Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот
Читать онлайн книгу.Frauen war nichts dagegen einzuwenden. Die Kameradschaft war ihr heilig. Da Tunda als Mann nicht mehr in Betracht kam, erübrigte es sich auch, ihn zu verachten. Er war nur mehr beinahe ein gleichgestellter Genosse. Wie eifrig bemühte sie sich, ihm zu helfen! Mit welchem Ernst bemühte sie sich, mit ihm zu diskutieren. Tunda aber sah sie, wenn er nahe vor ihr stand, wie in einem blassen Spiegel. Er kam zu ihr, wie man in eine Ortschaft kommt, in der man einmal jung gewesen ist. Sie war nicht mehr sie selbst, sie war gleichsam nur der Ort ihres eignen früheren Lebens. Hier hatte Natascha gelebt, sagte sich Tunda, wenn er sie anblickte. Sie trug einen blauen Kittel, sie erinnerte an eine Pflegerin, eine Aufseherin, eine Schaffnerin, nur nicht an eine Geliebte und nicht mehr an einen Soldaten der Revolution. Von ihr ging, obwohl sie der Liebe bedürftig war und von der Liebe schon verwüstet, dennoch eine Art Keuschheit aus, eine unbegreifliche Art trockener Keuschheit, die verlassenen Mädchen ebenso eigen ist wie den Frauen, die mit Vernunft und aus Prinzip die Liebe ausüben. Sie wohnte in einem schmalen, mangelhaft beleuchteten Hotelzimmer. Zwischen einem Sessel, auf dem zerfranste Broschüren lagen, und dem Bett, auf dem sie für die sexuelle Gleichberechtigung wirkte, stand sie wie auf einer Kommandobrücke oder wie auf einem Rednerpodium, die Haare weit aus der Stirn gekämmt, sie preßte die Lippen zusammen, sie standen nicht mehr halb offen wie einst, als sie noch Tunda geküßt hatten.
Tunda sagte ihr:
»Ich kann dich nicht mehr Vorträge halten hören, hör auf! Ich erinnere mich, wie ich dich geliebt und bewundert habe. Ich war sehr stolz auf dich! Im Krieg war deine Sprache frisch, deine Lippen waren frisch, wir lagen im nächtlichen Wald, eine halbe Stunde vom Tod entfernt, unsere Liebe war größer als die Gefahr. Ich hätte nie geglaubt, daß ich so schnell lernen könnte. Du warst immer größer und stärker als ich, plötzlich bist du kleiner und schwächer geworden. Du bist sehr arm, Natascha! Du kannst nicht ohne den Krieg leben. Du bist schön in den Nächten, in denen es brennt.«
»Deine bürgerlichen Vorstellungen wirst du niemals los«, sagte Natascha. »Was du dir für Bilder von einer Frau machst! In brennenden Nächten! Wie romantisch! Ich bin ein Mensch wie du, mit einem zufällig anderen Geschlecht. Es ist viel wichtiger, ein Krankenhaus zu leiten, als in brennenden Nächten zu lieben. Wir haben uns niemals verstanden, Genosse Tunda. Daß wir uns, wie du sagst, geliebt haben, gibt dir heute kein Recht, über meine Veränderung feige zu weinen. Geh lieber hin und melde dich zum Eintritt in die Partei. Ich habe keine Zeit mehr! Ich erwarte Anna Nikolajewna, wir müssen einen Bericht machen.«
Das war Tundas letzte Begegnung mit Natascha.
Sie holte einen Spiegel aus ihrer Aktentasche und betrachtete ihr Gesicht. Sie sah zwei Tränen aus ihren Augen rinnen, langsam und in gleichem Tempo bis zu den Mundwinkeln. Sie wunderte sich, daß ihre Augen weinten, obwohl sie selbst nichts fühlte. Sie sah im Spiegel eine fremde Frau weinen. Erst als Anna Nikolajewna eintrat, wollte sie mit der Hand ihr Gesicht trocknen. Sie besann sich schnell. Es war klüger, Tränen nicht zu verbergen. Sie hielt ihr nasses Angesicht Anna entgegen, wie eine Drohung oder wie ein Schild oder wie ein stolzes Geständnis.
»Warum weinst du?« fragte Anna.
»Ich weine, weil alles so nutzlos ist, so vergebens«, sagte Natascha, als klagte sie etwas ganz Allgemeines an, was Anna Nikolajewna niemals verstehen konnte.
VII
Ich habe schon erzählt, daß jenes stille Mädchen aus dem Kaukasus, Alja genannt, Nichte des stumpfsinnigen Töpfers, Tunda gefiel. Von allen Handlungen und Erlebnissen Tundas, der mir manchmal merkwürdig erscheint, ist mir sein Verhältnis zu Alja am verständlichsten. Sie lebte inmitten der Revolution, der historischen und der privaten Wirrnisse, wie die Abgesandte einer anderen Welt, Vertreterin einer unbekannten Macht, kühl und neugierig, vielleicht der Liebe ebensowenig fähig wie der Klugheit, der Dummheit, der Güte, der Schlechtigkeit, aller irdischen Eigenschaften, aus denen sich ein Charakter zusammensetzen soll. Welch ein Zufall, daß sie ein menschliches Gesicht und einen menschlichen Körper hatte! Sie verriet keinerlei Art von Erregung, von Freude, Ärger, Trauer. Statt zu lachen, zeigte sie ihre Zähne, zwei weiße, fest aufeinanderschließende Reihen, ein schöner Kerker für alle Töne der Kehle. Statt zu weinen – sie weinte selten –, ließ sie aus weit offenen Augen, über ein freundlich gleichmütiges, fast lächelndes Angesicht ein paar große helle Tränen fließen, von denen man auf keinen Fall glauben konnte, sie schmeckten nach Salz wie alle vulgären Tränen der Welt. Statt einen Wunsch zu äußern, deutete sie mit den Augen nach dem Gegenstand, den sie wünschte, es schien, als könnte sie nichts ersehnen, was außerhalb ihres Gesichtsfeldes gelegen war. Statt etwas abzulehnen oder abzuwehren, schüttelte sie den Kopf. Nur wenn vor ihr im Kino jemand die Aussicht auf die Leinwand verhinderte, zeigte sie Zeichen stärkerer Unruhe. Die Fläche der Leinwand war ihr ohnehin zu klein, sie mußte jedes Detail sehen, ja, wahrscheinlich interessierte sie die Kleidung der handelnden Personen oder der gleichgültige Gegenstand einer Zimmereinrichtung mehr als das Drama und eine Katastrophe.
Ich beschränke mich bei der Beschreibung Aljas nur auf Vermutungen. Auch Tunda kannte nicht viel mehr von ihr, obwohl er beinahe ein Jahr mit ihr zusammenlebte. Daß er zu ihr kam, erscheint mir, wie schon gesagt, selbstverständlich. Ach, er gehörte nicht zu den sogenannten »aktiven Naturen«. (Es wäre allerdings ebenso falsch, von seiner »Passivität« zu sprechen.) Alja empfing ihn wie ein stilles Zimmer. Abgeschlossen von jeder Lust, sich anzustrengen, zu kämpfen, sich zu ereifern oder auch nur sich zu ärgern, lebte er auf einem abseitigen Weg. Er brauchte nicht einmal verliebt zu sein. Auch die kleine häusliche Strategie blieb ihm erspart. Alja half ihrem Onkel, dem Töpfer, bei Tag. Wenn der Abend anbrach, schlief sie bei ihrem Mann. Es gibt kein gesünderes Leben.
Inzwischen bekam Tunda einen Stellvertreter. Er selbst ging mit seiner Frau nach Baku. Er sollte Filmaufnahmen für ein wissenschaftliches Institut machen.
Es schien ihm, daß er den wichtigsten Teil des Lebens hinter sich habe. Es war nicht mehr an der Zeit, sich Erwartungen hinzugeben. Er hatte das dreißigste Jahr überschritten. Er ging am Abend an das Meer und hörte die traurige dünne Musik der Türken. Er schrieb jede Woche seinem sibirischen Freund Baranowicz. Im Laufe der Zeit, in der sie sich nicht sahen, wurde Baranowicz wirklich sein Bruder. Der Name Tundas war nicht falsch, Tunda war wirklich Franz Baranowicz, Bürger der Sowjetstaaten, zufriedener Beamter, verheiratet mit einer schweigsamen Frau, wohnhaft in Baku. Vielleicht kamen zu ihm seine Heimat und sein früheres Leben manchmal im Traum.
VIII
Jeden Abend konnte man im Hafen von Baku abseits von einer heiteren, buntgekleideten, lärmenden Menge einen Mann sehen, der in jeder anderen Stadt die Aufmerksamkeit einiger Menschen erregt hätte, hier aber unbemerkt und in eine starke und undurchsichtige Einsamkeit gehüllt blieb. Manchmal setzte er sich auf die niedrige steinerne Mauer, welche die See einfaßte, als wäre sie ein Garten, seine Füße hingen über dem Kaspischen Meer, und seine Augen hatten kein Ziel. Nur wenn ein Schiff landete, geriet er in eine sichtbare Erregung. Er drängte sich durch die dichten Scharen der Wartenden und betrachtete die aussteigenden Passagiere. Man hätte glauben können, daß er jemanden erwartete. Aber sobald alles vorbei war, die türkischen Lastträger wieder an den weißen Mauern lehnten oder in Gruppen Karten spielten, die leeren Phaetons langsam, die besetzten in einem feurigen und fröhlichen Tempo davongerollt waren, kehrte der einsame Mann offensichtlich zufrieden heim, nicht mit dem Ausdruck der Verlegenheit, die uns befällt, wenn wir jemanden vergeblich erwartet haben und allein zurückgehen müssen.
Wenn in Baku Schiffe ankommen, seltene, nur russische, aus Astrachan, herrscht Aufregung im Hafen. Die Menschen wissen, daß kein fremder Dampfer ankommen wird, kein englischer, kein amerikanischer. Aber aus der Ferne, wenn man den Rauch sieht, tun die Menschen so, als wüßten sie nicht, ob das Schiff nicht zufällig doch ein fremdes ist. Denn über allen Dampfern wehen die gleichen blauweißen Rauchfahnen. Auch wenn keine Dampfer ankommen,