Sherlock Holmes: Seine Abschiedsvorstellung (Zweisprachige Ausgabe: Deutsch-Englisch). Arthur Conan Doyle
Читать онлайн книгу.Mieter. Wenn wir noch ein wenig warten, Watson, so zweifle ich nicht, daß die Sache verständlicher wird.«
So war es auch; als ich am nächsten Morgen das Wohnzimmer betrat, stand mein Freund vor dem Kamin, den Rücken gegen das Feuer und auf den Zügen ein Lächeln vollständiger Befriedigung.
»Wie findest du das, Watson?« rief er, indem er die Zeitung vom Tisch aufnahm. ›Hohes, rotes Haus mit weißer Steinfassade. Dritter Stock. Zweites Fenster rechts. Nach Einbruch der Dämmerung. – G.‹ Das ist deutlich genug. Ich denke, wir machen nach dem Frühstück einen kleinen Forschungsgang durch Frau Warrens Wohnviertel. – Ah, Frau Warren! Welche Neuigkeiten bringen Sie uns heute morgen?«
Unsere Kundin war plötzlich in heftiger Bewegung ins Zimmer gestürzt, was auf eine neue und wichtige Entwicklung der Dinge schließen ließ.
»Es ist ein Fall für die Polizei, Herr Holmes!« schrie sie. »Ich will nichts mehr damit zu tun haben! Er soll machen, daß er aus meinem Haus kommt. Ich wäre direkt zu ihm hinaufgegangen, um ihm das zu sagen; doch dachte ich, es wäre höflicher, erst Ihre Meinung zu hören. Aber ich bin am Ende meiner Geduld, wenn es bis zur Mißhandlung meines alten Mannes kommt.«
»Herr Warren mißhandelt?«
»Wenigstens recht roh behandelt!«
»Aber wer behandelte ihn roh?«
»Das möchten wir ja gerade wissen! Es war heute morgen, Herr Holmes. Herr Warren ist Aufseher in der Fabrik von Morton und Waylight in Tottenham. Er muß vor sieben Uhr aus dem Haus gehen. Nun, heute früh war er noch keine zehn Schritte die Straße heruntergegangen, als ihn zwei Männer von hinten überfielen, ihm einen Rock über den Kopf warfen und ihn in eine Kutsche schoben, die am Straßenrand hielt. Sie fuhren eine Stunde mit ihm herum, dann öffneten sie den Schlag und stießen ihn hinaus. Er lag auf der Straße, so betäubt und verwirrt, daß er nicht sah, was aus der Kutsche wurde. Als er sich aufrappelte, bemerkte er, daß er sich auf der Hampsteader Heide befand; so nahm er einen Omnibus und liegt nun zu Hause auf dem Bett, während ich direkt zu Ihnen gelaufen bin, um Ihnen alles zu berichten.«
»Sehr interessant«, sagte Holmes. »Konnte er das Äußere dieser Männer erkennen? Hörte er sie sprechen?«
»Nein; er ist ganz verwirrt. Er weiß nur, daß er wie durch Zauber in den Wagen gehoben und wie durch Zauber wieder auf die Straße gesetzt wurde. Zwei Leute waren sicher bei ihm, vielleicht auch drei.«
»Und Sie bringen diesen Angriff in Verbindung mit Ihrem Mieter?«
»Wir leben jetzt fünfzehn Jahre in diesem Haus, und nie ist etwas derartiges passiert. Ich habe genug von dem Menschen. Geld allein tut’s auch nicht. Ehe der Tag herum ist, muß er mir aus dem Haus.«
»Warten Sie noch ein wenig, Frau Warren; überstürzen Sie nichts. Ich habe allmählich den Eindruck, als sei diese Angelegenheit sehr viel wichtiger, als es zuerst den Anschein hatte. Es ist mir jetzt ganz klar, daß Ihrem Mieter irgendeine Gefahr droht. Es ist mir auch klar, daß seine Feinde, die in der Nähe Ihrer Haustüre auf ihn lauerten, Ihren Mann in dem dunstigen Morgenlicht für ihn hielten. Als sie ihren Fehlgriff entdeckten, ließen sie ihn frei. Was sie getan haben würden, wenn es kein Fehlgriff gewesen wäre, das können wir nur vermuten.«
»Was soll ich denn tun, Herr Holmes?«
»Ich habe große Lust, Ihren Mieter zu sehen, Frau Warren.«
»Ich weiß nicht, wie sich das machen ließe, es sei denn, Sie brechen die Türe ein. Ich höre ihn immer auf-und zuschließen, wenn er seine Mahlzeiten von dem Stuhl hereinholt.«
»Er muß das Servierbrett von dem Stuhl wegnehmen. Gewiß könnten wir uns irgendwo verbergen und ihn dabei beobachten.«
Die Hauswirtin überlegte einen Augenblick.
»Ja, Herr Holmes, es ist eine Kofferkammer gegenüber. Ich könnte vielleicht einen Spiegel aufhängen, und wenn Sie hinter der Türe stehen –«
»Großartig!« sagte Holmes. »Wann ißt er zu Mittag?«
»Um ein Uhr, Herr Holmes.«
»Doktor Watson und ich werden zur rechten Zeit dort sein. Für jetzt, Frau Warren, auf Wiedersehen!« –
Um ½ l Uhr befanden wir uns vor Frau Warrens Haus, einem hohen, schmalen, gelben Backsteinhaus in der Großen Ormestraße, einem schmalen Durchgang auf der Nordostseite des Britischen Museums. Da es nahe einer Straßenkreuzung steht, so sieht man von ihm aus die Howestraße hinunter, mit ihren anspruchsvolleren Gebäuden. Holmes deutete mit einer Schulterbewegung nach einem derselben, einem großen, eleganten Mietshaus.
»Sieh’ dorthin, Watson!« sagte er. »›Hohes, rotes Haus mit weißer Steinfassade.‹ Das ist sicher die Signalstation. Wir kennen den Ort, und wir kennen den Code; so wird unsere Aufgabe einfach sein. Im Fenster hängt ein Schild ›Zu vermieten‹; das Stockwerk scheint leer zu sein, und der Verbündete hat Zutritt dazu. – Nun, Frau Warren, wie steht’s?«
»Ich habe alles bereit für Sie. Wollen Sie, bitte, Ihre Stiefel unten im Vorplatz lassen und mit mir heraufkommen; ich will Ihnen den Ort zeigen.«
Es war ein vortreffliches Versteck, welches sie vorbereitet hatte. Der Spiegel war so angebracht, daß wir aus unserer dunkeln Ecke die gegenüberliegende Türe doch sehr deutlich sehen konnten. Kaum hatte uns Frau Warren verlassen, als ein fernes Klingelzeichen ankündigte, daß unser geheimnisvoller Nachbar geläutet hatte. Alsbald erschien die Hausfrau mit dem Brett, setzte es auf den Stuhl neben der verschlossenen Türe und verschwand dann wieder, schwer auftretend. In dem Türwinkel zusammengedrückt, ließen wir kein Auge von dem Spiegel. Plötzlich, als die Schritte der Frau nur noch von ferne zu hören waren, drehte sich der Schlüssel im Schloß, die Türklinke bewegte sich, und zwei schmale Hände fuhren eilig heraus und nahmen das Brett vom Stuhl weg. Aber sofort wurde es wieder abgestellt, und ich konnte einen kurzen Augenblick lang ein schönes, dunkles Köpfchen sehen, welches mit entsetzten Augen nach der halboffenen Kammertüre blickte. Dann wurde die Zimmertüre zugeworfen, der Schlüssel drehte sich wieder, und alles war still. Holmes zupfte mich am Ärmel, und wir stahlen uns wieder die Treppe hinunter.
»Ich will heute abend noch einmal vorbeikommen«, sagte er zu der erwartungsvollen Hauswirtin. »Ich meine, Watson, wir sprechen über diese Dinge besser in unserer eigenen Wohnung.«
»Wie du gesehen hast, hat meine Vermutung gestimmt«, sagte er aus der Tiefe seines Klubsessels heraus. »Es hat ein Austausch der Mieter stattgefunden. Was ich aber nicht voraussah, war, daß wir eine Frau vorfinden würden – und keine gewöhnliche Frau, Watson!«
»Sie sah uns.«
»Sie sah etwas, was sie beunruhigte. Das stimmt. – Die Zusammenhänge sind mir ganz klar: Ein Paar sucht in London Schutz vor einer sehr drohenden, großen Gefahr. Der Maßstab für die Gefahr ist die Strenge der Vorsichtsmaßregeln. Der Mann, der irgendwelche Geschäfte zu erledigen hat, wünscht die Frau inzwischen in absoluter Sicherheit zu wissen. Das ist keine leichte Aufgabe, und doch hat er sie in so origineller Weise gelöst, daß selbst die Hausfrau, welche die Frau mit Nahrung versorgte, nichts von ihrer Anwesenheit wußte. Es ist klar, daß die Benützung von Druckbuchstaben den Zweck hatte, die Entdeckung des Geschlechts des Bewohners der Zimmer aus der Handschrift zu verhindern. Der Mann kann die Frau nicht besuchen, ohne den Feinden den Weg zu ihr zu weisen. Da er keine direkte Verbindung mit ihr hat, so nimmt er seine Zuflucht zu der ›Seufzerecke‹ einer Zeitung. Soweit ist alles klar.«
»Aber was liegt dem allem zugrunde?«
»Ach ja, Watson – praktisch, wie gewöhnlich! Was liegt dem allen zugrunde? Frau Warrens wunderliche Befürchtungen rechtfertigen sich immer mehr und geben, je länger wir uns damit beschäftigen, das Bild eines ernsten Falls. So viel ist sicher: daß es keine gewöhnliche Liebesgeschichte ist. Wir haben das angstvolle Gesicht der Frau gesehen. Wir haben von dem Überfall auf Herrn Warren gehört, der unzweifelhaft dem Mieter gegolten hat. Alles beweist, daß es sich um eine Sache auf Leben oder Tod handelt. Der Angriff auf Herrn Warren beweist ferner, daß die Feinde,