Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот
Читать онлайн книгу.Dächer fegt, über die gelbe Landschaft ohne Vegetation, der Fenster, Stukkaturen, Steingeröll mit sich trägt und in dem selbst die Bohrtürme zu schwanken scheinen – in diesem Lande Stellvertreter der Bäume.
Tunda ging zum Hafen, wenn die Schiffe ankamen. Obwohl er wußte, daß es nur die alten heimischen Pendeldampfer waren, die einheimische Beamte und seltene fremde Kaviarhändler bringen konnten, stellte er sich doch immer wieder vor, die Schiffe kämen von irgendwelchen fremden Meeren. Schiffe sind die einzigen Fahrzeuge, denen man jede abenteuerliche Fahrt zutraut. Es müssen nicht einmal Dampfer sein. Jedes gewöhnliche Boot, jedes gemächliche Floß, jeder klägliche Fischerkahn kann das Wasser aller Meere gekostet haben. Für den Menschen, der an einem Ufer steht, sind alle Wasser gleich. Jede kleine Welle ist eine Schwester der großen und gefährlichen.
Ach, er war entschlossen gewesen, nichts Überraschendes mehr zu erwarten. Die Schweigsamkeit seiner Frau dämpfte das Geräusch der Welt und mäßigte den Lauf der Stunden. Dennoch floh er aus seinem Hause, er ging zum Hafen, und der Geruch dieses kleinen Meeres beunruhigte ihn heftig. Er kehrte wieder heim, sah Alja unbewegt am Fenster sitzen und die leere Straße betrachten. Sie wandte kaum den Kopf, wenn er kam, und wenn ein Geräusch im Zimmer entstand, lächelte sie, als wäre ihr etwas Heiteres begegnet.
In diesen Tagen begann Tunda, alle unbedeutenden Ereignisse niederzuschreiben, es war, als bekämen sie dadurch eine gewisse Bedeutung.
Eines Tages schrieb er:
IX
Auszug aus Tundas Tagebuch
»Gestern, um halb elf Uhr abends, lief mit einer Verspätung von drei Stunden der Dampfer ›Grashdanin‹ ein. Ich stand, wie immer, am Hafen und sah das Gedränge der Träger. Es kamen viele auffallend gutgekleidete Menschen, Passagiere der ersten Klasse. Es waren, wie gewöhnlich, russische NEP-Leute und einige auswärtige Händler. Seitdem ich dieses Tagebuch schreibe, interessieren mich die Ausländer besonders. Früher habe ich sie gar nicht beachtet. Die meisten kommen aus Deutschland. Wenige aus Amerika, einige aus Österreich und aus den Balkanländern. Ich unterscheide sie gut, manche kommen zu mir ins Institut, um Auskünfte zu holen. (In unserm Institut bin ich der einzige, der deutsch und französisch sprechen kann.) Ich gehe zum Hafen, schätze die Nationalität der Fremden ab und freue mich, wenn ich sie erraten habe. Ich weiß eigentlich nicht, woran ich sie erkenne. Ich wäre in Verlegenheit, wenn ich die nationalen Merkmale aufzuzählen hätte. Vielleicht ist es die Kleidung, nach der ich sie agnosziere. Da sind es auch nicht einzelne Kleidungsstücke, sondern die ganze Haltung. Manchmal könnte man Deutsche mit Engländern verwechseln, besonders, wenn es sich um ältere Menschen handelt. Deutsche und Engländer haben manchmal dieselbe rote Gesichtsfarbe. Aber die Deutschen haben Glatzen, die Engländer meist dichte weiße Haare, so daß ihre Gesichtsröte tiefdunkel erscheint. Ihr silbernes Haar ist nicht imstande, Ehrfurcht in mir zu erwecken. Im Gegenteil scheint es manchmal, als wären die Engländer aus Koketterie alt und grau geworden. Ihre Frische hat etwas Widernatürliches und, ich weiß nicht, ob man es sagen kann: Gottloses. Sie sehen so unnatürlich aus wie Bucklige in Geradehaltern. Sie gehen herum wie zur Reklame für Turngeräte und Tennis-Rackets, die ein jugendliches Greisenalter garantieren.
Dagegen sehen manche ältere Herren vom Kontinent so aus, als hätten sie eine Reklame für Büromöbel und gute Sessel zu besorgen. Von den Hüften abwärts werden sie breit, ihre beiden Knie stoßen gegeneinander, auch die Arme sind dem Oberkörper so nahe, als lägen sie auf weichen breiten, ledernen Stuhllehnen.
Gestern kamen drei Europäer an, von denen ich im ersten Augenblick nicht wußte, aus welchem Lande sie stammen konnten. Es waren eine Dame, ein älterer kleiner breitschulteriger Mann mit braunem Gesicht und schwarzgrauem Bart, ein jüngerer Mann, braun, mittelgroß, mit hellen Augen, die in seinem tiefbraunen Gesicht fast weiß waren, einem sehr schmalen Mund und auffallend langen Beinen in weißen Leinenhosen, in denen die Kniegelenke eingehüllt waren wie in einer zweiten oberen Haut.
Der kleine bärtige Mann erinnerte ein wenig an die Zwerge aus buntem Stein und Gips, die in manchen Gärten in der Mitte der Beete stehen. Auch an diesem Herrn beleidigte mich die Gesundheit, das übermütig gebräunte Gesicht in der bärtigen Umrahmung. Er ging mit schnellen kurzen Schritten neben dem langbeinigen Mann und der großen Dame, er hüpfte fast neben ihnen. Es sah eigentlich aus, als würde er wie ein Tier von der Dame an einer dünnen Leine geführt. Er machte lebhafte Bewegungen, einmal warf er seinen weichen hellen Hut in die Luft, knapp bevor sie in den Phaeton einstiegen. Zwei Träger folgten ihnen mit Koffern.
Ich denke mir, daß die Bewegungen des Bärtigen zu Hause langsam und genau berechnet sind. Auf Reisen ist er lebhaft. Der Lärm war groß, auch sprachen sie leise, so daß ich nichts hörte, obwohl ich mich bis zu ihnen vordrängte.
Die Frau in der Mitte war die erste elegante Dame, die ich seit meiner Rückkehr aus dem letzten Wiener Urlaub gesehen habe.
Heute früh kamen sie zu mir.
Es sind Franzosen. Der Herr ist ein Pariser Rechtsanwalt, er schreibt nebenbei für den ›Temps‹. Die Dame ist seine Frau, der junge Mann sein Sekretär. Der junge Mann ist einer der wenigen Franzosen, die Russisch verstehen. Deshalb und wahrscheinlich der Dame wegen ist er auch nach Rußland gekommen.
Als mich die Dame ansah, fiel mir Irene ein, an die ich schon lange nicht gedacht hatte. Nicht als ob diese Dame meiner Braut ähnlich wäre!
Sie ist schwarz, sehr schwarz, ihr Haar ist fast blau. Ihre Augen sind schmal, sie schaut mich mit einer vornehmen Kurzsichtigkeit an. Es sieht aus, als paßte es ihr nicht, mich offen und gerade anzusehen. Ich erwarte, wenn sie zu mir spricht, immer irgendeinen Befehl. Aber es fällt ihr gar nicht ein, mir zu befehlen. Wahrscheinlich wäre ich sehr glücklich, wenn sie geruhen würde, mir einen Auftrag zu geben.
Sie trommelt manchmal mit Zeige-, Mittel-und Ringfinger einer Hand auf ein Buch, eine Stuhllehne, den Tisch. Es ist ein langsames Trommeln und eine Art schnelles Streicheln. Ihre Nägel sind schmal und weiß, blutleere Nägel, ihre Lippen sind, als wär’s ein absichtlicher Kontrast, sehr rot geschminkt.
Sie trägt schmale graue Schuhe aus dünnem Handschuhleder, ihre Zehen sind lang, man sieht sie unter dem Leder, ich möchte sie mit einem Bleistift nachzeichnen.
Der Sekretär – nach seiner Karte heißt er Monsieur Edmond de V. – sagte mir:
›Sie sprechen nicht französisch wie ein Slawe. Sind Sie Kaukasier oder Russe?‹
Ich log. Ich erzählte ihm, daß meine Eltern Eingewanderte wären und ich in Rußland geboren sei.
›Wir fahren jetzt‹, sagte Monsieur de V., ›nun drei Monate durch Rußland. Wir waren in Leningrad, in Moskau, in Nishnij Nowgorod, auf der Wolga, in Astrachan. Man weiß bei uns in Frankreich sehr wenig von Sowjetrußland. Bei uns stellt man sich ein russisches Chaos vor. Wir sind überrascht von der Ordnung, allerdings auch von der Teuerung. Für dieses Geld hätten wir alle französischen Kolonien in Afrika durchforschen können – insoweit sie nicht schon zu langweilig sind.‹
›Sie sind also enttäuscht?‹ fragte ich.
Der bärtige Rechtsanwalt warf einen Blick auf seinen Sekretär. Die Dame sah geradeaus, sie wollte sich nicht einmal mit einem Blick an unserm Gespräch beteiligen. Ich merkte, daß alle drei vor meiner Frage erschraken. Wahrscheinlich glaubten sie doch nicht an die Ordnung bei uns. Sie hielten mich vielleicht für einen Spitzel.
›Sie haben nichts zu fürchten. Sagen Sie ruhig Ihre Meinung. Ich bin nicht von der Polizei. Ich mache wissenschaftliche Filmaufnahmen für unser Institut.‹
Die Dame warf mir einen schmalen schnellen Blick zu. Ob sie böse war oder ob sie mir glaubte, konnte ich nicht erkennen.
(Jetzt erst fällt mir ein; daß ich sie vielleicht enttäuscht habe. Vielleicht gefiel ich ihr gerade, solange sie glauben konnte, ich trüge irgendein Geheimnis.)
Monsieur Edmond