Verschollen am Mount McKinley / Die Wölfe vom Rock Creek. Christopher Ross
Читать онлайн книгу.Er sieht wirklich gut aus, dachte sie, und wenn er sich nicht gerade damit brüstet, das nächste Iditarod zu gewinnen, könnte man ihn glatt sympathisch finden, sich vielleicht sogar auf ein Date mit ihm einlassen. Ich hätte ihn nicht so hart angehen sollen. Ich hatte ihm schließlich einen Korb gegeben, und es war sein gutes Recht, mit einer anderen auszugehen. Obwohl … wenn er seine Einladung zu einem Date wirklich ernst gemeint hätte, wäre er nicht in derselben Nacht mit dieser Frau ausgegangen. Ach was, ich mach mich noch verrückt!
Julie schüttelte den Kopf, um sich von ihren Grübeleien zu lösen, und konzentrierte sich wieder allein auf die Straße. Wenige Meilen vor dem Wonder Lake parkte sie den Kleinbus am Straßenrand, und sie stiegen aus. Noch war es dunkel, nur der Mond und die Sterne waren noch zu sehen, doch die mächtigen Massive des Mount McKinley, der am Horizont aus dem verschneiten Land ragte, waren auch in dem blassen Licht, das sich auf seinen Gletschern und Schneehängen spiegelte, deutlich zu erkennen. Selbst die Clarke-Brüder, die unterwegs ständig mit ihren Snowboard-Abenteuern angegeben hatten, waren bei seinem Anblick sprachlos und starrten schweigend auf den gewaltigen Berg. »Wow!« war das einzige Wort, das während der ersten Minuten fiel, und jedes weitere Wort hätte die andächtige Stimmung dieses Augenblicks nur unnötig gestört.
Nachdem sich alle an dem Berg sattgesehen hatten, räumten sie die Backpacks aus dem Kleinbus, und Carol verteilte Schneeschuhe an diejenigen Wanderer, die keine eigenen mitgebracht hatten. Kati Wilcott, die Frau mit den verweinten Augen, tat sich etwas schwer mit dem Anschnallen und nickte dankbar, als Julie ihr half. Auch Scott Jacobsen stellte sich nicht gerade geschickt an. Die Linakers und die Clarke-Brüder hatten ihre eigenen Schuhe dabei.
»Wir wandern im Gänsemarsch«, sagte Carol, »und bleiben möglichst beisammen. Ich weiß, dass wir erfahrene Wintersportler unter uns haben, die vielleicht auch allein in der Wildnis zurechtkämen …« Sie blickte die Linakers und auch die Clarke-Brüder an. »Aber der Denali National Park ist ein besonders tückisches Naturschutzgebiet mit Gefahren, auf die Sie vielleicht nicht vorbereitet sind. Das Wetter wechselt hier oft von einer Minute auf die andere, und die alten Jagdtrails der Indianer sind im Winter gar nicht und im Sommer nur für geübte Augen sichtbar. Ich arbeite schon seit einigen Jahren hier und sehe viel, was Sie nicht sehen können, auch wenn Sie routinierte Wanderer oder Sportler sind. Also bitte keine Alleingänge!« Sie sah einige besorgte Mienen und lächelte. »Keine Angst, wir sind hier nicht beim Militär, und ich werde keine Befehle brüllen. Wir wollen schließlich alle unseren Spaß haben. Außerdem würde ich vorschlagen, dass wir uns mit dem Vornamen anreden. Ich bin Carol, und meine Kollegin heißt Julie. Noch Fragen?«
Gary Clarke grinste frech. »Was ist mit Ihrer jungen Kollegin? Kennt die sich auch in der Wildnis aus? Mir scheint sie noch grün hinter den Ohren …«
Julie wollte schon antworten, doch Carol kam ihr zuvor: »Wenn Sie gesehen hätten, wie sie mit einem Hundegespann umgeht, würden Sie anders reden. Julie ist definitiv nicht grün hinter den Ohren, sonst hätten wir sie nicht eingestellt.«
»Ich hab gesehen, wie sie einen Hundeschlitten steuert«, mischte sich Josh ein. »So wie sie in Form ist, könnte sie beim Iditarod mitmachen. Und auf Schneeschuhen laufen kann sie auch.« Er blickte ein wenig abfällig auf die brandneuen Schneeschuhe der Brüder hinab, wahrscheinlich die teuersten, die es in den großen Sportgeschäften gab. »Die Dinger sind keine Snowboards.«
»So schlau sind wir auch«, erwiderte Gary, »aber glaub bloß nicht, dass wir damit nicht umgehen könnten.« Er war sichtlich eingeschnappt. »Pass lieber auf, dass du nicht im Schnee landest. Oder bist du der Wildnis-Guru?«
Josh gefiel der Ausdruck. »Und was für einer! Ich bin jeden Tag in der Wildnis unterwegs. Und falls es dir noch niemand gesagt hat: Ich werde das nächste Iditarod gewinnen. Du sprichst mit einem angehenden Champion!«
»Ach nee …«
Wie die streitsüchtigen Jungen in der Junior High, dachte Julie, jeder will der Größte und Beste sein. Und in Gruppen waren solche Jungs noch schlimmer. Wie ihre Huskys versuchte jeder der Leithund zu sein und die anderen auf die Plätze zu verweisen. Julie war dankbar, dass Josh und Carol für sie Partei ergriffen und sie sich nicht selbst mit Gary anlegen musste. Aber was war in Josh gefahren, dass er dabei gleich so von ihr schwärmte, noch dazu vor allen anderen? Und was dachte er sich dabei, hier schon wieder seine selbstverliebten Reden zu schwingen? Glaubte er vielleicht, sie würde das cool finden?
Carol machte dem Geplänkel ein Ende, indem sie über die Böschung kletterte und als Erste in den Tiefschnee stieg. Mike und Ruth Linaker folgten ihr, dahinter Scott Jacobsen, die Clarke-Brüder, Josh und Kati Wilcott. Julie bildete den Schluss der kleinen Gruppe. Sie beobachtete schon nach wenigen Schritten, wie sicher und gleichmäßig sich die Linakers bewegten, und dass auch die Clarke-Brüder eine gute Figur machten, sehr zum Leidwesen von Josh, der sich sichtlich schwertat und von Glück sagen konnte, dass er hinter den Brüdern lief. Jacobsen strengte sich an, wirkte beinahe verbissen, und Kati Wilcott stolperte mehr, als dass sie lief, und stürzte schon nach ein paar Schritten.
Julie half ihr auf und hielt sie eine Weile fest. Kati machte den Eindruck, als würde sie jeden Moment losheulen. »Was ist los mit Ihnen, Kati?«, fragte Julie besorgt. »Haben Sie Kummer?« Und als Kati energisch den Kopf schüttelte, ihr Blick aber etwas ganz anderes verriet: »Sie haben noch nie auf Schneeschuhen gestanden, stimmt’s? Wollen Sie wirklich mitkommen?«
»Ich will weg!«, flüsterte Kati. »Ich will nur weg!«
Julie ließ sie los und wechselte einen raschen Blick mit Carol, die stehen geblieben war und besorgt auf Kati blickte. »Alles okay bei euch?«, rief sie.
»Kati muss sich erst an die Schneeschuhe gewöhnen«, antwortete Julie.
»Wir fangen langsam an«, rief Carol.
Nach einer Weile kam Kati besser zurecht. Sie war zwar immer noch etwas wacklig auf den Beinen, ging aber breitbeiniger und stieß nicht mehr mit den Schneeschuhen gegeneinander. Ihre Stimmung besserte sich nicht. Sie ging mit gesenktem Kopf, hatte kaum Augen für ihre Umgebung und zuckte lediglich die Achseln, als Julie sie fragte, ob sie ein Problem hätte und sie ihr irgendwie helfen könnte. Wie ein Fremdkörper wirkte sie in der Gruppe, ähnlich wie Jacobsen, der ebenfalls schweigend marschierte, aber mehrmals stehen blieb und in Ehrfurcht vor dem Mount McKinley zu erstarren schien. Erst wenn einer der Clarke-Brüder ihm auf den Rücken klopfte, ging er weiter, ohne sich um das Gelächter der jungen Männer zu kümmern.
Ein seltsamer Haufen, überlegte Julie. Sie hatte sich die Wanderung einfacher vorgestellt, hätte nicht gedacht, wie anstrengend es sein würde, sich um Aufschneider wie die Clarke-Brüder, eine empfindliche Frau wie Kati Wilcott und einen geheimnisvollen Mann aus Chicago zu kümmern. Auch auf Josh hätte sie gern verzichtet. Mit seinem wankelmütigen Verhalten hatte er sie vollkommen aus dem Konzept gebracht, und in ihr wuchs das beängstigende Gefühl, es könnte während der langen Wanderung noch schlimmer werden. Lediglich die Linakers verhielten sich normal, erfahrene Wanderer und Sportler, die vor allem gekommen waren, um die grandiose Natur zu genießen.
Wie großartig die Wildnis südlich des Wonder Lake war, zeigte sich nach ungefähr einer Stunde, als die Sonne aufging und die Berge und Täler in pinkfarbenes Licht tauchte. Als hätte es die Natur darauf abgesehen, sie zu Beginn ihrer Wanderung mit einem gewaltigen Schauspiel zu verwöhnen, begann der Schnee zu glühen, die Schwarzfichten leuchteten dunkelgrün, und die Felswände der fernen Berge schienen sich im rötlichen Dunst aufzulösen. Ein Adler flog krächzend über sie hinweg und suchte nach Beute, schien unbeeindruckt von dem Naturschauspiel, das die Wildnis des Nationalparks der Wirklichkeit entrückte und sie in ein flimmerndes Fantasieland verwandelte.
Die Wandergruppe verharrte auf einem verschneiten Hügel und genoss die Veränderung sprachlos, viel zu beeindruckt, um etwas zu sagen oder auch nur ein »Wow!« auszustoßen. Nur ein leiser Seufzer war zu hören, als der Wind die letzten Wolken vom Gipfel des Mount McKinley vertrieb, und sich der pinkfarbene Schleier des beginnenden Tages über die felsigen Wände legte.
Erst hier, aus ungefähr zwanzig Meilen Entfernung, wurde deutlich, was für ein gewaltiger Berg der Mount McKinley war. Nicht umsonst hatten ihn die Indianer »Denali« getauft, den