Gesammelte Werke von Rudyard Kipling. Редьярд Киплинг

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Gesammelte Werke von Rudyard Kipling - Редьярд Киплинг


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daß es Euch besser geht. Adieu, mein lieber Kerl, und wenn Ihr einmal wieder aufgeregt seid, bitte, dann braucht nicht mohammedanische Schimpfworte in tibetanischem Kleide.«

      Er schüttelte zweimal Kim die Hände – ein Babu bis zur Fußsohle – und öffnete die Tür. Sobald das Sonnenlicht auf sein noch triumphierendes Gesicht fiel, war er wieder der unterwürfige Quacksalber von Dacca.

      »Er beraubte sie,« dachte Kim, seinen eigenen Anteil an dem Spiel vergessend, »er überlistete sie, er belog sie, wie – ein Bengale. Sie geben ihm ein Zeugnis. Er macht sie zum Gespött, mit Gefahr seines Lebens – ich würde nicht zu ihnen hinunter gegangen sein nach den Pistolenschüssen – und dann nennt er sich einen furchtsamen Mann … ja, ein furchtbarer Mann ist er. Ich muß wieder in die Welt hinaus.«

      Anfangs schwankten seine Beine wie abgenutzte Pfeifenrohre, und die Flut des Sonnenlichtes betäubte ihn. Er hockte bei der weißen Mauer nieder, und seine Gedanken wanderten zwischen den Vorfällen auf der langen Dooli-Reise und den Schwächeanfällen des Lama hin und her, und jetzt, wo der Antrieb zum Gespräch fehlte, überkam ihn das Mitleid mit sich selbst, von dem er, wie so viele Kranke, großen Vorrat hatte. Das geschwächte Gehirn scheute vor der Berührung mit der Außenwelt zurück, wie ein junges, zum erstenmal wund geriebenes Pferd vor dem Sporn. Es war genug, voll genug, daß der Raub aus dem Zelt aus seinen Händen, aus seinem Besitz fort war. Er versuchte, an den Lama zu denken, wie der wohl in den Graben geraten war – aber die ungeheure Größe der Welt, wie sie ihm durch das Hofgitter erschien, zerriß wieder die Gedankenkelle. Dann blickte er auf die Bäume, die weiten Felder, die Hütten, die zwischen den Aehren sich bargen – blickte mit Augen, die unfähig waren, die Gestalt und den Umfang der Dinge zu begreifen, starrte wohl eine halbe Stunde lang. Ihm war, als wäre seine Seele außer Verbindung mit seiner Umgebung, wie ein müßiges, bei Seite geworfenes Zahnrad, außer Verbindung mit der Maschinerie. Die Lüfte wehten über ihm, die Papageien schrieen über ihm, der Lärm des übervollen Hauses hinter ihm – Gezanke, Befehle, Schelle – schlug an taube Ohren.

      »Ich bin Kim. Ich bin Kim. Und was ist Kim?« Seine Seele wiederholte es wieder und wieder.

      Er wollte nicht weinen – war niemals weniger zum Weinen aufgelegt – aber plötzlich tropften dumme Tränen über seine Wange – und mit einem fast vernehmbaren Ticken fühlte er die Schleusen seines Wesens sich neu eröffnen auf die Welt außerhalb. Gegenstände, die einen Augenblick zuvor dem Auge unklar erschienen, nahmen bestimmte Gestalt an. Die Straße war zum Gehen da, die Häuser zum Bewohnen, die Rinder, um getrieben zu werden, Felder zum Pflügen; Männer und Frauen, um mit ihnen zu reden. Alles war wahr und real – fest auf die Füße gestellt, vollkommen verständlich – Art von seiner Art – nicht mehr, nicht weniger. Er schüttelte sich wie ein Hund, dem eine Fliege im Ohr sitzt, und schlenderte aus dem Tor. Sprach die Sahiba, der wachsame Augen diese Neuigkeit überbrachten: »Laßt ihn gehen. Mein Teil habe ich getan. Mutter Erde muß das Übrige tun. Wenn der Heilige zurückkehrt aus Meditationen, meldet es ihm.« Eine halbe Meile entfernt stand vor einem jungen Feigenbaum, auf einem Kleinen Hügel, der einen Aussichtspunkt auf frischgepflügte Flächen bildete, ein leerer Ochsenwagen. Kims Augenlider, in der weichen Luft gebadet, wurden schwer, als er ihm nahe kam. Der Boden war reiner, guter Staub – nicht neues Grün, das lebend schon halb gestorben ist – nein, hoffnungsreicher Staub, der den Samen alles Lebens in sich trägt. Kim fühlte ihn zwischen den Zehen, liebkoste ihn mit den Händen, und Glied für Glied, wollüstig seufzend, streckte er sich in voller Länge aus im Schatten des aus Holz genagelten Karrens. Und Mutter Erde war so treu wie die Sahiba. Die durchhauchte ihn und gab wieder, was er verloren durch langes Liegen im Bett, abgeschlossen von ihren segensreichen Strömungen. Sein Kopf lag hingegeben an ihrer Brust, und seine Hände waren ihren stärkenden Kräften überlassen. Der vielwurzelige Baum über ihm und auch das tote, von Menschenhand zusammengefügte Holz wußte, was er suchte: nur er selbst wußte es nicht. Stunde auf Stunde lag er in tiefstem Schlaf.

      Gegen den Abend, als der Staub heimkehrender Viehherden den Horizont trübte, kam der Lama und Mahbub Ali, vorsichtig auftretend; man hatte ihnen im Hause gesagt, wohin Kim gegangen.

      »Allah! Welcher Narrenstreich, hier im offenen Felde zu liegen,« murmelte der Pferdehändler. »Er hätte hundertmal totgeschossen werden können – aber dies ist allerdings nicht die Grenze.«

      »Und,« sprach der Lama, immer dasselbe wiederholend, »solchen Chela gab es noch nie. Milde, höflich, klug, von verträglichem Gemüt, ein frohes Herz auf der Wanderschaft, nichts vergessend, gelehrt, wahrhaftig und gefällig. Groß ist sein Lohn!«

      »Ich kenne den Knaben – wie ich sagte.«

      »Und besaß er immer alle die Vorzüge?«

      »Einige davon – aber einen Rot-Hut-Zauber, um ihn übermäßig wahrheitsliebend zu machen, habe ich bis jetzt nicht gefunden. Sicher aber ist er hier gut gepflegt worden.«

      »Die Sahiba hat ein Herz von Gold,« sprach ernsthaft der Lama. »Sie betrachtet ihn wie ihren Sohn.«

      »Hmpf! Halb Kind scheint das zu tun. Ich wollte nur nachsehen, ob der Knabe nicht zu Schaden gekommen und sich wieder frei bewegen könnte. Wie Du weißt, waren er und ich alte Freunde in den ersten Tagen unserer gemeinschaftlichen Pilgerfahrt.«

      »Dies ist ein Band zwischen uns.« Der Lama setzte sich nieder. »Wir sind nun am Ende der Pilgerfahrt.«

      »Du hast es Dir nicht zu danken, daß die nicht vor einer Woche kurz und gut zu Ende ging. Ich hörte, was die Sahiba sagte, als wir Dich auf das Lager trugen.« Mahbub lachte und zupfte seinen frisch gefärbten Bart.

      »Ich meditierte über andere Dinge in jener Zeitwelle. Der Hakim von Dacca störte meine Meditationen.«

      »Sonst,« – dies wurde anstandshalber in Pashtu gesagt – »würdest Du Deine Meditationen auf der schwülen Seite der Hölle zu Ende gefühlt haben – denn ein Ungläubiger und ein Götzendiener bist Du, trotz Deiner kindlichen Einfältigkeit. Aber, Rothut, was soll jetzt geschehen?«

      »In dieser selben Nacht,« die Worte kamen langsam, zitternd im Triumph, »in dieser selben Nacht wird er frei werden wie ich es bin, von jeder Spur von Sünde – friedvoll wie ich es bin, wenn er diesen vom Rad der Dinge befreiten Körper verläßt. Ich habe ein Zeichen,« er legte die Sand auf die Zerrissene Karte auf seiner Brust, »daß meine Zeit kurz ist; ihn aber werde ich erlöst haben für alle Zeiten. Erinnere Dich, ich habe Erkenntnis erreicht, wie ich Dir vor nur drei Nächten gesagt.«

      »Es muß wahr sein, was der Tirah-Priester sagte, als ich seines Vetters Weib gestohlen hatte, daß ich ein Sufi (Freidenker) bin, denn hier sitze ich und hege mich in lästerlicher Blasphemie,« sprach Mahbub zu sich selbst … »Ja, ich erinnere mich der Geschichte. Daraufhin geht er dann ein in Jannatu l’Adu (Garten von Eden). Aber wie? Willst Du ihn totschlagen oder ersäufen in dem wunderbaren Fluß, aus dem der Babu Dich herauszog?

      »Ich wurde aus keinem Fluß herausgezogen,« sprach der Lama einfach. »Du vergißt, was geschah. Ich fand den Fluß durch Erkenntnis.«

      »O, ah, wahr!« stotterte Mahbub, halb ärgerlich, halb belustigt, »ich hatte den genauen Hergang vergessen. Du fandest ihn durch Erkenntnis.«

      »Und zu sagen, daß ich Leben nehmen wollte, ist – nicht eine Sünde, sondern einfach Wahnsinn. Mein Chela half mir zu dem Fluß. Es ist sein Recht, von Sünde gereinigt zu werden – mit mir.«

      »Ah, er hat es nötig! Aber nachher, alter Mann – nachher?«

      »Wie, unter allen Himmeln, kommt das in Frage? Nirwana ist ihm sicher – erleuchtet – wie ich es bin.«

      »Gut gesprochen. Ich fürchtete, er würde Mohammeds Roß besteigen und davonfliegen.«

      »Nein – als ein Lehrer muß er gehen.«

      »Aha! Nun sehe ich. Das ist der richtige Gang für das Füllen. Gewiß, er muß als ein Lehrer gehen. Er ist aber zufällig ein bißchen nötig als Schreiber im Staatsdienst.«

      »Auch dazu ist er vorbereitet. Ich erwarb Verdienst durch Almosen-Geben für sein Bestes. Gute Tat stirbt nicht. Er half mir in meiner Suche.


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