Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein

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Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften - Edith  Stein


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Kern seiner Philosophie zu sehen und alle Energie auf seine Begründung zu verwenden: ein Weg, auf dem ihm seine alten Göttinger Schüler zu seinem und ihrem Schmerz nicht folgen konnten.

      Husserl hatte ein eigenes Haus am Hohen Weg, auch am Rand der Stadt, am Aufgang zum »Rohns« gelegen. (Der Rohns spielte eine große Rolle in seinen philosophischen Gesprächen; er mußte sehr häufig als Beispiel dienen, wenn Husserl von Dingwahrnehmung redete.) Es war nach den Anweisungen seiner Frau den Bedürfnissen der Familie entsprechend gebaut. Das Arbeitszimmer des Meisters lag im Oberstock; es hatte einen kleinen Balkon, auf den er hinausging, um zu »meditieren«. Das wichtigste Möbelstück war ein altes Ledersofa. Das hatte er als Privatdozent in Halle erstanden, als er einmal ein Stipendium bekam. Ich mußte gewöhnlich in einer Sofaecke sitzen. Noch später in Freiburg haben wir unsere Diskussionen über den Idealismus oft von einer Sofaecke zur andern geführt. Bei seinen Schülern hieß er, wenn sie unter sich waren, nur »der Meister«. Er wußte darum und mochte es gar nicht leiden. Seine Frau nannten wir unter uns mit ihrem poetischen Vornamen »Malvine«. Sie war klein und mager; ihre glänzend schwarzen Haare trug sie glatt gescheitelt, ihre braunen Augen blickten lebhaft und neugierig und immer etwas erstaunt in die Welt. Ihre Stimme klang etwas scharf und hart und immer so, als ob sie einem zu Leibe rücken wollte; es war aber eine Beimischung von gutmütigem Humor darin, die mildernd wirkte. Man war in ihrer Anwesenheit immer etwas besorgt, was es wohl geben würde; denn sie sagte meist etwas, was einen in Verlegenheit brachte. Leute, die sie nicht leiden mochte, wurden sehr schlecht behandelt. Aber sie hatte auch sehr ausgesprochene Sympathien. Ich persönlich habe von ihr immer nur große Freundlichkeit erfahren. Wodurch ich es verdient habe, weiß ich nicht. In späteren Jahren hätte man es darauf zurückführen können, daß ich ihrem Mann wertvolle Dienste leistete. Aber sie kam mir schon so entgegen, als ich noch eine ganz kleine und unbedeutende Studentin war. Wenn ich bei ihrem Mann war, trat sie meist mittendrin ein und sagte, sie wollte mich begrüßen. Die schönsten Gespräche wurden so plötzlich durchgeschnitten. Sie besuchte regelmäßig Husserls Vorlesungen und hat mir später gelegentlich gestanden (was wir aber alle längst wußten), daß sie die Hörer zu zählen pflegte. Ein inneres Verhältnis zur Philosophie hatte sie nicht. Sie betrachtete sie als das Unglück ihres Lebens, weil Husserl zwölf Jahre als Privatdozent in Halle leben mußte, ehe er einen Ruf bekam. Und dann war es kein reguläres Ordinariat, das er in Göttingen erhielt, sondern ein persönliches, das der tatkräftige und weitblickende, aber etwas selbstherrliche Kultusminister Althoff eigens für ihn schuf; und seine Stellung in der Fakultät war eine sehr peinliche. Diese Erfahrungen bestimmten Frau Malvine, ihre drei Kinder der Philosophie fernzuhalten. Elli, die Älteste, war in meinem Alter. Sie studierte Kunstgeschichte. Äußerlich glich sie ihrer Mutter sehr, aber sie hatte etwas viel Weicheres und Zarteres in ihrem Wesen. Gerhart wurde Jurist, ließ sich aber in späteren Jahren doch nicht vom Philosophieren abschneiden. Wolfgang war damals noch auf dem Gymnasium; er hatte eine außerordentliche Sprachbegabung und wollte Sprachen studieren. Der Jüngste war der Liebling der Mutter. Wenn sie später nach seinem frühen Tode – er fiel 17jährig als Kriegsfreiwilliger in Flandern – von ihm sprach, lernte man ihr Herz kennen. Sie sagte mir einmal, um Wolfgangs Zukunft habe sie sich nie Sorgen gemacht. Sie habe immer gewußt, wo und in welcher Stellung er auch sein werde, da werde er seine Umgebung glücklich machen.

      Beide Husserls waren von Geburt Juden, aber frühzeitig zum Protestantismus übergetreten. Die Kinder wurden protestantisch erzogen. Man erzählte sich – für die Wahrheit kann ich mich nicht verbürgen – Gerhart sei mit sechs Jahren zusammen mit Franz Hilbert, dem einzigen Kind des großen Mathematikers, zur Schule gekommen. Er fragte den kleinen Kameraden, was er sei (d.h. welcher Konfession). Franz wußte es nicht. »Wenn du es nicht weißt, dann bist du sicher ein Jude.« Der Schluß war nicht richtig, aber charakteristisch. Später pflegte Gerhart sehr offen von seiner jüdischen Abstammung zu sprechen.

      In jenem Sommer hielt Husserl seine Vorlesung über »Natur und Geist«, Untersuchungen zur Grundlegung der Natur- und Geisteswissenschaften. Diesen Gegenstand sollte auch der II.Teil der »Ideen« behandeln, der noch nicht veröffentlicht war. Der Meister hatte ihn mit dem I.Teil zusammen entworfen, die Ausarbeitung für den Druck aber verschoben, um erst die Neuauflage der »Logischen Untersuchungen« zu besorgen. Sie war dringend erforderlich, weil das Werk seit Jahren vergriffen war und beständig verlangt wurde.

      Bald nachdem Moskiewicz in Göttingen eingetroffen war, fand auch die erste Semestersitzung der »Philosophischen Gesellschaft« statt. Das war der engere Kreis der eigentlichen Husserlschüler, der jede Woche einmal abends zusammenkam, um bestimmte Fragen durchzusprechen. Rose und ich wußten gar nicht, wie kühn es von uns war, daß wir uns sofort bei diesen Auserwählten einfanden. Da Mos es für selbstverständlich fand, daß wir mitgingen, sahen auch wir es so an. Sonst konnte es semesterlang dauern, ehe man von dieser Einrichtung erfuhr, und wenn man eingeführt wurde, dann hörte man monatelang ehrfürchtig schweigend zu, ehe man es wagte, selbst den Mund aufzumachen. Ich aber sprach sofort keck mit. Da Moskiewicz bei weitem der Älteste war, übertrug man ihm für dieses Semester den Vorsitz. Aber es war wohl kaum jemand in diesem Kreis, der sich sachlich so unsicher fühlte wie er. Man sah ihm bei den Sitzungen an, wie unglücklich er in seiner Rolle war. Er präsidierte am Tisch, aber die Führung des Gesprächs entglitt ihm jedesmal sehr bald. Unser Versammlungsort war das Haus des Herrn von Heister. Das war ein junger Gutsbesitzer, der es sich zum Vergnügen machte, in Göttingen zu leben, philosophische Vorlesungen zu hören und mit den Philosophen persönlich zu verkehren. Es freute ihn, daß wir bei ihm zusammenkamen, und es störte ihn nicht, daß man seine Diskussionsbemerkungen meist als belanglos unter den Tisch fallen ließ. Seine zarte, blonde Frau war uns allen sehr viel lieber als er. Sie war eine Tochter des Düsseldorfer Malers Achenbach. Zahlreiche Gemälde ihres Vaters schmückten das Haus. Wenn wir kamen – oft genug bei echtem Göttinger Regenwetter mit nassen Mänteln und Schuhen –, half uns der Diener mit schweigsamer Höflichkeit beim Ablegen. Aber es war ihm wohl anzumerken, daß er heimlich über die merkwürdigen Gäste den Kopf schüttelte. Auch wenn er uns dann in dem feudalen Eßzimmer Tee oder Wein – je nach Wahl – einschenkte, mußte er manches Ungewöhnliche beobachten. Ich werde es nie vergessen, wie Hans Lipps während eines eifrigen Gesprächs die Asche seiner Zigarre in die silberne Zuckerdose abstreifte, bis unser Lachen ihn aufschreckte.

      Die Gründer der Philosophischen Gesellschaft waren damals alle nicht mehr anwesend. Reinach kam nicht mehr, seit er Dozent und verheiratet war. Conrad und Hedwig Martius lebten seit ihrer Verheiratung abwechselnd in München und Bergzabern (Pfalz). Dietrich von Hildebrand war nach München gegangen, Alexandre Koyré nach Paris. Johannes Hering wollte im nächsten Sommer Staatsexamen machen und hatte sich, um ungestörter arbeiten zu können, in seine Heimat Straßburg zurückgezogen. Es waren aber noch einige Leute da, die semesterlang mit diesen Koryphäen zusammengearbeitet hatten und jetzt die Tradition an uns Neulinge weitergeben konnten. Eine führende Rolle spielte Rudolf Clemens. Er war Sprachwissenschaftler. Sein dunkelblonder Bart und seine Krawatten, seine weiche Stimme und seine zugleich gemütvollen und schelmischen Augen erinnerten an die Zeit der Romantiker. Sein Ton war freundlich, aber es war eine Freundlichkeit, die mir kein unbedingtes Vertrauen einflößte. Fritz Frankfurther stammte aus Breslau und studierte Mathematik. Aus seinen braunen Augen schaute kindliche Offenheit, Treuherzigkeit und Güte. Die helle Freude am Philosophieren, die den meisten von uns eigen war, trat bei ihm besonders liebenswürdig hervor. Als er mir einmal etwas aus Husserls KantKolleg erzählte, das ich noch nicht gehört hatte, unterbrach er sich selbst plötzlich und sagte: »Nein, was jetzt kommt, ist zu schön, um es vorher zu verraten. Das müssen Sie selbst hören.« Am meisten Eindruck von allen machte mir Hans Lipps. Er war damals 23 Jahre alt, sah aber noch viel jünger aus. Er war sehr groß, schlank, aber kräftig, sein schönes, ausdrucksvolles Gesicht war frisch wie das eines Kindes, und ernst-fragend wie die eines Kindes blickten seine großen, runden Augen. Er sagte seine Ansicht gewöhnlich in einem kurzen, aber sehr bestimmten Satz. Bat man um nähere Erläuterung, dann erklärte er, mehr ließe sich nicht sagen, die Sache leuchte von selbst ein. Damit mußten wir uns zufrieden geben, und wir waren alle überzeugt von der Echtheit und Tiefe seiner Einsichten, auch wenn wir nicht imstande waren, sie mitzuvollziehen. Wenn er sich in Worten schwer ausdrücken konnte, so sprachen seine Augen und sein lebhaftes unwillkürliches Mienenspiel um so eindringlicher. Er konnte übrigens in jenem Sommer nicht regelmäßig an den Abenden


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