Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер

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Gesammelte Werke von Gottfried Keller - Готфрид Келлер


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genommen.

      Dies war einstweilen das Schlußergebnis, welches er aus jenen anthropologischen Vorlesungen davontrug, und indem er dasselbe sich ernsthaft vorsagte, merkte er erst, daß er bis jetzt vom Zufälligen sich habe treiben lassen, wie ein Blatt auf dem Bache; oder er dachte sogleich an seine aufgeschriebene Jugendgeschichte, die in seinem alten Koffer lag, und an alles seither Erlebte, und alles kam ihm nunmehr mit einem Blicke vor wie ein unbewußter Traum. Zugleich fühlte er aber, daß er von nun an sein Schifflein tapfer lenken und seines Glückes und des Guten Schmied sein müsse, und ein sonderbares, verantwortlichkeitsschwangeres Wesen kräuselte sich tief in seinem Gemüte, wie er es bis jetzt noch nie empfunden zu haben sich erinnerte.

       Inhaltsverzeichnis

      Aber der freie Wille des Menschen gleicht dem Keime, der im Samenkorne liegt und des feuchten und warmen Erdreiches bedarf, um sich entwickeln und wachsen zu können. Heinrich mußte sogleich erfahren, daß dieser Keim, dieser löbliche Vorsatz des freien Willens, auch beim besten Willen, noch über seine Meinung hinaus das bedingteste Wesen von der Welt ist und ohne die notwendige Nahrung, ohne einen gesättigten Grund von Erfahrung, Einsicht und bereits erfüllten Bestimmungen so ruhig schläft wie das Weizenkorn auf dem Speicher. Dieser Grund, dieser Humus aber ist für jede Anlage ein anderer, gleichwie die Distel nicht da gedeiht, wo das Korn wächst, die Fichte noch fortkommt, wo die Tanne verschwindet, und selbst auf dem gleichen Boden bildet der Lindenkeim ein rundes Blatt, die Eiche ein gezacktes.

      Heinrichs Lage erforderte, daß er sich nun mit allem Ernste in seinem erwählten Berufe an ein Ziel bringe, entweder seine eingetretene Mutlosigkeit und Täuschung in der Wahl, wenn dieselbe eine vorübergehende war, überwinde oder, wenn er sich darüber klar gemacht, mit raschem Entschlusse ein anderes Bestimmtes ergreife, ehe noch mehr Jahre ins Land gingen. Allein eben zu diesem Entschlusse noch zu irgendeinem hatte er durchaus keine Wahl, weil er sich zu dieser Zeit an Erfahrung und Umsicht tausendmal ärmer fühlte als früher, da er ein bescheidenes, aber sicher begrenztes Ziel verfolgt hatte. Doch er war sich nicht einmal dieses Mangels einer Wahl und eines freien Entschlusses bewußt, sondern wie der Keim eines Samenkornes, sobald er etwas Wärme und Feuchte verspürt, nur erst ein Würzelchen auszudehnen und ein Stämmchen an das Licht zu bringen sucht, ehe er seine besondere Blattform ansetzt, so wurde Heinrich durch seinen Instinkt getrieben, das Bewußtsein ohne Nutzanwendung und Mäßigung zu bereichern und zu erfahren, was es eigentlich überhaupt zu lernen und zu bebauen gäbe in der Menschengeschichte.

      So sog er, während er mit ernstem Pathos einen bewußten freien Willen zu üben wähnte, aber willenlos alle seine Angelegenheiten und bisherige Tätigkeit da liegenließ, wo sie zuletzt gelegen, so sog er jetzt, einer willenlosen durstigen Pflanze gleich, die Nahrung der Erfahrung und das Lebenslicht der Einsicht in sich und setzte damit nur den im zarten Knabenalter gewaltsam unterbrochenen Prozeß fort, aber mit um so größerer Schwere, als er unterdessen ein erwachsener Mensch geworden.

      Sein liebster Aufenthalt war nun das Universitätsgebäude. Er besuchte die verschiedensten Vorlesungen und sah überall, was da gelernt werde, darüber alle Sorgen vergessend und das äußere Auge vor der Zukunft verschließend, aber innerlich umhertastend gleich der Raupe, die für ihren bestimmungsvollen Heißhunger ein anderes Baumblatt sucht.

      Zu der Zeit seiner Jean Paulschen Belesenheitsbildung hatte er das Rechtswesen für eine Sache gehalten, von der absolut nichts zu wissen noch zu ahnen eine Ehre für jeden wohlangelegten Menschen sein müsse, und die Juristen waren ihm eine Art unglücklicher, in keiner Beziehung beneidenswerter Schicksalsgenossen gewesen, deren unterste Stufe etwa die Häscher und Abdecker wären, vom Abhub und Eiter der Gesellschaft lebend. Der Zivilrichter war ihm dazumal noch viel verächtlicher als der Prozeßsüchtige und dessen Advokat; denn, sagte er, wenn die Menschen stupid und schlecht genug sind, unklare und falsche Ansprüche gegeneinander zu erheben und sich um des Kaisers Bart zu zanken, so ist derjenige noch der viel größere Esel, der sich dazu hergibt, sich von den Zankbolden anschreien und belügen zu lassen und ihre schmutzige Wäsche rein zu machen. Vielmehr, meinte er, sollte man alle Leute sich so lange zanken lassen, bis der eine oder der andere Gewalt braucht, diesen alsdann beim Kopf nehmen, dem Strafrichter überweisen und erst jetzt zugleich mit dem Strafprozesse die zivilrechtliche Frage entscheiden, den aber noch besonders abstrafen, der den Prozeß verliert. Denn mit dem Strafrichter allein machte er eine Ausnahme, und der war ihm eine geheiligte Person.

      Solche harmlose Aussprüche der Unschuld vergessend, war Heinrich jetzt öfter in den verrufensten aller Vorlesungen, in den Pandekten zu finden, fast leidenschaftlich beflissen, ein Stück Textur und Gewebe römischen Rechtes vor seinen Augen ausbreiten und erklären zu sehen. Er sah aus den naturwüchsig konkreten Anfängen mit ihren plastischen Gebräuchen das allgemeinste, in sich selbst ruhende Rechtsleben hervorgehen, zu einer ungeheuren, für Jahrtausende maßgebenden Disziplin sich entwickeln, doch in jeder Faser eine Abspiegelung der Menschenverhältnisse, ihrer Bestimmungen, Bedürfnisse, Leidenschaften, Sitten und Zustände, Fähigkeiten und Mängel, Tugenden und Laster darstellen. Er sah, wie dies ganze Wesen, dem Rechts- und Freiheitsgefühl einer Rasse entsprossen, in seiner Befähigung zur Allgemeinheit, seither neben der staatlichen Verkommenheit und der Knechtschaft hergehend, von dieser allein geübt und gepflegt, gerade seiner in sich wurzelnden Allgemeinheit wegen als eine Fähigkeit des menschlichen Geschlechtes eher geeignet war, unter den betrübtesten Verhältnissen den Sinn des Rechtes und mit diesem den Sinn der Freiheit, wenn auch schlafend, aufzubewahren, als das germanische Recht, welches seiner Gewohnheitsnatur, seiner eigensinnigen Liebhabereien, seines äußerlichen Gebrauchswesens und seines unechten Individualismus halber sich unfähig gezeigt hat, den vielgerühmten germanischen Sinn für Recht und Freiheit im ganzen und großen zu erhalten, sowenig als sich selbst. Denn das Recht ist eigentlich nichts als Kritik; diese soll so allgemein und grundsätzlich als möglich sein, und das produktive Leben, der Gegenstand dieser Kritik, ist es, welches allzeit naturwüchsig und individuell sein soll.

      Dafür regte das, was er vom germanischen Recht erfaßte, durch den poetischen und ehrwürdigen Duft und Glanz seiner verjährten Sprache und durch das malerische Kostüm seine Begier und Aufmerksamkeit für die Geschichte. Er hatte, durch den fragmentarischen Einblick in diese Disziplinen aufgefordert, damit geschlossen, sich einen allgemeinen Begriff von der Rechtsgeschichte zu verschaffen, und indem er, durch das Lesen deutscher Rechtsaltertümer veranlaßt, Vergangenheit und Ursprung der deutschen Sprache in den von trefflichen Männern dargebotenen Werken betrachtete, erstaunte er, in dieser Sprachgeschichte, die zugleich die schönste Völkergeschichte war, ein wahrhaftes, großes, singendes und klingendes Epos zu finden, in zahllosen Völkerstämmen herüberziehend und rauschend aus den grünen Waldschatten der Vorzeit, an Strömen und Meerborden hin und her wandelnd, Völkerschlachten schlagend, Städte bauend und eine Geschichte lebend in frommem Ernst und derbem Schwank, in Festglanz und Todesschauern. Die uralte heilige Ehrbarkeit, mit welcher in der Menschensprache überall das Abgeteilte, Zahl, Maß und Gewicht, Trockenes und Flüssiges, Bodeneinteilung und Geschlechtsverwandtschaft erschienen, wies von selbst wieder hin auf die Rechtsgeschichte und bestätigte deren Qualität in der Menschennatur, so wie die ehrwürdige und ursprüngliche Allgemeinheit der Wörter für die wichtigsten physischen Gegenstände mit der inneren Einfachheit und Allgemeinheit der Natur selbst zusammentraf, wie er sie in den betreffenden Betrachtungen und Studien kennen und ehren gelernt hatte.

      So gewann nun Heinrich, durch die unmittelbare Anschauung solcher Dinge, erst eine lebendige Liebe zu der Geschichte, wie überhaupt die unmittelbare Kenntnis der Faser und der Textur der Wirklichkeit tiefere, nachhaltigere und fruchtbarere Begeisterung erweckt in allen Übungen als alles abstrakte Phantasieren. Und selbst diejenigen, welche nur teilweise Kenntnis genommen haben vom Bestehen dieses organisch-notwendigen Gewebes, dieser Textur der Dinge, werden dem Ganzen ersprießlicher sein durch die erworbene Fähigkeit, sich alles gewaltsamen Räsonierens zu enthalten und nicht länger eine ungleichmütige Verwirrung bald feiger, bald übermütiger Stimmungen und Forderungen über die Dinge auszugießen, die sie nicht begreifen und die sich doch von selbst verstehen und machen.

      Heinrich trug ein zwiefaches praktisches Ergebnis


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