IMMODESTIA. Philipp Spiering
Читать онлайн книгу.hatte, um ihm eine Freude zu machen.
Dass er sich von dieser Art Frau nicht angezogen fühlte, würde er für sich behalten.
Sein Boss hatte geschäftlich hier auf Fuerteventura zu tun und ihn als Sicherheitsmaßnahme mitfliegen lassen. Paulo genoss den Luxus und vor allem wenn er daran dachte, dass es in Deutschland schneite, schaute er in den Himmel in die strahlende Sonne und musste lächeln. Es war damals die beste Entscheidung gewesen, sein altes Leben hinter sich zu lassen.
Als Paulo den Pool verließ und sich eine dunkelblonde Strähne aus dem Gesicht strich, reichte ihm eine der Frauen ein Handtuch, das er annahm, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Er trocknete sich auf dem Weg ins Innere des Gebäudes ab und blieb vor der gläsernen Eingangstür stehen, in der er sich spiegelte. Hinter sich sah er, wie die Mädchen tuschelten. Diese Art von Aufmerksamkeit hatte er nicht immer erhalten. Damals, als er ein Niemand gewesen war, als er am Boden gelegen hatte, war keine Frau für ihn da gewesen.
Als er dastand und sich selbst in die Augen schaute, musste Paulo an sie denken. Er musste immer noch viel zu oft an sie denken. Die einzige, von der er jemals behauptet hätte, etwas für sie empfunden zu haben.
Er betrat die Villa. Im Foyer wartete Don Antonio Fiore auf ihn, sein Boss und Mentor. Sofort waren Paulos negative Gedanken wie weggewischt und er blieb respektvoll stehen.
Fiore war hochgewachsen und wirkte für sein Alter von sechzig Jahren noch sehr jugendlich, was weniger an seinem Äußeren, als an seinem verschmitzten Blick lag. Er hatte schulterlanges, leicht ergrautes Haar und einen dichten Schnurrbart, trug ausschließlich weiße Hemden auf beige Hosen, kombiniert immer mit einem ausgefallenen Paar Schuhe, dieses Mal aus glänzendem Krokodilleder.
„Komm mit in die Lounge, ich muss mit dir reden“, sagte Fiore und Paulo folgte ihm in ein geräumiges, edel eingerichtetes Zimmer, in dem sie auf zwei Sesseln Platz nahmen, die sich gegenüberstanden. Fiore schüttete erst Paulo, dann sich selbst einen Whiskey aus einer Flasche ein, die ihren Preis erahnen ließ.
„Gefällt dir das Anwesen?“, fragte er.
„Es ist großartig“, antwortete Paulo.
„Das freut mich. Du weißt, dass ich sehr zufrieden mit dir bin. Deshalb bist du hier.“
„Vielen Dank.“
Fiore lächelte breit, wodurch die Falten in seinem Gesicht mehr zur Geltung kamen als sonst.
„Dieser Kommissar, Jenke, ist vor knapp einer Stunde in einem schäbigen Imbiss erschossen worden. Ich könnte wetten, Kettler hat seine Finger da im Spiel“, sagte er.
Paulo war von dem plötzlichen Themenwechsel nicht überrascht. Er wusste, dass sein Boss kein Freund von langem Smalltalk war.
„Ist doch gut, dann müssen wir uns nicht mehr darum kümmern. Der Mann war zu ehrgeizig, um in seiner Branche überleben zu können“, antwortete er.
„Ja, einen Job weniger, den du zu erledigen hast.“ Fiore lachte und nippte an seinem Drink.
Auch Paulo lachte. Es hätte ihm nichts ausgemacht, den Polizisten zu töten.
„Du bist noch sehr jung, Paulo, nicht einmal dreißig. Du hast noch viel Zeit, alles aus deinem Leben herauszuholen“, sagte Fiore, nachdem er einen weiteren Schluck Whiskey genommen hatte.
„Ich gebe mir Mühe.“
„Das weiß ich. Aber eine Sache steht dir im Weg.“
Die negativen Gedanken kehrten zurück.
„Du solltest das Mädchen vergessen“, fuhr der Don fort, „Du darfst niemals der Vergangenheit hinterhertrauern. Das hält dich auf.“
Paulo senkte den Blick und nickte. Er trank seinen Whiskey mit einem Schluck aus und spürte sofort, wie der Alkohol seinen Kopf mit Leichtigkeit füllte.
„Nur weil sie es manchmal zurück in meine Gedanken schafft, bedeutet das nicht, dass mich das in irgendeiner Weise beeinträchtigt“, antwortete er.
„Ich hoffe, was du sagst, meinst du auch so“, sagte Fiore, stand auf und ließ Paulo allein im Raum zurück.
„Wenn ich etwas sage, meine ich es immer so“, murmelte dieser, als der Don es schon nicht mehr hören konnte.
Niro
Daniel Niro war lange vor Sonnenaufgang auf der Arbeit gewesen und hatte erst kurz vor Sonnenuntergang Feierabend. Er war müde und fühlte sich ausgelaugt. Dennoch beschloss er, eine Stunde ins Fitnessstudio zu gehen, um auf andere Gedanken zu kommen.
Er gab dem Studiobesitzer zur Begrüßung die Hand, zog sich um und stieg auf ein Laufband. Er brauchte und liebte den Schmerz, kurz bevor die Muskeln versagten und das Pochen des Herzens nach einer Minute Dauersprint. Was er am meisten schätzte, während er Sport trieb, war die Tatsache, dass er alles andere für eine Weile vergessen konnte. Er vergaß Dinge, die ihn ansonsten den ganzen Tag begleiteten. Dass er bald fünfundzwanzig Jahre alt werden würde, sich aber manchmal fühlte, als wäre er fünfzehn Jahre älter. Dass er seit Jahren einen Job machte, der körperlich anstrengend, aber sehr schlecht bezahlt war. Dass er in einer Bruchbude lebte, in der mitten im kältesten Winter die Heizung nicht funktionierte. Und vor allem, dass er das alles hinnahm, ohne den bleibenden Willen aufzubringen, etwas zu ändern. Ihm fehlten die Motivation und die Perspektive. An schlechten Tagen sah er sich im Spiegel an und sein Unterbewusstsein nannte ihn, ohne dass er etwas dagegen tun konnte, einen Versager.
An ganz schlechten Tagen stimmte er sogar zu.
Als er sich auf die Flachbank legte und mit gekonnter Leichtigkeit die Langhantel hochpresste, hörte er hinter sich eine Stimme:
„Du solltest das Gewicht etwas erhöhen. Besser du machst wenige schwere Wiederholungen, als viele leichte.“
Daniel drehte sich um und kam sich auf einmal kleiner vor, als er war. Ihm gegenüber stand ein wahrer Riese, auf den ersten Blick schätzte ihn Daniel auf knapp zwei Meter. Seine blonden Haare waren auf wenige Millimeter herunter geschoren und er hatte einen überlegenen, wenn auch etwas leeren Ausdruck im Gesicht.
„Wie kommst du darauf, dass ich mehr Gewicht schaffe?“, fragte ihn Daniel.
„Weil man immer mehr schafft, als man denkt“, antwortete der Hüne und streckte ihm die Hand entgegen.
Das war das erste Mal, dass Daniel auf Luca Stahl traf. Zu diesem Zeitpunkt hatte er noch keine Ahnung, dass diese Begegnung sein ganzes Leben verändern würde.
Sommer
Mila Sommer trug einen Nachnamen, der nur für ein Viertel des Jahres passend war. Tatsächlich fühlte sie sich aber das ganze Jahr über unpassend, egal wo sie sich aufhielt. Nicht, dass sie jemals weit über die Grenzen der Stadt hinausgekommen war.
Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, arbeitete seit ihrer Jugend in derselben Kneipe, nur um jeden Tag denselben dummen Sprüchen und gierigen Blicken von den immer gleichen alten Lustgreisen ausgesetzt zu sein. Sie war früh von zu Hause weggezogen, nachdem ihr Stiefvater versucht hatte, sich an ihr zu vergreifen. Wenn sie heute darüber nachdachte, wäre es vielleicht besser gewesen, es über sich ergehen zu lassen, statt ihm eine Blumenvase über den Kopf zu ziehen. Sie hätte sich eine Menge Arbeit, Stress und Geld sparen können, wenn sie ihr Elternhaus später verlassen hätte. Mittlerweile hatte sie mit so vielen Mistkerlen geschlafen, dass einer mehr auch keinen Unterschied gemacht hätte.
Mila wusste, dass das männliche Geschlecht sie als sehr attraktiv wahrnahm, auch wenn sie selbst das nicht so sah. Vielleicht wäre das anders gewesen, wenn sie die Chance gehabt hätte, sie selbst zu sein. Aber Tag für Tag zwängte sie sich in die enge schwarze Jeans und die noch engere, gleichfarbige Bluse. Schminken musste sie sich für ihren Kneipenjob nicht, den Lustgreisen reichte es, auf ihre Brüste zu starren, tat es aber trotzdem. Unter ein wenig Make-Up fühlte sie sich besser,