Der selbstsüchtige Riese und andere Märchen (Mit Illustrationen). Oscar Wilde
Читать онлайн книгу.kleine Schwalbe,« sagte der Prinz, »tue, wie ich dir gesagt habe.«
So pickte sie denn das andere Auge des Prinzen aus und flog damit hinab. Sie schoß hinter das Streichholzmädchen und ließ den Edelstein in ihre hohle Hand gleiten. »Was für ein köstliches Stück Glas,« rief das kleine Mädchen; und sie rannte jubelnd nach Hause.
Dann kam die Schwalbe zurück zu dem Prinzen. »Du bist jetzt blind,« sagte sie, »deshalb will ich immer bei dir bleiben.« »Nein, kleine Schwalbe,« sagte der arme Prinz, »du mußt fortgehen nach Ägypten.«
»Ich werde immer bei dir bleiben,« sagte die Schwalbe, und sie schlief zu des Prinzen Füßen.
Den ganzen nächsten Tag saß sie auf des Prinzen Schulter und erzählte ihm Geschichten von allem, was sie in seltsamen Ländern gesehen hatte. Sie erzählte ihm von roten Ibissen, die in langen Reihen auf den Bänken am Nil stehen und in ihren Schnäbeln Goldfische fangen; von der Sphinx, die so alt ist wie die Welt, die in einer Wüste lebt und alles weiß; von Kaufleuten, die langsam neben ihren Kamelen dahinschreiten und Bernsteinperlen in ihrer Hand tragen; von dem König der Mondberge, der so schwarz ist wie Ebenholz und einen großen Kristall anbetet; von der großen, grünen Schlange, die in einem Palmbaum schläft und zwanzig Priester hat, die sie mit Honigkuchen füttern; und von den Pygmäen, die über einen weiten See auf großen, flachen Blättern dahinsegeln und immer im Kriege mit den Schmetterlingen sind.
»Liebe, kleine Schwalbe,« sagte der Prinz, »du erzählst mir von wunderbaren Dingen, aber wunderbarer als alles ist das Leiden von Männern und Frauen. Kein Geheimnis ist so groß als das Elend. Fliege über meine Stadt und erzähle mir, was du dort siehst.«
Da flog nun die Schwalbe über die große Stadt und sah, wie sich die Reichen in ihren schönen Häusern belustigten, während die Bettler an den Toren saßen. Sie flog in dunkle Gassen und sah die blassen Gesichter verhungernder Kinder gleichgültig auf die schwarzen Straßen starren. Unter einem Brückenbogen lagen zwei kleine Knaben aneinander geschmiegt und versuchten, sich warm zu halten. »Wie hungrig wir sind!« sagten sie. »Ihr dürft hier nicht liegen,« rief der Wächter, und sie wanderten hinaus in den Regen.
Dann flog sie zurück und erzählte dem Prinzen, was sie gesehen hatte.
»Ich bin mit reinem Gold bedeckt,« sagte der Prinz, »du mußt es Blatt für Blatt abnehmen und es meinen Armen geben; die Lebenden glauben immer, daß Gold sie glücklich machen kann.«
Blatt auf Blatt von dem reinen Gold pickte die Schwalbe ab, bis der glückliche Prinz ganz stumpf und grau aussah. Blatt auf Blatt von dem reinen Gold brachte sie den Armen, und die Gesichter der Kinder röteten sich, und sie lachten und spielten ihre Spiele in den Straßen. »Jetzt haben wir Brot!« riefen sie.
Dann kam der Schnee, und nach dem Schnee kam der Frost. Die Straßen sahen aus, als seien sie aus Silber gemacht, so glänzten und gleißten sie; lange Eiszapfen hingen wie Kristalldolche von den Dachrinnen herab, alles ging in Pelzen, und die kleinen Knaben trugen rote Kappen und liefen Schlittschuh auf dem Eis.
Die arme, kleine Schwalbe wurde kälter und kälter, aber sie wollte den Prinzen nicht verlassen, sie liebte ihn zu sehr. Sie pickte Krümel vor des Bäckers Türe auf, wenn der Bäcker nicht hinsah, und versuchte, sich warm zu halten, indem sie mit den Flügeln schlug.
Aber zuletzt wußte sie, daß sie sterben mußte. Sie hatte gerade die Kraft, noch einmal auf die Schulter des Prinzen zu fliegen.
»Leb' wohl, lieber Prinz,« flüsterte sie, »darf ich deine Hand küssen?«
»Ich freue mich, daß du endlich nach Ägypten gehst, kleine Schwalbe,« sagte der Prinz, »du hast dich viel zu lang hier aufgehalten; aber du mußt mich auf die Lippen küssen, denn ich liebe dich.«
»Ich gehe nicht nach Ägypten,« sagte die Schwalbe. »Ich gehe in das Haus des Todes. Der Tod ist der Bruder des Schlafes, nicht wahr?«
Und sie küßte den glücklichen Prinzen auf die Lippen und sank tot zu seinen Füßen hin.
In diesem Augenblick ertönte ein seltsames Krachen in der Statue, als sei darin etwas zerbrochen. Das bleierne Herz war vollständig entzweigesprungen. Es herrschte aber auch wirklich ein grimmig starker Frost.
Früh am nächsten Morgen ging unten über den Platz der Bürgermeister in Gesellschaft der Stadträte. Als sie an der Säule vorbeikamen, blickte er zur Statue empor: »Lieber Himmel! wie schäbig der glückliche Prinz aussieht!« sagte er. »Er sieht wirklich schäbig aus!« schrien die Stadträte, die immer mit dem Bürgermeister übereinstimmten; und sie stiegen hinauf, um ihn zu betrachten.
»Der Rubin ist aus seinem Schwert gefallen, die Augen sind fort, und er hat keine Vergoldung mehr,« sagte der Bürgermeister; »er ist wahrhaftig nicht viel mehr wert als ein Bettler!«
»Nicht viel mehr wert als ein Bettler,« sagten die Stadträte. »Und hier liegt tatsächlich ein toter Vogel zu seinen Füßen!« fuhr der Bürgermeister fort. »Wir müssen wirklich eine Verordnung erlassen, daß Vögeln nicht erlaubt ist, hier zu sterben.« Und der Stadtschreiber notierte sich die Anregung. So rissen sie denn die Statue des glücklichen Prinzen herab. »Da er nicht mehr schön ist, ist er nicht mehr nützlich,« sagte der Professor der schönen Künste an der Universität.
Dann schmolzen sie die Statue in einem Schmelzofen, und der Bürgermeister veranstaltete eine Ratssitzung, um zu entscheiden, was mit dem Metall geschehen sollte. »Natürlich müssen wir eine andere Statue haben,« sagte er, »und es soll eine Statue von mir sein.«
»Von mir,« sagte jeder der Stadträte, und sie zankten sich. Als ich das letztemal von ihnen hörte, zankten sie sich noch immer.
»Was für eine merkwürdige Sache!« sagte der Werkmeister in der Gießerei. »Dieses zerbrochene Bleiherz will in dem Ofen nicht schmelzen. Wir müssen es wegwerfen.« So warfen sie es auf einen Kehrichthaufen, wo auch schon die tote Schwalbe lag.
»Bringe mir die beiden kostbarsten Dinge, die es in der Stadt gibt,« sagte Gott zu einem seiner Engel, und der Engel brachte ihm das bleierne Herz und den toten Vogel.
»Du hast recht gewählt,« sagte Gott, »denn in meinem Paradiesgarten soll dieser kleine Vogel für immer singen, und in meiner goldenen Stadt soll mich der glückliche Prinz preisen.«
Die Nachtigall und die Rose
»Sie sagte, sie würde mit mir tanzen, wenn ich ihr rote Rosen brächte,« rief der junge Student; »aber in meinem ganzen Garten ist keine rote Rose.«
Aus ihrem Nest auf dem Stamme der Steineiche hörte ihn die Nachtigall, und sie blickte neugierig durch die Blätter hinaus. »Keine rote Rose in meinem ganzen Garten!« rief er, und seine schönen Augen füllten sich mit Tränen. »Ach, von was für Kleinigkeiten hängt das Glück ab! Ich habe alles gelesen, was die weisen Männer geschrieben haben, und alle Geheimnisse der Philosophie sind mein, aber weil mir eine rote Rose fehlt, ist mein Leben elend geworden.«
»Hier ist doch endlich einer, der wahrhaft liebt,« sagte die Nachtigall. »Nacht für Nacht habe ich von ihm gesungen, obgleich ich ihn nicht kannte: Nacht für Nacht habe ich den Sternen seine Geschichte erzählt, und jetzt sehe ich ihn. Sein Haar ist dunkel wie die Hyazinthenblüte, und seine Lippen sind rot wie die Rose, nach der er verlangt; aber Leidenschaft hat sein Gesicht zu bleichem Elfenbein gemacht, und Kummer hat sein Siegel auf seine Stirne gedrückt.«
»Der Prinz gibt morgen abend einen Ball,« murmelte der junge Student, »und meine Geliebte wird ihn mitmachen. Wenn ich ihr eine rote Rose bringe, wird sie mit mir tanzen bis zum Morgen. Wenn ich ihr eine rote Rose bringe, werde ich sie in meinen Armen halten, sie wird ihr Haupt an meine Schulter lehnen, und ihre Hand wird sich in meine schließen. Aber es wächst keine rote Rose in meinem Garten, deshalb werde ich einsam sitzen, und sie wird an mir vorübergehen. Sie wird mich nicht beachten, und mein Herz wird