IMMODESTIA. Philipp Spiering
Читать онлайн книгу.Tomasso, „Und ich dachte mir, dann kann ich dich auch direkt damit abholen.“
„Sei vorsichtig mit solchen Entscheidungen.“
„Mir passiert schon nichts. Und außerdem ist Elias doch mitgekommen.“ Er deutete auf den Anzugträger.
„Don Fiore“, sagte dieser und neigte seinen Kopf.
Antonio Fiore winkte Paulo zu sich. Der hatte ein paar Meter Abstand gehalten. Wenn sein Mentor mit seiner Familie sprach, tat er das immer.
„Hallo Tomasso“, sagte Paulo nun.
„Hallo Paulo. Wie war's auf der Wüsteninsel?“
„Zumindest das Wetter war deutlich besser als hier.“
Tomasso lachte.
„Das kann ich mir vorstellen.“
Don Fiore öffnete die Hintertür der Luxuslimousine und stieg ein. Das war für alle das Zeichen, dass es nun Zeit zum Aufbrechen war. Elias setzte sich auf den Beifahrersitz und Tomasso nahm seinen Platz am Steuer wieder ein. Paulo ging um das Auto herum und setzte sich neben Fiore nach hinten. Als der Motor mit einem respekteinflößenden Brummen ansprang, erkundigte sich Antonio Fiore, ob ein Treffen mit Heinrich Kettler bereits arrangiert sei.
„Darum hat Samuele sich gekümmert“, gab Tomasso zur Antwort, „Direkt nach deinem Anruf gestern Nachmittag. Er hat Kettler zu uns nach Hause eingeladen, aber der hat abgelehnt. Misstrauen, vermute ich. Dafür hat er dich aber in sein Haus eingeladen, um dein Anliegen zu erläutern. Samuele hat natürlich über die Einzelheiten am Telefon nicht gesprochen.“
Fiore schien kurz gekränkt zu sein, dann jedoch hellte sich sein Gesichtsausdruck auf und er sah seinem Sohn durch den Rückspiegel in die Augen.
„In Ordnung. Ich werde später mit Samuele sprechen, sodass er mit Kettler einen Termin für unser Treffen ausmacht", sagte er, machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu: "Eure Mutter wäre stolz auf euch.“
Tomasso erwiderte kurz seinen Blick im Rückspiegel, nickte und konzentrierte sich dann wieder auf die Straße.
Niro
Die Lagerhalle, bei der Daniel und Luca vorfuhren, lag abseits der Stadt nahe eines Waldstücks. Luca parkte den Panamera auf einem Schotterparkplatz, dann stiegen sie aus. Nur das ferne Rauschen von Autos war zu hören. Die Vögel schienen zu schweigen.
Luca klopfte an eine massive Stahltür und trat dann ein. Es handelte sich um eine klassische Lagerhalle. Überall standen Regale und Paletten, wie an Daniels Arbeitsplatz, nur war das Lager, das sie gerade betreten hatten, deutlich kleiner. Neben einem Containerbüro lag angekettet ein Dobermann auf dem Boden, der die Ankömmlinge aufmerksam und skeptisch beäugte. Es war ein ungewöhnlich großes Tier, wie Daniel fand, und ihm wurde mulmig zumute. Ein Mann kam aus dem Containerbüro und ihnen entgegen. Er war auffallend abgemagert und trug ein ausgewaschenes T-Shirt mit einem Rockbandaufdruck und eine Jeans, die aus den 70ern zu stammen schien.
„Wie läuft das Geschäft, Alex?“, fragte Luca noch während des Handschlags.
„Ja super, danke der Nachfrage. Wen hast du da mitgebracht? Spinnst du?“
„Bleib ruhig, das ist mein Partner. Daniel Niro.“
Daniel streckte dem Kunden die Hand hin, dieser schaute ihn aber nur skeptisch an und grummelte ein „Aha“. Dann erkundigte er sich nach dem Kokain.
„Du kennst die Prozedur, Alex. Erst das Geld, dann das Pulver. Wieso muss ich dir das jedes Mal aufs Neue erklären?“
Dann ging alles überraschend schnell und unkompliziert. Sie gingen in das Containerbüro, nahmen einen Rucksack entgegen. Luca sah hinein und merkte dann selbstsicher an, dass er nicht nachzählen würde. Den Rucksack, den sie selbst dabeihatten, gaben sie ab und verließen das Lagerhaus dann wieder.
„Ist ein komischer Typ, dem traue ich nicht. Bei solchen Leuten muss man immer mit allem rechnen“, eröffnete Luca das Gespräch, als sie wieder im Auto saßen.
„Ihr habt aber den Anschein gemacht, vertraut zu sein.“
„Wir kennen uns, ja. Aber trotzdem traue ich dem Scheißkerl nicht.“
„Wieso hast du dann das Geld nicht nachgezählt?“
„Bist du verrückt? Ich werde es zu Hause direkt nachzählen und wenn da irgendetwas nicht stimmt, besuchen wir den Spinner nochmal. Aber das wird nicht geschehen, er würde es nicht wagen, mich über den Tisch zu ziehen. Wo soll ich dich rauslassen?“
Daniel sah Luca entgeistert an.
„War es das schon?“, fragte er.
„Natürlich, das war's. So einfach kann's sein, aber das ist nicht immer der Fall.“
Daniel nickte zufrieden.
„Wo soll ich dich denn jetzt rauslassen?“, fragte Luca erneut.
„In der Stadt. Ich muss noch ein paar Dinge besorgen.“
Luca drückte Daniel zweitausend Euro in grünen Hundertern in die Hand, als sie am Straßenrand der Innenstadt anhielten.
„Ich danke dir hierfür“, sagte Daniel, „Das werde ich nicht vergessen.“
„Das ist nur der Anfang, Bruder. Wir sehen uns.“
Dann fuhr der Panamera davon und Daniel widmete sich seinem Vorhaben.
Sommer
Mila Sommer dachte über unendliche Momente nach.
Unendliche Momente; das waren in ihrer Vorstellung äußerst seltene Augenblicke, in denen so viel positive oder aber negative Energie freigesetzt wurde, dass man selbst den erlebten Moment zeit seines Lebens nicht mehr vergisst. Man erinnert sich an jedes Detail dieses Augenblicks - an das Blickfeld, den Geruch, das Gefühl. Diese Vorstellung hatte Mila vor einiger Zeit einem fiktiven Artikel entnommen und sie mochte sie sehr.
Sie ließ ein Glas fallen. Das Klirren riss sie aus ihren Gedanken. Ihr Chef stand schon hinter ihr, bevor sie überhaupt richtig realisiert hatte, was geschehen war.
„Das ist das dritte Glas heute! Was ist mit dir los, Mila?“, fragte er und wurde dabei wohl etwas lauter, als er beabsichtigt hatte.
„Sorry“, antwortete Mila und versuchte, ihm nicht in die Augen zu schauen.
Das bemerkte er.
„Guck mich mal an“, sagte er deutlich leiser, aber auf irgendeine Art sehr viel bedrohlicher.
Fuck, dachte sie. Und schaute ihm in die Augen. Sein Unterkiefer klappte ungläubig nach unten. Erst war es Überraschung, dann Enttäuschung und dann Wut, die aus seinen Gesichtszügen sprach, als er erkannte, dass sie high war. Ihre Pupillen waren so groß und ihre Augen so glasig, dass jeder es bemerkt hätte.
„Sorry“, sagte Mila noch einmal. Dieses Mal aber nicht für das Glas.
Eine Weile herrschte Stille.
„Mach, dass du wegkommst“, zischte ihr Chef noch ein wenig leiser, damit der eine betrunkene Gast, der in der Kneipe war, es nicht hören konnte.
„Ich brauche den Job. Du weißt das. Es kommt nicht wieder vor.“
Ihr Chef war ein weichherziger Mann, das wusste sie.
„Ich finde das scheiße Mila. Echt scheiße“, sagte Frank Meis schließlich, „Schlaf dich aus und sei morgen pünktlich hier.“
Als Mila die Kneipe verließ, war sie schon fast wieder nüchtern. Als sie sich umsah, fiel ihr ein Mann auf, der im Licht einer Straßenlaterne stand und sie musterte. Erst wollte sie kehrt machen und zurück in die Kneipe gehen, wo sie in Sicherheit war, dann