IMMODESTIA. Philipp Spiering

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IMMODESTIA - Philipp Spiering


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Wenn zur Abwechslung ein anständiger Mann in die Kneipe kam, ging sie nach Schichtende nicht selten mit zu ihm. Aber nur weil sie besser aussahen, waren diese Männer keine besseren Menschen als die gewöhnlichen Lustmolche, das hatte sie früh gemerkt. Mittlerweile war ihr das aber egal. Sie hatte keine Erwartungen mehr, ging nur noch mit, um das alles für kurze Zeit zu vergessen und wenigstens die Illusion zu genießen, dass jemand sie wirklich wollte.

       Der letzte Gast war gerade nach draußen getaumelt, als Mila die Theke abwischte, dann ihre Schürze auszog und unter den Tresen legte.

       „Ich mach Feierabend“, schrie sie ihrem Chef zu, der gerade im Hinterzimmer die mickrigen Einnahmen zählte. Gerade als sie zur Tür hinauswollte, rief er ihren Namen und sie drehte sich um. Ihr Chef war ein schmächtiger, kleiner Mann namens Frank Meis, der in seiner eigenen Welt lebte und immer ein Sakko trug, obwohl die meisten seiner Stammkunden in Jogginghose kamen und auf so etwas keinerlei Wert legten. Aber dass er sich alles anders vorgestellt hatte und verbittert an seinen Träumen festhielt, konnte sie ihm nicht verübeln.

       „Mila, du weißt, ich schätze deine Arbeit hier“, begann er.

       Er will irgendwas von mir, dachte sie, vielleicht eine Gehaltskürzung, weil die Einnahmen nicht mehr reichten.

       „Aber kannst du deine Haare wieder glätten? Wir hatten mehr Kunden, als du glatte Haare hattest“, fuhr er fort.

       „Du kannst mich mal, Frank“, sagte Mila und bevor ihr Chef noch etwas erwidern konnte, war sie schon draußen.

       Als sie in ihrer Wohnung angekommen war, die sie sich günstig, aber geschmackvoll eingerichtet hatte, zog sie sich bis auf die Unterwäsche aus und ließ ihre Kleidung einfach fallen. Sie drehte die Heizung auf und schaltete das Radio an. All Right Now aus den 70ern. Perfekt.

       Mila öffnete eine Schublade und holte ein Gramm Amnesia Haze, Zigarettentabak, Longpapers und ein Stück Pappe heraus. Dann setzte sie sich auf die Couch und breitete die Utensilien vor sich auf dem Tisch aus. Sie streute erst etwas Tabak, dann ordentlich Gras auf das Zigarettenpapier, riss von dem Stück Pappe etwas ab und formte es zu einem Filter, den sie an einem Ende des Papers hinlegte. Sie rollte behutsam die Gras-Tabakmischung ein und leckte dann über die Außenseite, damit alles hielt. Kurz betrachtete sie ihr Werk, dann zündete sie den Joint an. Sie inhalierte den Rauch tief und legte den Kopf in den Nacken.

       It's all right now, baby it's all right now.

      Niro

      Als Daniel Niro am nächsten Tag aufwachte, spürte er zuerst den unglaublichen Muskelkater. Er kämpfte sich aus dem Bett und durchlief seinen morgendlichen Rhythmus. Duschen, Zähne putzen, anziehen, zur Arbeit gehen. Manchmal, wenn er darüber nachdachte, erinnerte ihn diese immer gleiche Reihenfolge an die Anweisungen einer Mutter.

       Als Daniel durch den Schnee ging und die eiskalte Luft einatmete, fühlte er sich irgendwie lebendiger als sonst. Er dachte darüber nach, ob das daran lag, dass er am vorigen Tag zum ersten Mal seit langer Zeit einen sozialen Kontakt außerhalb der Arbeit geknüpft hatte. Luca Stahl und er hatten etwa eine Stunde zusammen trainiert und waren dabei ins Gespräch gekommen.

       Luca war Anfang dreißig und Geschäftsmann. Daniel hatte es für taktlos gehalten, die dürftige Berufsbeschreibung zu hinterfragen. Hätte Luca mehr erzählen wollen, hätte er es selbstständig getan. Nachdem sie sich verabschiedet und vereinbart hatten, sich im Laufe der Woche noch einmal im Studio zu treffen, hatte Daniel gesehen, wie er in einem Porsche Panamera vom Parkplatz gefahren war.

       Das Geschäft schien also gut zu laufen.

       Als Daniels Magen knurrte, wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Er blieb stehen und schaute in sein Portmonee. Einen Fünf-Euroschein und etwas Kleingeld hatte er dabei. Mehr als genug. Er ging in eine Bäckerei und kaufte sich ein belegtes Brötchen und einen Kaffee. Während er auf den Kaffee wartete, fiel sein Blick auf den Zeitungsständer.

      Mafia erschießt Polizisten“ lautete die Schlagzeile und Daniel überflog den Artikel. In einem Schnellimbiss wenige Minuten Fußweg von der Bäckerei entfernt war der Kommissar Lars Jenke am vorigen Tag durch einen Kopfschuss von hinten ermordet worden. Da er die Ermittlungen gegen das organisierte Verbrechen in der Stadt geleitet hatte, lag es beinahe auf der Hand, dass die Mafia selbst diese eindeutige Botschaft hinterlassen hatte.

       Das ist Macht, dachte Daniel, alle haben Angst vor diesen Männern.

       Daniel war so in den Artikel vertieft, dass er erst nach der zweiten Bemerkung der Kassiererin merkte, dass sein Kaffee fertig war. Er bezahlte, nahm sein Frühstück und verließ die Bäckerei.

      Auf dem Weg zur Arbeit genoss er das Brötchen und den heißen Kaffee. Das war Luxus, den er sich nicht alle Tage gönnte.

      Verzasca

      Paulo Verzasca stand mit verschränkten Armen im Hintergrund, während sein Mentor Antonio Fiore auf einem Holzstuhl zurückgelehnt einem schlecht angezogenen, ungepflegten, aber sehr mächtigen Mann zuhörte.

       Salvatore Morales war verantwortlich für den Schmuggel von tonnenweise Kokain von Mexiko über Spanien, Frankreich und die Niederlande nach Deutschland. Er war einer der Marionettenspieler, der alles von seinem Standpunkt aus plante und nur die Anweisungen geben musste, ohne sich selbst die Finger schmutzig zu machen. In der dürren Einöde Fuerteventuras rechnete niemand mit einem so einflussreichen Mann, weshalb er sich dort oft wochenlang aufhielt, bevor er weiterzog.

       Abgesehen von Salvatore Morales, Antonio Fiore und Paulo waren noch zwei von Morales' Männern mit in der alten Hütte mitten in der Wüste. Paulo fand, dass es bei einem geschäftlichen Treffen wie diesem unangebracht war, sich in einer dermaßen heruntergekommenen Unterkunft zu treffen. Aber er wusste auch, dass es nicht anders möglich war - ab einem bestimmten Grad von Macht und Reichtum konnte man sich nicht mehr frei bewegen. Man konnte nirgendwo mehr sicher sein, musste sich stets verdeckt halten, oft die Position wechseln. Paulo fand nicht, dass so viel Macht begehrenswert war.

       „Die Nachfrage steigt, Salvatore. Wir brauchen weit mehr, als uns gerade zur Verfügung steht“, sagte Fiore gerade auf Englisch.

       Salvatore Morales schnippte seinen Zigarettenstummel auf den Boden und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

       „Antonio“, begann er seinen Monolog, „Wir machen schon lange Geschäfte und ich zweifle nicht an Ihrem Sachverstand. Aber Sie vergessen, meine Sicht der Lage mit in Ihre Überlegungen einzubeziehen. Ich kenne die Männer nicht, die persönlich die Drogen auf die Fähren, Jachten, und Lastwagen packen. Aber es sind meine Männer, jeder von ihnen. Und jedes Gramm, das sie mehr schmuggeln, erhöht die Chance, dass sie gefasst werden. Und den Verlust habe dann ich zu tragen, weil kein Kunde für etwas bezahlt, das er nicht kriegt.“

       „Wissen Sie, wie viel mehr Profit Sie machen könnten?“, fragte Fiore, der es nicht gewohnt war, dass man seine Anfragen ablehnte.

       „Ich brauche nicht noch mehr Profit, Antonio.“

       Fiore biss die Zähne aufeinander und Paulo wusste, dass er bereit sein musste. Er wusste, dass er bei Bedarf knapp zwei Sekunden brauchen würde, um seine 9mm Glock zu ziehen, zu zielen und abzudrücken.

       „Das ist bedauerlich. Gerade weil wir schon so lange Geschäftspartner sind, hatte ich gehofft, dass Sie eine Lösung finden würden, die uns beide zufriedenstellt. Gestützt auf diese naive Hoffnung habe ich einem meiner Partner nämlich schon eine Großlieferung versprochen“, gab Fiore zur Antwort.

       Kettler, dachte Paulo. Natürlich hatte sein Mentor niemandem im Voraus etwas versprochen, aber es war vor kurzer Zeit das Gerücht aufgekommen, dass Heinrich Kettler seinen Absatz an Kokain vergrößern wolle. Und darin sah Fiore eine gute Möglichkeit, seinen Gewinn zu maximieren.

       „Es tut mir leid, dass ich Sie enttäuschen muss“, sagte Salvatore Morales.

      


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