Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот

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Gesammelte Werke von Joseph Roth - Йозеф Рот


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Sie lauerte vergeblich.

      Seine Augen schienen schon die Ferne zu sehen, in der er bald verschwinden wollte. So mächtig sein Körper war, so stark sein Schritt, der auch den Teppichen noch einen Widerhall entlockte und den sie hörte, wenn er anfing, den Kies im Garten zu mahlen, so unwirklich ferne und unerkannt blieb ihr Nikolai Brandeis. Manchmal verhüllte er mit dieser riesigen Hand ihre Brust. Eine große, starke Wärme floß von den Fingern in ihren Körper. Er sprach nicht. »Schweig doch nicht so«, bat sie – in einer unbestimmten Hoffnung, daß sie ihn bewegen könnte, auf eine andere Art zu schweigen. Denn daß er einmal reden würde, reden wie jeder andere Mensch, konnte sie niemals erwarten.

      Er machte sie glücklich und unglücklich zu gleicher Zeit, als wären Glück und Unglück, Seligkeit und Verzweiflung untrennbare Zwillinge. Sie wußte nicht mehr, ob er grausam war oder zärtlich und ob ihre eigene Liebe nicht Furcht oder Neugier war. Minutenlang haßte sie seine Fremdheit, sehnte sie sich nach der einfachen, verständlichen menschlichen Roheit Grischas zurück. Immer wieder gab sie sich einen Aufschub, nachdem sie beschlossen hatte, Brandeis zu verlassen und den Grünen Schwan wieder aufzusuchen. Wenn er sich in zwei Wochen nicht ändert, dachte sie, werde ich fliehen. Er änderte sich nicht, und sie blieb. Ihre bescheidene Phantasie, gebildet an den bescheidenen Kenntnissen der Schriftsteller von den Seelen merkwürdiger Menschen, gebot ihr manchmal eines der kleinen Mittelchen, die in Romanen verschrieben werden. Sie begann, die lächerlichen Möglichkeiten zu erörtern. Vielleicht konnte sie ihn eifersüchtig machen? Aus den armseligen Erfahrungen ihres vergangenen Liebeslebens versuchte sie, Rezepte zusammenzustellen, Situationen zu komponieren, die kleinen Tricks einer jahrhundertealten literarischen Tradition wachzurufen, die das Leben so wunderbar fälscht. Aber sie sah in sein Gesicht und erkannte auf einmal, wie lächerlich ihre Bemühungen waren. Alle Gesetze wurden ungültig in seiner Nähe. Er schrie nicht einmal. Niemals erhob er seine Stimme so, daß man sie etwa hätte hören können, wenn man durch eine Tür von ihm getrennt war. Manchmal fühlte man seine Anwesenheit nicht, obwohl man ihn sah. Sein schwerer, großer Körper lastete auf ihr, ihre Zähne bissen seinen mächtigen Hals, ihre Finger zeichneten die steinernen Konturen seiner Schulterblätter nach, in ihren Haaren verlor sich der Atem seines Mundes. So lag sie eingehüllt in seiner Wucht und vergaß für Augenblicke, daß er kein Mann war wie andere. Aber plötzlich zwang sie die Sehnsucht, die Augen aufzuschlagen und verstohlen nach oben zu schielen. Und ihr Blick stahl erschrocken das Weiß seiner offenen Augen. Wohin blickte Brandeis? Was suchte er an der nächtlichen Wand über ihren Haaren? Konnte sein Auge die Wände durchbohren? Sah er den Horizont seiner Heimat? In diesen Minuten entbrannte in ihr ein kleiner, aber tödlicher Haß. Sie hätte ihn stechen mögen, um zu sehen, ob er sterblich war.

      Sie lebte gefangen im Haus. Er schickte ihr Schneider und Kaufleute, aber nicht einen einzigen Gast. Er wollte keine Menschen sehn. Die Menschen waren wie Häuser und Waren. Er handelte mit ihnen, während des Tages, in seinem Büro. Sie war jung, sie zählte ihre Jahre. Zweiundzwanzig. Sie warf ihm diese geringe Zahl vor, als wäre ihre Jugend seine Schuld. Einmal sah er sie weinen. Er verstand. Aber er saß, ungeschickt und mächtig, vor dem kleinen Jammer einer kleinen Frau. Er fürchtete sich vor seinem eigenen Mitleid. Er haßte die Zärtlichkeiten, die der Trost befahl. Er war nicht imstande, ein Elend zu messen an dem Menschen, der es im Augenblick empfand. Er konnte niemals verstehn, daß die geringen Ursachen, die einen Schmerz erzeugen, weder den Umfang noch die Tiefe des Schmerzes bestimmen. Er maß das Unglück Lydias an dem absoluten Unglück der Welt. Er sah gleichgültig zu, wie sie weinte. Zum erstenmal weinte sie vor einem gleichgültigen Mann. Es war die erste Demütigung, die sie zu erleiden sich einbildete. Ihr kleines Gehirn sann auf Rache. Sie begann, Launen zu zeigen. Sie versuchte sich in der Ausübung einer engen Despotie. Sie überraschte Brandeis mit unerwarteten Wünschen. Sie wollte Menschen sehn. Er ging eines Abends mit ihr ins Theater. Schweigsam, nicht ohne Bitterkeit. Er haßte schon das Foyer. Er hatte Angst vor dem ersten Akt, er erwartete das Spiel wie eine Katastrophe. Die Experimente der Regisseure aus den ersten Jahren nach dem Krieg waren milder geworden, der Radikalismus der Dramaturgie begann, Konzessionen an die Nerven des Publikums zu machen. Brandeis vertauschte die Angst gegen eine weit gefährlichere Langeweile. Ein paarmal hatte er sich mit Lydia in den Logen der Theater gezeigt, auf einem Ball, in einem Konzert. Dann hatte er aufgehört, sich um die traditionellen gesellschaftlichen Veranstaltungen zu kümmern, die eine neue Zeit fortsetzte, ohne eine Gesellschaft. Es war ihm nur notwendig erschienen, sich in Abständen von einigen Monaten zu überzeugen, daß er für Vorgänge auf Podien und Bühnen jedes Interesse verloren hatte. An diesem Abend war seine Gleichgültigkeit so groß, daß er das Publikum zu betrachten anfing. Er stellte fest, daß ihn mehr Leute kannten, als er angenommen hatte. Seine Anonymität war gefährdet. Die Menschen halten es nicht aus, dachte er, ohne Heilige und Teufel zu leben. Sie haben gefunden, daß ich unheimlich bin. Ich habe es satt, diesen Dummköpfen als eine Art Dämon aus dem Osten zu erscheinen. Diese Rolle mögen die reichen Juden aus Kischinew, Odessa und Riga spielen, die nichts anderes wünschen, als in Berlin geboren zu sein. Wie er sie so sah, Gesicht an Gesicht, Physiognomien, die aus Glatzen entstanden zu sein schienen, von Friseuren modelliert, als hätten diese nicht nur Haare, Bärte und Bartlosigkeit herzustellen, sondern auch Nasen, Stirnen und Münder – begann er zum erstenmal zu begreifen, daß ihn eine einzige Leidenschaft getrieben hatte, Geld zu machen, eine einzige Leidenschaft, die stärker sein kann als alle ihre Schwestern: die Verachtung. Man kann von ihr ergriffen werden wie von der Liebe, vom Spiel und vom Haß. Man kann eine »tödliche Verachtung« fühlen. Es hatte dieser belichteten Reihen dichtgesäter Gesichter bedurft, damit Brandeis sich seiner Leidenschaft bewußt werde, ebenso wie man sich beim Anblick eines Menschen seiner Liebe bewußt werden kann. So viele, die er nicht kannte, grüßten ihn. Sie wußten, daß er sie nicht kannte. Dennoch lächelten sie ihm zu, beschworen ihn, ihnen zu erwidern. Sie hatten die zudringliche Untertänigkeit der Leute, die für wohltätige und öffentliche Zwecke Geld sammeln. Sie strecken die Hände aus und haben Angst, man könnte sie mit Bettlern verwechseln. Da war die Pause. Sie gingen im Kreis in einem Wartezimmer auf glattgebohnertem Parkett und fürchteten auszugleiten. Zwischen der Unsicherheit ihrer Füße, die in den neuen Stiefeln mit allzu glatten Sohlen steckten, und dem Gefühl der Vornehmheit, das sie vom Namen des Staatstheaters, von der Livree der Platzanweiser und von ihren eigenen Smokings bezogen, bestand noch ein leerer Raum, den ihre Körper vergeblich auszufüllen suchten. Die Leiber verschwanden zwischen den festlichen Gesichtern und den gleitenden Füßen. Wie ein kreisender Rahmen schwankten sie um das leer gebliebene, spiegelnde Oval der Parkettmitte, das niemand zu betreten wagte aus Angst, allein zu sein. Brandeis erinnerte sich an jenen Sonntag, an dem er den politischen Umzug auf dem Kurfürstendamm betrachtet hatte. Auch damals hatten sie die Mitte frei gelassen. Mit denselben Gesichtern umschritten sie die Pause im Theater. Die Windjacken lagen in der Garderobe. Verwandelt waren nur die Arme. Sie schlenkerten nicht. Sie hingen wie schwarze Prothesen am Smoking. Von den Abendkleidern der Damen, welche die Schönheitspflege manifestierten, fiel sachte ein bunter Widerschein auf die weißen Gesichter der Männer, das Farbenspiel eines gesellschaftlich gehobenen Geschlechtsverkehrs. Jeder fühlte, daß er einer Premiere beiwohnte. Jeder war froh, daß ihr auch der andere beiwohnte. Denn erst zusammen ergaben sie das bunte Bild für den Vorbericht des Theaterreferenten.

      Brandeis vermißte hier seinen jüngsten Direktor, Paul Bernheim, und dessen Bruder Theodor. Das ganze bunte Bild wäre von Paul und seiner jungen Frau nach Brandeis’ Meinung noch heftiger belebt worden. Von anderen Bekannten war nur der Theaterkritiker des demokratischen Blattes zu sehn, das von Brandeis abhängig war. Aber der Kritiker kannte seinen Brotgeber kaum, nur Handelsredakteure wissen Bescheid. Die Beschäftigung mit der Kunst macht die Menschen harmlos. Bernheim ging vielleicht gar nicht zu Premieren, Bernheims gesellschaftliche Stellung erlaubte es vielleicht gar nicht mehr. Ich werde ihn einladen, dachte Brandeis. Ich werde ihn mit Lydia bekannt machen. Hoffentlich verliebt er sich.

      Die junge Frau Bernheim war für zwei Wochen zu ihrem Onkel Enders gefahren. Eine kleine Familienfeier, nichts von Bedeutung, Paul Bernheim hatte sich mit einem eintägigen Besuch begnügt. Zum erstenmal betrat er Brandeis’ Haus. Zum erstenmal sah er die Frau, mit der Brandeis lebte. Er kam, erfüllt von den Gerüchten, die von der kaukasischen Fürstin verbreitet wurden und an die er glaubte. Denn es ist in einer Zeit, in der die Wahrheiten selten werden, nichts so glaubhaft wie ein Gerücht; und je billiger und abenteuerlicher es klingt, desto bereitwilliger empfängt


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