Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот
Читать онлайн книгу.es eines Kaufmannes unwürdig sei, nicht zuerst nach dem Börsenteil zu sehn, aber es war stärker als er, es zwang ihn, nach Kunstbesprechungen zu suchen, nach Theaterreferaten, nach Familientragödien. Der Tag brachte lauter Unglück, also stand auch ein Aufsatz seines Bruders Theodor in der Zeitung, ein Aufsatz über eine Ausstellung von Büchereinbänden, aber auch über Deutschland, Europa, die gelbe Gefahr und Indien. Denn Theodor konnte keine Gelegenheit versäumen. Er mußte immer eine Meinung äußern, und eine Menge sinnloser, aber schlagender Formulierungen standen ihm zur Verfügung. Er hatte sie erlauscht, ihre akustischen Bestandteile aneinandergefügt, zerhackt, umgelegt und mit Tendenzen gefüttert, die aus dem völkischen Gedanken, aus dem Marxismus und von Stirner kamen. Paul machte sich die Mühe aufzustehn, wieder an den Kamin zu gehn und die Zeitung ins Feuer zu werfen. Er gehörte zu den empfindlichen Menschen, die etwas aus der Welt zu schaffen glauben, wenn sie es aus ihrem Blickfeld räumen.
Immer noch sangen die Neger. Das Feuer im Kamin erlosch langsam. Paul Bernheim zündete kein Licht an. Er schlief im bunten Lehnstuhl ein, dessen große, gelbe Blumen giftig die Finsternis durchbrachen.
XIX
Theodor legte den Smoking an. Sein Angesicht strahlte ihm in festlicher Fahlheit aus dem Spiegel entgegen. Mit einer Taschenschere versuchte er nach einigen Härchen zu schnappen, die an verschiedenen Stellen seiner Ohrmuscheln wuchsen. Alle Sanftmut und Geduld, die ihm zur Verfügung standen, konnte er aufbringen, wenn es sich um sein Aussehn handelte. Noch einmal warf er einen Blick auf seine langen Hände, auf die er stolz war und aus deren Form er auf sein aristokratisches Wesen schloß. Jetzt schlüpfte er in den Rock, zog an den Klappen und drehte alle Lichter auf. Probebeleuchtung. Er suchte nach dem Spiegelbild seines Profils, indem er die Spiegeltür des Kleiderkastens so drehte, daß sie in einem schiefen Winkel zum großen Wandspiegel stand. Dann nahm er die Brille ab und dachte einen Augenblick an gar nichts mehr, als wären seine Gedanken abgestorben, aus Mangel an visueller Nahrung. Durch die geschlossene Tür des Nebenzimmers klang das Klappern einer Schreibmaschine. Eine Sekretärin war beschäftigt, einen Artikel Theodors abzuschreiben. Er lauschte dem hastigen Rhythmus der Tasten wie einer angenehmen Musik. »Jetzt ist sie auf der dritten Seite, dort, wo ich von der Ohnmacht der Nächte in deutschen Großstädten spreche. Ohnmacht der Nächte ist gut, tadellos, großartig.« Dann hatte die Sekretärin noch Briefe zu erledigen. »Die Korrespondenz«, sagte Theodor. Wenn die Post ihm viele Briefe brachte, fühlte er sich dem Mittelpunkt der Welt näher rücken. Wenn er eine Zuschrift auf einen seiner Artikel bekam, übergab er sie sofort der Redaktion, damit sie die Wirksamkeit ihres Mitarbeiters richtig einschätzen lerne. Außerdem zeigte er sie seinen Freunden und besonders jenen, die sich darüber ärgern konnten. Er beantwortete alles. Er bewarb sich um Einladungen zu Festen, Ausstellungen, Konferenzen, in die Salonimitationen der Bankdirektoren, eines Generals, eines Ministers. Am nächsten Tag erzählte er von seinen Diskussionen. Er beabsichtige, den »Kerlen« einen neuen Typus eines »jungen Deutschen« zu zeigen, einen nüchternen, trotzdem patriotischen, aristokratisch erzogenen, trotzdem revolutionären, einen diplomatisch denkenden und dennoch freimütig redenden. Dabei zitterte er unaufhörlich aus Angst, zuviel gesagt zu haben. Mit ganz bestimmten »Kerlen« wollte er es sich nicht verderben, obwohl sie ihm nicht gefielen. Zu ihnen gehörten seine Verleger, die Herausgeber von Zeitschriften, ein Redakteur, der Theodors Artikel zu behandeln hatte. Schrieb dieser Redakteur einmal selbst einen Artikel, so bekam er prompt einen telephonischen Anruf von Theodor: »Gratuliere! Ausgezeichnet!« Seinen Freunden sagt er dann: »Habt ihr den Artikel gelesen? Der schreibt ja ganz gut, der Kerl, aber naiv, naiv. Er sieht eben die Welt nicht!«
Jetzt erstarb das Klappern. Die Sekretärin klopfte. Obwohl Theodor es nicht für vornehm hielt, private Beziehungen zu einer Sekretärin herzustellen, und er in ihr nur »Personal« sah, aber keine Frau, warf er doch noch zwei glättende Finger auf seine gescheitelten Haare, bevor er »Herein!« rief. Er setzte sich an den Tisch, um das Manuskript zu lesen. Die Sekretärin stand neben ihm. Er kam an die Stelle von der Ohnmacht der Nächte, warf schnell seinen Kopf zu ihr herum und sagte: »Gut! Was?« Gleich darauf ärgerte er sich. Er konnte niemals die richtige Mitte finden zwischen dem Verlangen, eine Anerkennung zu hören, und der Notwendigkeit, Personal in respektvoller Entfernung zu halten. Manchmal vergaß er sich so weit, der Sekretärin einen Artikel vorzulesen, der sehr aktuell war und den auf der Maschine abzuschreiben sie keine Zeit mehr fand. Das arme Mädchen, das jeden Tag von acht bis vier Geschäftsbriefe schrieb, fühlte ihre Tätigkeit bei Theodor wie ein tägliches Bad in Witz und Esprit. Sie bewunderte ihn. Sie las die Bücher, die er zur Besprechung bekam, nach den Hinweisen, die seine Referate enthielten. Wenn Theodor ihre Bewunderung sah, verringerte er die Respektsdistanz um einige Zentimeter durch die Frage: »Sie sind schon müde? Gut! Dann arbeiten wir heute weniger!« Er steckte das Manuskript in einen Umschlag und schrieb »Eilt« darauf, obwohl es gar nicht eilte. Er liebte, den langsamen Dingen einen Stoß zu geben, damit sie sich hasteten. Was nicht eilte, war nicht wichtig. Tempo, Tempo. Aus Geringschätzung für den normalen Lauf der Stunden hielt er die Zeiger seiner Taschenuhr vorgeschoben. Er warf jetzt einen Blick auf sie. Und obwohl er noch eine Stunde Zeit hatte, sagte er: »So, jetzt hab’ ich keine Zeit mehr. Sie können gehen!« Die Sekretärin ging. Er setzte sich, drehte die Kurbel des Grammophons und ergab sich dem Gesang der Platte von den Brüdern King aus Wilmington. Die Musik der Neger brachte ihn in Stimmung. Er ging heute in Gesellschaft, und er gedachte, es den »Kerlen« zu zeigen. Er ging heute zu keinem andern als zu seinem Bruder Paul.
Ja, im Hause Paul Bernheims erwartete man einen Gast aus Frankreich. Es war einer von den Schriftstellern, die nach dem Kriege anfingen, die Beziehungen zwischen den Völkern herzustellen, literarische Friedenstauben. Die Steuern, die sie von ihren Honoraren dem Vaterland zahlten, verwendete der Kriegsminister für einen zukünftigen Krieg. Der Unterrichtsminister hingegen rüstete gleichzeitig die Schriftsteller mit Empfehlungen für die deutsche Botschaft in Paris aus. Verschiedene Verständigungs-, Kultur-und Versöhnungsvereine luden die Autoren übersetzter Bücher ein, Vorträge zu halten. Die Schriftsteller kamen, hielten einen Vortrag, wurden in die Häuser eingeladen, bekamen Trüffeln und studierten mit Wohlwollen die Sitten und Gebräuche der früheren Feinde. Sie machten Notizen für spätere Artikelserien über deutsche Dichter, deutsche Generaldirektoren, deutsche Revolutionäre. Von deutschen Professoren der Romanistik wie von Schutzengeln begleitet, gelangten sie in die Häuser der Wohlhabenden und der Reichen, der Gebildeten und europäisch Denkenden, der Industriellen, die in der Fabrik Giftgase erzeugten und zu Hause Keyserling lasen.
Der Gast war noch nicht vorhanden. Der Professor Hamerling war früher gekommen und glaubte die lautlosen Vorwürfe zu vernehmen, die sich im Innern Paul Bernheims vorbereiteten. Die Frage der Frau Irmgard: »Kennt er sich auch aus in Berlin, Herr Professor? Haben Sie ihm auch die Adresse richtig gesagt, Herr Professor? Hat er nicht zufällig die Einladungen verwechselt, Herr Professor?« empfand der Professor Hamerling bereits als Anklagen. Einer nach dem andern kamen die Gäste. Die Beleuchtung der Zimmer schien immer stärker zu werden von dem friedlichen Licht, das jeder vor sich her trug wie eine Laterne. Sie nickten mit den Köpfen, überhörten die Namen der Vorgestellten und sahen geradeaus in deren Gesichter – nicht mit den Augen, sondern mit entblößten Zähnen. Man fühlte sich gehoben im Hause Paul Bernheims, das zu den modernsten der Stadt gehörte. »Alles comme il faut«, sagten die Leute, die für gesellschaftliche Dinge technische Ausdrücke in französischer Sprache gebrauchen, so wie man bei ärztlichen Konsilien Latein redet. Paul Bernheim lud »comme il faut«-Leute aus allen Lagern ein. Es kam Herr von Marlow mit junkerlichem Einschlag samt Gattin, ein Mann, der von den Deutschnationalen zur Volkspartei übergegangen war, seitdem er in Berlin wohnte und seine schlesischen Güter verpachtet hatte. Der städtische Asphalt schien ihn immer liberaler zu machen. Das Ideal der Vornehmheit, das früher darin bestanden hatte, möglichst national zu sein, erforderte heute eine möglichst europäische Gesinnung. Auf Umwegen – und so, daß es nur seine nächsten Angehörigen wußten – schickte Herr von Marlow jedes Jahr zum Geburtstag des Kaisers seine untertänigsten Wünsche nach Doorn. Aber es waren nicht die Manifestationen einer Gesinnung, sondern eher die Gewohnheit an einen Ritus, eine religiöse Privatangelegenheit, so wie die Juden in Berlin, die längst