IMMODESTIA. Philipp Spiering

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IMMODESTIA - Philipp Spiering


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Lederschuhe, ein hellblaues Hemd und eine beige Hose, darüber einen halblangen Mantel und einen dicken Schal. Im Gegensatz zu gestern sah er heute aus wie jemand, dem es gut ging.

       Er ging auf sie zu und blieb lächelnd vor ihr stehen.

       „Guten Abend, Mila. Erinnerst du dich an mich?“, fragte er.

       „Du bist Daniel“, sagte sie.

       Sein Lächeln wurde noch breiter, aber bevor er etwas erwidern konnte, fragte Mila: „Was ist mit dir passiert? Gestern sahst du anders aus.“

       „Gestern war nicht mein Tag“, gab Daniel zur Antwort, „Darf ich dich nach Hause bringen?“

       Krimineller Wichser, dachte Mila.

       „Wenn du willst“, sagte sie.

       Sie gingen die Straße entlang und wirkten einsam inmitten der meterhohen Häuserfassaden, vom Laternenlicht angestrahlt auf dem schneebedeckten Asphalt. Sonst war weit und breit niemand zu sehen. Sie sprachen nicht viel, aber es war keine unangenehme Ruhe, wie man sie kennt, wenn man allein mit jemandem ist, mit dem man einfach nicht harmoniert.

       „Arbeitest du schon lange da?“, fragte Daniel schließlich.

       „Viel zu lange“, antwortete sie.

       Eine Weile kehrte wieder Ruhe ein, bevor sie sagte: „Und du? Was machst du?“

       „Ich arbeite für eine Spedition.“

       „Gestern als Lagerarbeiter und heute als Geschäftsführer?“

       „Wieso muss ich Geschäftsführer sein, um mich ordentlich anzuziehen?“

       „Es ist nicht nur deine Kleidung. Dein ganzes Auftreten ist ein anderes.“

       „Magst du es?“

       „Weiß ich noch nicht“, antwortete sie keck.

       Als sie unten vor ihrer Wohnungstür standen, fragte sie ihn, ob er Gras rauche. Er überlegte, dann verneinte er freundlich, bedankte sich für den Spaziergang und schlenderte davon.

       Das hatte sie noch nie erlebt.

      Verzasca

      Der Wohnsitz der Familie Fiore war ein alter Bauernhof, der von außen seinen altertümlichen Charme behalten hatte, innen jedoch komplett restauriert und modernisiert worden war. Zum Grundstück gehörten außerdem einige Hektar Land, darauf verstreut die Wohnungen der Bediensteten, sowie jeweils ein Haus für jedes der Kinder des Dons.

       Samuele Fiore, der älteste Nachkomme des Familienoberhauptes, begrüßte seinen Vater und dessen Begleiter bei ihrer Ankunft. Samuele war durchschnittlich groß und alles in allem ebenfalls durchschnittlich, was seine Erscheinung betraf. Er hatte nichts an sich, was ihn als den Erben eines Paten identifizieren würde. Er war ruhig, trug unauffällige, sportliche Kleidung und ließ sein Gegenüber niemals spüren, dass er ein Mann war, der eine sehr große Handlungsmacht besaß. Dennoch lag in seiner Präsenz eine gewisse Dominanz, die niemandem entging, der ein Gespür für so etwas hatte. Samuele humpelte leicht und Paulo wusste, trotz des guten Verhältnisses, das er zu ihm pflegte, bis heute nicht, wie es dazu gekommen war. So etwas sprach man nicht an.

       Eine Variante, die in der Öffentlichkeit hausierte, besagte, dass der erstgeborene Sohn früher ganz und gar nicht bodenständig, sondern auffallend exzentrisch gewesen war, was darin gipfelte, dass er einem anderen Jungen den Kopf einschlug, sodass dieser ins Koma fiel. Samueles Vater, der Don, soll darüber dermaßen erzürnt gewesen sein, dass er seinen Sohn ebenfalls so heftig bestrafte, dass dieser heute noch gezeichnet davon war. Danach allerdings hätte Samuele den Sinneswandel durchlebt, der ihn zu dem gemacht hatte, der er nun war.

       Paulo persönlich konnte sich das kaum vorstellen; dafür liebte Antonio Fiore seine Kinder zu sehr. Er glaubte die andere Version der Geschichte: dass Samuele, der früher ein sehr talentierter Boxer gewesen war, sich die Verletzung während seines letzten Kampfes zugezogen hatte.

       Samuele geleitete die Gruppe in das geräumige Esszimmer.

       „Ihr müsst hungrig sein“, sagte er, als sie sich auf ihre Plätze setzten.

       Außer Paulo, Antonio Fiore, Samuele, Tomasso und seinem Leibwächter Elias war zwar noch niemand im Raum, dennoch gab es im Hause Fiore eine strikte Sitzordnung, die zu befolgen war. Am einen Tischende saß der Don, am anderen Samuele. Rechts neben Don Fiore saß sein jüngerer Sohn Tomasso, links war für seine Tochter Aurora reserviert. Der Platz neben Aurora blieb frei und war dem Mann vorbehalten, den sie einmal heiraten würde.

       „Welcher Mann kann es gut finden, zu wissen, dass neben seiner Frau die ganzen Jahre vor seiner Zeit jemand anders gesessen hat?“, begründete Don Fiore diese in Paulos Augen doch recht altmodische Regelung.

       Den Platz neben dem leeren Stuhl belegte Greta, die Küchenhilfe, eine rundliche, ruhige Frau. Neben ihr saß für gewöhnlich der Koch Alfons, ein ebenfalls dicklicher Mann mit einem extravaganten Schnurrbart. Das war ungewöhnlich, aber Antonio Fiore legte Wert darauf, dass diejenigen, die das Essen zubereiteten, auch die Möglichkeit bekamen, es zu genießen. Neben dem Koch war Paulos Platz. Neben ihm wiederum saß Samuele an seinem Ende des Tisches. Zu seiner Linken war seine Frau Lili positioniert, neben ihr die Haushälterin Olga, ein ehemaliges russisches Model. Paulo war sich sicher, dass sie noch eine andere Funktion hatte, als den Haushalt zu führen. Neben Olga war ein Platz für einen Gast reserviert, der oft durch Geschäftspartner oder alte Freunde des Dons besetzt wurde. Daneben saß Elias, der Leibwächter von Tomasso, neben dem wiederum Tomasso selbst seinen Platz hatte.

       Womit die Runde vollzählig wäre.

       „Das Essen muss jeden Moment fertig sein. Vielleicht möchtet ihr schonmal etwas trinken“, sagte Samuele und hielt demonstrativ eine Flasche Wein in die Luft. Don Fiore schüttelte den Kopf.

       „Für mich nicht. Ich habe gestern Abend etwas übertrieben“, sagte er. Auch Paulo und Elias lehnten ab, während Tomasso sich sein Glas von seinem Bruder füllen ließ. Auch sich selbst schenkte Samuele ein.

       „Es ist so leer hier“, sagte der Don schließlich, „Samuele; wo sind Aurora und deine Frau?“

       „Aurora hat versprochen zu kommen, aber Lili ist mit einer Freundin in der Stadt und wird es wahrscheinlich nicht rechtzeitig schaffen. Auch Olga hat sich für heute entschuldigen lassen. Sie hat eine Erkältung und liegt seit gestern Mittag im Bett.“

       Don Fiore nickte nachdenklich. In diesem Moment ging die Küchentür auf und der Koch und seine Küchenhilfe traten mit dem Essen in den Raum.

       „Guten Abend, Don Fiore. Ich hoffe, Sie hatten eine gute Rückreise“, sagte der Koch, während er die gefüllten Teller geschickt auf dem Tisch abstellte.

       „Sehr gut, danke Alfons. Was gibt es denn heute Gutes? Das duftet ja köstlich.“

       „Das ist Kalbsrücken mit Rosmarin, Ofenkartoffeln und Spargel. Dazu eine leichte Sauce Hollandaise.“

       „Großartig. Setzt euch zu uns.“

       Nachdem alle Anwesenden die Speise vor sich und ihre Gläser mit dem Getränk gefüllt hatten, das sie bevorzugten, wünschte Antonio Fiore einen guten Appetit und sie begannen zu essen.

       Es dauerte nicht lange, bis eine Tür zu Don Fiores Rücken sich sanft öffnete und Aurora den Raum betrat. Ohne dass es jemand beeinflussen konnte, wurde es still und alle Blicke waren auf sie gerichtet. Während andere Frauen das vielleicht als unangenehm empfunden hätten, war es nicht schwer zu erkennen, dass Aurora die Aufmerksamkeit weder genoss, noch sich davon aus der Ruhe bringen ließ. Sie war es einfach nicht anders gewohnt.

       Auch Paulo konnte sich ihrer Aura nicht entziehen. Sie hatte lange, pechschwarze Haare, die sie offen trug, ihr Teint war dunkel und ihre Augen eisblau. Sie kleidete sich niemals aufdringlich aufreizend, was sicher einen Teil ihres Reizes ausmachte. Heute trug sie einen roséfarbenen, eng an ihren durchtrainierten Körper


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