erna würde zuviel zu leiden haben. Oft genug sagte meine Mutter in Gegenwart von Frau Biberstein, sie selbst hätte sich immer vorgenommen, niemals zu einem Kinde ins Haus zu ziehen. Praktisch löste sich die Frage dadurch, daß sich keine passende Wohnung fand. In unserem Giebel konnte die Mutter unmöglich mit untergebracht werden. Außerdem sollte sie ihre Wohnung im Süden behalten, um sie für Hans zu sichern, wenn er sich einmal niederlassen wollte. So brauchte das gefährliche Thema zwischen den Beteiligten gar nicht ausdrücklich verhandelt zu werden. Aber Mutter Biberstein und Hans spürten doch deutlich, wie froh meine Angehörigen über die ihnen so schmerzliche Lösung waren, und daß selbst Erna aufatmete. Und daraus ergab sich jene Feindseligkeit besonders gegen meine Mutter, von der ich früher sprach. Die beiden wurden ganz blind gegen ihre großen menschlichen Vorzüge und behandelten sie mit so wenig Achtung, wie es ihr sonst kaum je begegnete. Daß sie sich dadurch gekränkt fühlte und dem Schwiegersohn nicht herzlich entgegenkommen konnte, ist begreiflich. Noch mehr als das, was ihr selbst widerfuhr, ging meiner Mutter das zu Herzen, was ihr Kind zu leiden hatte und vermutlich ihr ganzes Leben hindurch leiden müßte. Diese Sorge wurde manchmal so groß, daß sie eine Lösung der Verlobung ins Auge faßte, obgleich sie doch als echte jüdische Mutter nichts sehnlicher wünschte, als ihre Töchter gut verheiratet zu sehen. Wenn Erna »am Verzweifeln« war, dann tauchte auch bei ihr mitunter dieser Gedanke auf. Aber ich ließ ihn nicht aufkommen. Ich war fest davon überzeugt, daß die beiden füreinander bestimmt seien und daß besonders Ernas Leben zerstört wäre, wenn die Ehe nicht zustandekäme. Ich hoffte auch, daß vieles besser würde, sobald sie erst einmal verheiratet wären, weil viele Mißverständnisse durch das Zusammenwachsen im gemeinsamen Leben von selbst verschwinden würden.

      Anfang Dezember 5.12.1920 wurde die Hochzeit gefeiert. Es waren zwei Tage dafür nötig, weil selbst unsere großen Räume für die Zahl der Gäste nicht ausreichten. Am Tage der standesamtlichen Trauung kamen abends unsere Vettern und Cousinen sowie die nächsten Freundinnen, Lilli und Rose mit ihren Verlobten. Zur kirchlichen Trauung mit dem anschließenden Hochzeitsmahl waren nur die Geschwister des Brautpaares mit ihren Kindern und die Geschwister der Eltern geladen (d.h. zur Trauung kamen alle Verwandten und Bekannten, aber die ungeladenen Gäste zogen sich sofort danach zurück). Bei unserer ausgedehnten Familie ergab dieser »engste Kreis« noch eine Tafel von über 50 Personen.

      Mir ging es damals gesundheitlich recht schlecht, wohl infolge der seelischen Kämpfe, die ich ganz verborgen und ohne jede menschliche Hilfe durchmachte. Am Morgen der standesamtlichen Trauung, während die letzten schweren Möbelstücke die Treppen hinaufgetragen wurden, lag ich mit heftigen Schmerzen in einem unserer Schlafzimmer auf der Chaiselongue und zuckte bei jedem Geräusch zusammen. Als Erna einmal hereinkam,


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