Gesammelte Werke von Rudyard Kipling. Редьярд Киплинг
Читать онлайн книгу.in Schatten wandeln. Ich bin gefesselt durch die Täuschung von Zeit und Raum. Wie weit kamen wir heute im Fleisch?«
»Vielleicht ein halbes Kos.« (Dreiviertel Meile.) »Und es war ein mühseliger Marsch.«
»Eine halbe Meile? Ha! Ich wanderte zehntausend Tausend im Geiste. Wie wir alle eingebunden und eingewickelt und eingeschlossen sind in diesen sinnlosen Dingen.« Er sah auf seine abgezehrte, blaugeaderte Hand, die die Perlen so schwer fand.
»Chela, hast Du nie den Wunsch mich zu verlassen?«
Kim dachte an das Öltuch-Paket und die Bücher im Speisekorb. Wenn ein ordnungsmäßig Vorgesetzter ihn von diesen befreien könnte, möchte seinetwegen das Große Spiel sich selbst spielen, ihn würde es nicht kümmern. Sein Kopf war heiß und müde und ein Husten, der aus der Brust kam, quälte ihn.
»Nein,« antwortete er fast finster. »Ich bin weder ein Hund noch eine Schlange, daß ich beiße, wo ich gelernt habe zu lieben.«
»Du bist zu zart für mich.«
»Auch das nicht. Doch habe ich in einer Angelegenheit, ohne Dich zu fragen, gehandelt. Ich habe durch das Weib, das uns heute Morgen die Ziegenmilch gab, eine Botschaft an die Kulu-Frau gesendet, daß Du ein wenig schwach wärest und einer Tragbahre bedürftest. Ich machte mir Vorwürfe im Geist, daß ich es nicht gleich tat, als wir in die Ebene kamen. Wir wollen hier bleiben, bis die Tragbahre kommt.«
»Ich bin es zufrieden. Sie ist eine Frau mit einem Herzen von Gold, wie Du sagst, aber eine Schwätzerin – etwas von einer Schwätzerin.«
»Sie wird Dich nicht ermüden. Ich habe dafür gesorgt, Heiliger; mein Herz ist sehr schwer wegen so mancher Unachtsamkeit gegen Dich.« Ein hysterisches Zucken stieg in seine Kehle. »Ich habe Dich zu viel gehen lassen; ich habe nicht immer gute Nahrung für Dich gebracht. Ich habe die Hitze nicht beachtet; ich habe mit den Leuten auf der Straße geredet und Dich allein gelassen. Ich habe – ich habe … Hai mai! Aber ich liebe Dich … und es ist nun alles zu spät … ich war ein Kind. Oh, warum war ich nicht ein Mann!« …
Überwältigt von Anstrengung, Müdigkeit und der für seine Jugend zu schweren Last, brach Kim zu des Lamas Füßen schluchzend zusammen.
»Welche Torheit,« sprach sanft der alte Mann. »Nie bist Du eines Haares Breite abgewichen vom Wege des Gehorsams. Mich vernachlässigt? Kind, ich habe von Deiner Kraft gelebt, wie ein alter Baum von dem Kalk einer neuen Mauer. Tag, auf Tag, seit wir von Shamlegh niederstiegen, habe ich Starke von Dir gestohlen. Dadurch, nicht durch Deine Sünde, bist Du schwach geworden. Es ist der Körper – der dumme, törichte Körper – der jetzt spricht. Nicht die sichere Seele. Tröste Dich! Erkenne wenigstens die Teufel, gegen die Du kämpfest. Sie sind erdgeboren – Kinder des Wahns. Wir wollen zu der Frau von Kulu gehen. Sie mag Verdienst erwerben, indem sie uns Obdach gibt und besonders mich pflegt. Du sollst frei umhergehen, bis Deine Kräfte wiederkehren. Ich hatte den törichten Leib vergessen. Wenn einer zu tadeln ist, bin ich es. Aber wir sind zu nahe den Pforten der Erlösung, um Unrecht abzuwägen. Ich müßte Dich loben, aber wozu? In kurzer Zeit – in sehr kurzer Zeit – werden wir über allem ›Wozu‹ sein.«
Und er liebkoste und tröstete Kim mit weisen Sprüchen und Textstellen, mit Bezug auf das Kleine, wenig verstandene Tier, unseren Körper, der, nur eine Täuschung – dennoch sich aufspielen will als die Seele – uns so den Weg verdunkelnd, und eine Unzahl unnützer Teufel herauf beschwörend.
»Hai! Hai! Laß uns von der Kulu-Frau sprechen. Meinst Du, sie wird einen neuen Zauber für ihre Enkel verlangen? Als ich ein junger Mann war, vor sehr langer Zeit, war ich von solchen und anderen Künsten geplagt, und ich ging zu einem Abte – einem sehr weisen Mann, und einem Sucher nach Wahrheit: nur wußte ich das damals nicht. Richte Dich auf und höre, Kind meiner Seele! Ich erzählte meine Geschichte. Sprach er zu mir: »Chela, wisse dies! Es gibt viele Lügen in der Welt und nicht wenige Lügner; aber kein Lügner ist so schlimm wie unser Körper; nur in seinen Empfindungen ist er wahr.« Dies erwägend, fühlte ich mich beruhigt. Und in seiner großen Güte erlaubte er mir, Tee in seiner Gegenwart zu trinken. Erlaube Du mir jetzt Tee zu trinken, denn ich bin durstig.«
Mit Lachen unter Tränen küßte Kim dem Lama die Füße und bereitete den Tee.
»Du stützest Dich auf mich, Heiliger, mit dem Körper; ich aber stütze mich auf Dich mit etwas anderem. Weißt Du es?«
»Mag sein, ich habe es erraten,« sagte der Lama schelmisch. »Wir müssen das ändern.« –
Mit Stoßen und Knarren und sehr wichtig tuend, kam nichts Geringeres angewackelt als der Lieblings-Palankin der Sahiba, zwanzig Meilen weit dem Lama entgegengesandt, in Obhut des graubärtigen alten Oorya-Dieners; und als sie alle zusammen die unordentliche Ordnung des weißen, lärmvollen Hauses hinter Saharunpore endlich erreicht hatten, traf der Lama seine Maßregeln.
Sprach die Sahiba von einem oberen Fenster herab, nach vorausgeschickten Komplimenten, freundlich: »Was nützt es, daß eine alte Frau einem alten Manne Ratschläge gibt? Ich sagte Dir – ich sagte Dir, Heiliger, Du müßtest ein Auge auf Deinen Chela haben! Wie hast Du es getan? Verantworte Dich nicht! Ich weiß Bescheid. Er ist den Weibern nachgelaufen. Sieh seine Augen an – hohl und eingesunken – und die verräterische Linie von der Nase abwärts! Er ist ausgesogen! Pfui! Pfui! Und noch dazu ein Priester!«
Kim blickte auf, zu ermüdet um zu lächeln, und schüttelte verneinend den Kopf.
»Scherze nicht,« sprach der Lama, » die Zeit ist vorüber. Wir sind hier wegen großer Bedrängnis. Eine Krankheit der Seele ergriff mich in den Bergen und ihn eine Krankheit des Leibes. Seit der Zeit habe ich von seiner Kraft gelebt – ich habe ihn aufgegessen.«
»Kinder alle beide – jung wie alt,« schnappte sie, aber machte keinen Scherz weiter. »Möge die Gastfreundschaft hier Euch wieder herstellen. Warte ein wenig; ich will hinunter kommen, wir wollen von den Bergen sprechen.«
Um die Abendzeit – ihr Schwiegersohn war zu Hause und sie brauchte den Hof nicht zu inspizieren – kam sie auf den Grund der Sache, die der Lama ihr mit leiser Stimme erklärte. Die beiden alten Häupter nickten weise gegeneinander. Kim war nach einem Raum, der ein Bett enthielt, getaumelt und warf sich erschöpft nieder. Der Lama hatte verboten, ihm selbst Decken zu breiten oder Speise zu bringen.
»Ich weiß – ich weiß!« plapperte sie. »Wer wüßte es besser als ich? Wir, die wir niedersteigen zu den Feuer-ghats, wir klammern uns an die Hände derjenigen, die heraufsteigen von dem Flusse des Lebens mit vollen Wasserkrügen – ja, bis an den Rand vollen Wasserkrügen. Ich tat dem Knaben Unrecht. Er lieh Dir seine Stärke? Es ist wahr, wir Alten verzehren die Jungen täglich. Es geziemt uns, ihn wieder zu Kräften zu bringen.«
»Du hast schon oft Verdienst erworben –«
» Mein Verdienst? Was ist es? Alter Sack voll Knochen, der Curry-Fleisch kocht für Männer, die nicht fragen: Wer hat es gekocht? Wenn mein Verdienst für meinen Großsohn aufgespeichert werden könnte –« für den, der Leibschmerzen hatte?«
»Zu denken, daß der Heilige das noch weiß! Das muß ich seiner Mutter erzählen. Es ist eine ganz besondere Ehre! Sie wird stolz sein! Ja, der, der Leibschmerzen hatte – der Heilige erinnert sich.«
»Mein Chela ist mir, was ein Sohn den Unerleuchteten.«
»Sag lieber Großsohn. Mütter haben nicht die Weisheit unserer Jahre. Wenn ein Kind schreit, denken sie, der Himmel fällt ein. Eine Großmutter aber ist weit genug entfernt von dem Schmerz des Gebärens wie von dem Vergnügen die Brust zu geben, um genau zu wissen, ob ein Kind aus purer Bosheit schreit oder weil es Blähungen hat. Und da Du gerade wieder von Blähungen redest – es könnte sein, daß ich den Heiligen als er zuletzt hier war, beleidigte, weil ich zu sehr um Zauber quälte –«
»Schwester,« sprach der Lama, die Form der Anrede wählend, die ein buddhistischer Mönch zuweilen gegen eine Nonne anwendet, »wenn Zauber Dich beruhigen können –«
»Sie sind besser als zehntausend Arzte.«
»Ich sage, wenn Zauber Dich