Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein

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Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften - Edith  Stein


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mit meinem Anliegen heraus, ob sie Rose die Mittel geben wollte, um ein Semester in Göttingen zu studieren. Sie war sofort dazu bereit. Als ich meiner Freundin das mitteilte, entschloß sie sich, mit mir zu gehen; nach Rücksprache mit ihren Angehörigen ergab es sich auch, daß sie es aus eigenen Mitteln konnte und die Güte meiner Mutter nicht in Anspruch zu nehmen brauchte. Unser Entschluß brachte auch bei Georg Moskiewicz den Plan zur Reife, noch einmal nach Göttingen zu gehen. Das war für uns sehr angenehm, weil er schon dort bekannt war und uns in den Kreis der Phänomenologen einführen konnte.

      Ich hatte nie daran gedacht, für länger als ein Semester fortzugehen. Wenn das Studium an einer kleinen Universität auch damals ein billiges Vergnügen war, so kostete es immerhin mehr als wenn man zu Hause war. Und die von Kindheit an gewöhnte Sparsamkeit ließ den Wunsch gar nicht aufkommen, eine solche Mehrausgabe für längere Zeit in Anspruch zu nehmen. Darum schien mir auch die Betrübnis meiner Mutter über die bevorstehende Trennung übertrieben. Im tiefsten Herzen hatte ich aber – wie sie wohl auch – eine geheime Ahnung, daß es ein schärfer einschneidender Abschied sei. Und wie um dieser kaum bewußten Ahnung entgegenzuarbeiten, tat ich etwas, was mich zur Rückkehr zwingen sollte: Ich ging zu Professor Stern, um mir ein Thema für eine psychologische Doktorarbeit zu erbitten. Ich zog ihn den andern Philosophen vor, weil ich nach meinen bisherigen Erfahrungen glaubte, daß er mir am meisten freie Hand lassen würde. Aber darin hatte ich mich getäuscht. Er hatte unsere Kritik an seinen Methoden im Seminar immer freundlich und ohne jede Empfindlichkeit aufgenommen. Aber er war so festgelegt auf seine Ideen, daß er durch nichts darin zu beirren war; und an den Arbeiten seiner Schüler wollte er doch auch eine Hilfe für die seinen haben. Das wurde mir aus unserer Unterredung ganz klar. Er empfing mich gütig wie immer, ging auch bereitwillig auf meinen Wunsch ein, obwohl ich ja noch reichlich jung war; aber was er mir vorschlug, das konnte nicht ernstlich für mich in Betracht kommen: Ich sollte – im Anschluß an das Referat, das ich in diesem Winter gehalten hatte – die Entwicklung des kindlichen Denkens bearbeiten, und zwar mit Ausfrageexperimenten, wie sie der unglückliche Mos zu seiner Qual seit Jahren betrieb.

      Da ich vorhatte, über Berlin und Hamburg nach Göttingen zu reisen, sollte ich von Berlin aus das »Institut für angewandte Psychologie« in KleinGlienike bei Potsdam besuchen und mir von Sterns Mitarbeiter Dr. Otto Lipmann das dort vorhandene Bildermaterial zeigen lassen, ob etwas für diese Arbeit Passendes darunter sei. Der Besuch in Klein-Glienike war das Einzige, was ich für meine psychologische Dissertation getan habe. Moskiewicz war mit Dr. Lipmann befreundet und meldete uns – sich selbst, Rose und mich – für einen Nachmittag dort an. Der Hausherr und seine reizende kleine Frau empfingen uns mit herzlicher Gastfreundschaft. Wir wurden zum Kaffee und Abendessen eingeladen, bekamen die netten Kinder vorgestellt und das ganze Häuschen gezeigt und machten einen schönen Spaziergang an den Havelsee, an dem der Ort liegt. Zwischendurch wurden wir auch einmal in die hellen Kellerräume geführt, in denen das »Institut« untergebracht war. Die Bildersammlungen, die in einem Schubkasten vorhanden waren, lockten mich wenig, und der kluge Dr. Lipmann bestätigte mir, daß damit nicht viel anzufangen sei. Ich nahm die Erinnerung an einen netten Nachmittag mit und die Überzeugung, daß aus der Arbeit nichts werden könne. Es war von vornherein verfehlt, an eine psychologische Arbeit zu denken. Mein ganzes Psychologiestudium hatte mich ja nur zu der Einsicht geführt, daß diese Wissenschaft noch in den Kinderschuhen stecke, daß es ihr noch an dem notwendigen Fundament geklärter Grundbegriffe fehle und daß sie selbst nicht imstande sei, sich diese Grundbegriffe zu erarbeiten. Und was ich von der Phänomenologie bisher kennen gelernt hatte, entzückte mich darum so sehr, weil sie ganz eigentlich in solcher Klärungsarbeit bestand und weil man sich hier das gedankliche Rüstzeug, das man brauchte, von Anfang an selbst schmiedete. Die Erinnerung an mein psychologisches Thema war anfangs in Göttingen noch ein leichter Druck, aber ich schüttelte ihn bald ab.

      VI. Aus dem Tagebuch zweier Mädchenherzen

       Inhaltsverzeichnis

      1.

      Ehe ich daran gehe, über diesen neuen und so entscheidenden Lebensabschnitt zu berichten, muß ich die Geschichte meiner Schwester Erna fortführen. In meinem ersten Semester, im Sommer 1911, machte sie ihr Physikum. Die vielen Prüflinge waren in Gruppen zu je vier eingeteilt. Erna und Hans Biberstein waren natürlich in einer Gruppe und bereiteten sich zusammen vor. Sie hatten Mühe, noch zwei Gefährten zu finden, weil man ihren Fleiß und ihre guten Kenntnisse fürchtete. Da die Prüfung öffentlich war, ließ ich es mir nicht nehmen, ihr beizuwohnen. In Physiologie konnte ich sogar auf Grund meines Psychologiekollegs schon etwas vorsagen; darauf war ich sehr stolz. Erna schnitt mit dem Gesamtergebnis 1 ab; aber Hans, der begabte, fleißige und so ehrgeizige Hans hatte einen »Schwanz« – er hatte in Zoologie versagt und mußte in diesem Fach einige Zeit später noch einmal geprüft werden. Das Physikum gilt selbst mit mehreren »Schwänzen« noch als bestanden – sie kommen häufig vor, und andere Leute tragen sie mit Humor. Hans aber kränkte sich bitter und konnte lange nicht darüber hinwegkommen; fast noch mehr ärgerte sich meine Mutter über die »Schande«. Die gute Erna hätte von Herzen gern mit ihm getauscht und konnte ihrer blanken Eins nicht froh werden. Zum Glück ging es beim Staatsexamen besser: Sie ernteten beide auf allen Stationen eine Eins. Bald darauf durften sie die mündliche Doktorprüfung machen, ehe noch ihre Arbeiten abgeschlossen waren. Sie hatten beide in der inneren Klinik unter der Leitung eines tüchtigen jungen Assistenten – Dr. Felix Rosenthal, der Sohn eines orthodoxen Rabbiners – serologische Untersuchungen gemacht, Erna an weißen Mäusen, Hans an Kaninchen; die Versuchsreihen waren abgeschlossen, das Zusammenschreiben der Ergebnisse durfte als unwesentlich bis nach der Prüfung verschoben werden.

      Im Frühsommer 1914 waren die Prüfungen beendet. Sie hatten große Anforderungen gestellt, und nun war eine Erholung wohlverdient. Das Pärchen hätte sehr gern nach der gemeinsamen Arbeit eine gemeinsame Reise gemacht. Aber die beiden so ganz allein in die Welt hinausfliegen zu lassen, das ging doch zu sehr gegen alles Herkommen. Unsere Mütter kamen uns und sich selbst ohnehin schon immer wie Hennen vor, die junge Entlein ausgebrütet haben und sie nun mit Schrecken davonschwimmen sahen. Diesmal gab es einen entschiedenen Einspruch. Da griff ich ein, teils aus treuer Schwesterliebe und Freundschaft, teils aus Freude daran, den »Leuten« ein Schnippchen zu schlagen. Ich schlug den beiden vor, mich in Göttingen zu besuchen, und das wurde vom Familienrat genehmigt. Ob der Gedanke ursprünglich von mir oder von Hans ausging, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls kamen die beiden eines Tages nach Göttingen. Erna konnte bei mir wohnen, Hans wurde von einem Breslauer Bekannten gastfreundlich aufgenommen. Dieser gute Erich Danziger und eine ältere Breslauer Freundin, die in diesem Sommer in Göttingen studierte – Toni Meyer – halfen mir treu, meinen Gästen den Aufenthalt angenehm zu machen. Es war ja noch mitten im Semester, ich hatte viel Arbeit und konnte mich nur verhältnismäßig wenig um sie kümmern. Aber ich hatte einen großen Plan für sie aufgestellt und sorgte dafür, daß sie die schönen Weser- und Leineberge, Kassel mit seiner herrlichen Bildergalerie, das entzückende alte Hannoverisch-Minden und Hildesheim kennenlernten. Hans mußte etwas früher abreisen. Mit Erna machten Danziger und ich noch zum Schluß eine mehrtägige Harzwanderung. Ich glaube fast, daß diese Tage für Erna die friedlichsten und schönsten waren. Auch in Göttingen waren die Stunden, in denen wir alle zusammenwaren, ungetrübt fröhlich. Auf den Ausflügen zu zweien aber gab es, wie ich später hörte, häufig Zusammenstöße, die die Freude an der schönen Natur und den alten Kulturstätten störten.

      Wenige Wochen nach diesem Besuch brach der Krieg aus. Hans meldete sich sofort zum Felddienst. Er wurde als Feldunterarzt eingestellt – alle, die damals gerade die Prüfung bestanden hatten, erhielten gleich die Approbation, nicht wie sonst erst nach einem Praktikantenjahr; er kam zunächst in einen Lazarettzug und auf diese Weise häufig besuchsweise nach Breslau oder doch so in die Nähe, daß seine Mutter und Erna ihn besuchen konnten. Erst viel später wurde er Truppenarzt im Feld, erhielt die Beförderung zum Feldarzt und schließlich zum Feldoberarzt. Damit hatte er Offiziersrang und fühlte sich auch durchaus als Offizier. Erna wurde kurz nach Kriegsausbruch vom Chef der Universitäts-Frauenklinik, dem alten Geheimrat Küttner, auf der Straße angehalten und gefragt, ob sie als


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