Der selbstsüchtige Riese und andere Märchen (Mit Illustrationen). Oscar Wilde
Читать онлайн книгу.hinaufreichen konnte, und er wanderte immer um ihn herum und weinte bitterlich. Der arme Baum war noch ganz mit Eis und Schnee bedeckt, und der Nordwind blies und brüllte über ihn weg. »Klett're hinauf! kleiner Knabe,« sagte der Baum und bog seine Zweige hinab, soweit er konnte; aber der Knabe war zu winzig.
Und des Riesen Herz schmolz, als er hinausblickte. »Wie selbstsüchtig ich gewesen bin!« sagte er; »jetzt weiß ich, warum der Frühling nicht hierherkommen wollte. Ich werde den armen, kleinen Knaben oben auf den Baum setzen, und dann will ich die Mauer umstoßen, und mein Garten soll für alle Zeit der Spielplatz der Kinder sein.« Es war ihm wirklich sehr leid, was er getan hatte.
Er stieg hinab, öffnete ganz sanft die Vordertüre und ging hinaus in den Garten. Aber als ihn die Kinder sahen, waren sie so erschrocken, daß sie alle davonliefen, und es im Garten wieder Winter wurde. Nur der kleine Junge lief nicht fort, denn seine Augen waren so voll von Tränen, daß er den Riesen gar nicht kommen sah. Und der Riese stahl sich hinter ihn, nahm ihn behutsam in die Hand und setzte ihn auf den Baum. Und der Baum brach sofort in Blüten aus, und die Vögel kamen und sangen darauf, und der kleine Junge streckte seine beiden Arme aus, schlang sie rund um des Riesen Nacken und küßte ihn. Und als die anderen Kinder sahen, daß der Riese nicht mehr böse war, kamen sie zurückgerannt, und mit ihnen kam der Frühling. »Es ist jetzt euer Garten, kleine Kinder,« sagte der Riese, und er nahm eine große Axt und schlug die Mauer nieder. Und als die Leute um zwölf Uhr zum Markt gingen, da fanden sie den Riesen spielend mit den Kindern in dem schönsten Garten, den sie je gesehen hatten. Den ganzen Tag lang spielten sie, und des Abends kamen sie zum Riesen, um sich von ihm zu verabschieden.
»Aber wo ist euer kleiner Gefährte?« fragte er, »der Knabe, den ich auf den Baum setzte.« Der Riese liebte ihn am meisten, weil er ihn geküßt hatte.
»Wir wissen es nicht,« antworteten die Kinder; »er ist fortgegangen.«
»Ihr müßt ihm bestimmt sagen, daß er morgen wieder hierherkommt,« sagte der Riese. Aber die Kinder erklärten, sie wüßten nicht, wo er wohne, und hätten ihn nie vorher gesehen; und der Riese fühlte sich sehr betrübt.
Jeden Nachmittag, wenn die Schule vorbei war, kamen die Kinder und spielten mit dem Riesen. Aber der kleine Knabe, den der Riese liebte, wurde nie wieder gesehen. Der Riese war sehr gütig zu allen Kindern, aber er sehnte sich nach seinem ersten kleinen Freund und sprach oft von ihm. »Wie gerne möchte ich ihn sehen!« pflegte er zu sagen.
Jahre vergingen, und der Riese wurde sehr alt und schwach. Er konnte nicht mehr draußen spielen, und so saß er in einem hohen Lehnstuhl und beobachtete die Kinder bei ihren Spielen und bewunderte seinen Garten. »Ich habe viele schöne Blumen,« sagte er, »aber die Kinder sind die schönsten Blumen von allen.«
Eines Wintermorgens blickte er aus seinem Fenster hinaus, als er sich anzog. Er haßte jetzt den Winter nicht mehr, denn er wußte, daß er nur ein schlafender Frühling war, und daß die Blumen sich dann ausruhten.
Plötzlich rieb er sich die Augen vor Staunen und schaute atemlos hinaus. Es war wirklich ein wunderbarer Anblick. Im äußersten Winkel des Gartens war ein Baum ganz bedeckt mit lieblichen, weißen Blumen. Seine Zweige waren ganz golden, und silberne Früchte hingen von ihnen herab, und darunter stand der kleine Knabe, den er geliebt hatte.
In großer Freude rannte der Riese die Treppe hinab und hinaus in den Garten. Er eilte über das Gras und näherte sich dem Kinde. Als er dicht bei ihm war, wurde sein Gesicht rot vor Zorn, und er fragte: »Wer hat es gewagt, dich zu verwunden?« Denn aus den Handflächen des Kindes waren zwei Nägelmale, und zwei Nägelmale waren auf den kleinen Füßen.
»Wer hat es gewagt, dich zu verwunden?« schrie der Riese; »sage es mir, damit ich mein großes Schwert nehme und ihn erschlage.«
»Nein!« antwortete das Kind; »denn dies sind Wunden der Liebe.«
»Wer bist du?« fragte der Riese, und eine seltsame Ehrfurcht befiel ihn, und er kniete vor dem kleinen Kinde.
Und das Kind lächelte den Riesen an und sagte zu ihm: »Du ließest mich einmal in deinem Garten spielen; heute sollst du mit mir in meinen Garten kommen, der das Paradies ist.« Und als die Kinder an diesem Nachmittag hineinliefen, fanden sie den Riesen tot unter dem Baum liegen, ganz bedeckt mit weißen Blüten.
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