Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер
Читать онлайн книгу.und Rhetoren nie einsehen nicht um ein Trauerspiel, sondern um ein gutes Ziel und Ende, wo die geläuterte unbedingte Einsicht alle versöhnt, um ein großes heiteres Lustspiel, wo niemand mehr blutet und niemand weint. Langsam, aber sicher geht die Welt diesem Ziele entgegen.
Mit einem Worte, Heinrich erlangte die gute und nützliche Erkenntnis alles, was wir an unseren Gegnern verwerflich und tadelnswert finden, das müssen wir selber vermeiden und nur das an sich Gute und Rechte tun, nicht allein aus Gutmütigkeit und Neigung, sondern recht aus Zweckmäßigkeit und energischem geschichtlichen Bewußtsein.
Wie er nun dazu noch sah, daß jede geschichtliche Erscheinung genau die Dauer hat, welche ihre Gründlichkeit und lebendige Innerlichkeit verdient und der Art ihres Entstehens entspricht, wie die Dauer jedes Erfolges nur die Abrechnung der verwendeten Mittel und die Prüfung des Verständnisses ist und wie gegen die ununterbrochene Ursachenreihe auch in der Geschichte weder hoffen noch fürchten, weder jammern noch toben, weder Übermut noch Verzagtheit etwas hilft, sondern Bewegung und Rückschlag ihren wohlgemessenen und begründeten Rhythmus haben, so gab er besonders acht auf die Zeit- und Dauerverhältnisse in der Geschichte und verglich den Charakter der Ereignisse und Zustände mit ihrer Dauer und dem Wechsel ihrer Folge welche Art von anhaltenden Zuständen z.B. ein plötzliches oder ein allmähliches Ende nehmen oder welche Art von unerwarteten raschen Ereignissen dennoch einen dauernden Erfolg haben und warum? welche Bewegungsarten einen schnellen oder langsamen, einen gänzlichen oder teilweisen Rückschlag hervorrufen, welche von ihnen scheinbar täuschen und in die Irre führen und welche den erwarteten Gang offen gehen? in welchem Verhältnis überhaupt die Summe des moralischen Inhaltes zu dem Rhythmus der Jahrhunderte, der Jahre, der Wochen und der einzelnen Tage in der Geschichte stehe usw.? Dies alles betrieb er nicht, um eine Kalenderwissenschaft aufzustellen, sondern lediglich, um die eine moralische Anschauung von allen Dingen zu verstärken. Durch diese Anschauung wurde er befähigt, schon im Beginn einer Bewegung nach ihren Mitteln und nach ihrer Natur die Hoffnung oder Furcht zu beschränken, die er auf sie zu setzen hatte, wie es einem besonnenen, freien Staats und Weltbürger geziemt. Es ist, nicht leider, sondern glücklicherweise, kein Gemeinplatz, sondern eine eiserne Wahrheit, daß in der Geschichte überall keine Hexerei, sondern das Sprüchlein? Wie man’s treibt, so geht’s! die lehrreichste Erklärung für alles ist.
Der ruhige feste Gleichmut, welcher aus solcher Auffassung des Ganzen und Vergleichung des einzelnen hervorgeht, glücklich gemischt mit lebendigem Gefühl und Feuer für das nächst zu Ergreifende und Selbsterlebte, macht erst den guten und wohlgebildeten Weltbürger aus. Denn wenn er in diesen, in seinen eigenen Bestrebungen scheitert oder ein großes Mißlingen oder einen Untergang miterlebt, so gibt nur jene Ruhe ihm denjenigen Trost und Halt, ohne welchen kein selbstbewußtes menschliches Wesen denkbar ist und leben kann.
Heinrich erwarb sich indessen nichts weniger als eine große Gelehrsamkeit oder gar die bloße Einbildung einer solchen; lediglich schaute er sich um, von einem dringenden Instinkte getrieben, erhellte sein Bewußtsein von den Dingen, die da sind, gelehrt, gelernt und betrieben werden, und hatte an allem eine ungetrübte gleichmäßige Freude, ohne sich anzumaßen, sich selbst etwa hervortun zu wollen, oder sich für dies oder jenes selbsttätig entscheiden zu können. Alles, was gründlich und zweckmäßig betrieben wurde und echt menschlich war, erschien ihm jetzt gleich preiswürdig und wesentlich, und jeder schien ihm glücklich und beneidenswert, der, seinen Beruf recht begreifend, in Bewegung und Gesellschaft der Menschen, mit ihnen und für sie, unmittelbar wirken kann.
Dies alles hatte die kleine Figur des borghesischen Fechters veranlaßt, und Heinrich trieb es wie etwa der Sohn eines wohlhabenden guten Hauses, welcher sich zu seiner Formierung im Auslande aufhält und einige allgemeine Studien treibt, von allem ein bißchen lernt, um dereinst einen wohlbestellten und unterrichteten Bürgersmann vorzustellen, welcher weiß, worum es sich handelt, und, ohne gelehrt zu sein, doch in manchem Falle, wo er nicht schon eine eigene Meinung hat, imstande ist, sich eine solche auf dem kürzesten Wege anzueignen.
So verging die Zeit, und während Heinrich ohne freien Willen, denn er konnte gar nicht anders, rücksichtslos und gänzlich die Zeit verwendete, sich Zeug und Stoff für seinen freien Willen zu verschaffen, nämlich Einsicht, wußte er bereits nicht mehr, wovon er leben sollte, und sah sich plötzlich zu seinem großen Erstaunen von Not und Sorge umgeben, so daß er kaum wußte, wie ihm geschah.
Viertes Kapitel
Als er vor nun bald vier Jahren sein Vaterhaus und seine Heimat verließ, war zu seinem Eintritt in die Welt die mäßige Barsumme bestimmt, welche seine Mutter während ihres Witwenstandes, trotz ihrer beschränkten Verhältnisse und ungeachtet sie zu gleicher Zeit einen Sohn erzog, doch unbemerkt erspart hatte. Diese Summe war bei bescheidener Lebensweise für etwa ein Jahr hinreichend, nach dessen Ablauf sich ernähren und zugleich weiterbilden zu können Heinrich nicht zweifelte und seine Mutter ebenso sicher hoffte, da es geschehen mußte und sie ihrer ganzen Lebensart nach selbst von nichts anderm wußte, als dem Notwendigen sich zu fügen und ihm gerecht zu werden. Sie nannte dies »sich nach der Decke strecken« und verzierte jeden ihrer Briefe, die sie an den Sohn schrieb, sorgfältigst am Eingang und am Schlusse mit dieser Metapher, und der Sohn nannte dieselbe scherzweise das Prokrustesbette seiner Mutter. Indessen, um für alle Fälle das Ihrige zu tun, veränderte sie sogleich am Tage nach seiner Abreise ihre Wirtschaft und verwandelte dieselbe beinahe vollständig in die Kunst, von nichts zu leben.
Sie erfand ein eigentümliches Gericht, eine Art schwarzer Suppe, welches sie jahraus, jahrein, einen Tag wie den andern um die Mittagszeit kochte, auf einem Feuerchen, welches ebenfalls beinahe von nichts brannte und ein Klafter Holz ewig dauern ließ. Sie deckte während der Woche nicht mehr den Tisch, da sie nun ganz allein aß, nicht um die Mühe, sondern die Kosten der Wäsche zu ersparen, und setzte ihr Schüsselchen auf ein einfaches Strohmättchen, welches immer sauber blieb, und indem sie ihren abgeschliffenen Dreiviertelslöffel in die Suppe steckte, rief sie pünktlich den lieben Gott an, denselben für alle Leute um das tägliche Brot bittend, besonders aber für ihren Sohn. Nur an den Sonn- und Festtagen deckte sie den Tisch förmlich und setzte ein Pfündchen Rindfleisch darauf, welches sie am Sonnabend eingekauft. Diesen Einkauf selber machte sie weniger aus Bedürfnis – denn sie hätte sich für ihre Person auch am Sonntage noch mit der lakonischen Suppe begnügt, wenn es hätte sein müssen – als vielmehr, um noch, einen Zusammenhang mit der Welt und Gelegenheit zu haben, wenigstens einmal die Woche auf dem alten Markt zu erscheinen und den Weltlauf zu sehen. So marschierte sie denn still und eifrig, ein kleines Körbchen am Arm, erst nach den Fleischbänken, und während sie dort klug und bescheiden hinter dem Gedränge der großen Hausfrauen und Mägde stand, welche lärmend und stolz ihre großen Körbe füllen ließen, machte sie höchst kritische Betrachtungen über das Behaben der Leute und ärgerte sich besonders über die munteren leichtsinnigen Dienstmägde, welche sich von den lustigen Metzgerknechten also betören ließen, daß sie, während sie mit ihnen scherzten und lachten, ihnen unversehens eine ungeheure Menge Knochen und Luftröhrenfragmente in die Waagschale warfen, so daß es die Frau Elisabeth Lee fast nicht mit ansehen konnte. Wenn sie die Herrin solcher Mädchen gewesen wäre, so hätten diese ihre Verliebtheit an den Fleischbänken teuer büßen und jedenfalls die Knorpel und Röhren der falschen trügerischen Gesellen selbst essen müssen. Allein es ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen, und diejenige, welche von allen anwesenden Frauen vielleicht die böseste und strengste gewesen wäre, hatte dermalen nicht mehr Macht als über ihr eigenes Pfündlein Fleisch, das sie mit Umsicht und Ausdauer einkaufte. Sobald sie es im Körbchen hatte, richtete sie ihren Gang nach dem Gemüsemarkt am Wasser und erlabte ihre Augen an dem Grün, an den frischen Früchten, welche aus Gärten und Fluren hereingebracht waren. Sie wandelte von Korb zu Korb und über die schwanken Bretter von Schiff zu Schiff, das aufgehäufte Wachstum übersehend und an dessen Schönheit und Billigkeit die Wohlfahrt des Staates und dessen innewohnende Gerechtigkeit ermessend, und zugleich tauchten in ihrer Erinnerung die grünen Landstriche und die Gärten ihrer Jugend auf, in welchen sie einst selbst so gedeihlich gepflanzt hatte, daß sie zehnmal mehr wegzuschenken imstande war, als sie jetzt bedächtig und teuer einkaufen mußte.