Das Erbe der Macht - Band 23: Engelsfall. Andreas Suchanek

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Das Erbe der Macht - Band 23: Engelsfall - Andreas Suchanek


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die Jahrhunderte gesammelt. Genau deshalb bist du hier. Was ich von dir möchte, befindet sich nicht in deinem Kopf.« Er tippte sanft auf seine Brust. »Es fließt durch deine Adern.«

      »Mein Blut?« Der Gefangene erbleichte.

      »Das, was sich darin befindet.«

      Patrica brachte die Schatulle mit dem Dolch. Merlin entnahm ihn in einer fließenden Bewegung.

      »Ich war schon immer der Überzeugung, dass Magie und Schwert deutlich effektiver arbeiten als Tinte und Feder. Aber da wirst du mir widersprechen, nicht wahr?«

      Der Gefangene betrachtete die Klinge.

      Dann sprach er seine letzten Worte.

      Ich hätte niemals fortgehen dürfen.« Leonardo versuchte, den dichten gelben Nebel mit seinem Blick zu durchdringen.

      »Dann wärst du jetzt gefangen in ewig währenden Sekunden«, erwiderte Tomoe. »In einem Gefängnis, das nie für uns bestimmt war.«

      Die Ankunft von Anne und ihr hatte Leonardo überrascht. Es war Grace gewesen, die nach ihrer Reise durch die Splitterreiche zurückgekehrt war und sich auf eine weitere Suche begab. Im Auftrag von Johanna forschte sie über den Verbleib Claras und ihm. Am Ende hatte sie das zur Archivarin geführt, die jedoch längst von Eliot Sarin in einen Bernsteinmonolith gesperrt worden war. Ewiger Bernstein. Das Archiv verging, seine Beschützerin hatte jedoch vorgebaut.

      Der Monolith trug Grace in jenes Splitterreich, in das Merlin Clara und Leonardo geschickt hatte. Sie brach den Fluch und rettete sie beide. Und nicht nur das: Sie erbeuteten den Stab von Maginus, der geschaffen worden war, um Sigile an ihrer Rückkehr zu hindern. Damit konnten die Magier dezimiert werden.

      Die nächste Etappe der Reise hatte sie hierhergeführt. Plötzlich standen Anne und Tomoe vor ihnen. Was sie berichteten, machte das Ausmaß von Merlins neuer Ordnung deutlich.

      »Die Archivarin muss einen Plan verfolgen, sonst hätte sie euch nicht hierhergebracht«, ergänzte seine Begleiterin. »Und immerhin haben Anne und ich die Prophezeiung entdeckt.«

      Leonardo hielt nichts von Vorhersagen, das hatte er noch nie. Er war aufgebrochen, um seinen Sohn Piero zu finden. Ein Unterfangen, das katastrophal schiefgegangen war.

      »Wir stapfen durch ein Reich, das aus gewaltigen Trümmern und gelbem Sand besteht«, fasste er zusammen. »Hier scheint nichts Lebendiges mehr zu existieren, und doch bist du noch immer voller Optimismus. Was ist auf der Insel mit dir geschehen?«

      Tomoe hielt ihr Katana umklammert, ließ keinen Augenblick in ihrer Wachsamkeit nach. »Ich habe mit einem alten Freund getanzt, unsere Schwerter haben gesungen und Kirschblüten fielen. Es hat mir klargemacht, wer ich in Wirklichkeit bin. Das hatte ich viel zu lange vergessen.«

      Innerlich lächelte Leonardo. Was auch sonst passiert sein mochte – immerhin das war etwas Gutes. Er kannte Tomoe schon viele Jahre und ihr Weg war noch nie einfach gewesen. Doch endlich schien sie einen Teil des Schattens abgestreift zu haben, der ihre Seele vergiftet hatte.

      »Das klingt, als sei dieser alte Freund genau das, was du gebraucht hast.« Er machte eine ausladende Handbewegung, die Trümmerteile, Sand und Gebäudereste einschloss. »Da du der Archivarin ja Weitsicht unterstellst, hast du eine Idee, was wir hier sollen? Langsam glaube ich, dieses Ziel war ein Unfall.«

      Und nach einer guten Woche an jenem Ort knickte auch Anne ein. Grace suchte Hinweise, damit sie ihre Analysefähigkeiten und ihre Kombinationsgabe einsetzen konnte, doch vergeblich.

      Sie bildeten täglich Gruppen und gingen auf Erkundung, aber abgesehen von gewaltigen Statuen und riesigen Trümmerteilen hatten sie nichts gefunden.

      »Du bist noch so ungeduldig wie früher.« Tomoe lächelte. »Manche Dinge scheinen sich nie zu ändern.« Ihr Blick glitt auf etwas in der Ferne, hinter ihm.

      Er fuhr herum. Doch da war nichts. Oder doch?

      »Ist da …«

      Tomoe setzte sich bereits in Bewegung. Flink pirschte sie in den gelben Nebel. Leonardo blieb hinter ihr, in seiner Hand lag längst der Essenzstab.

      Sie hatten mit mehr als einem Zauber versucht, Licht ins Dunkel dieses Ortes zu bringen. Doch obgleich Magie problemlos funktionierte, enthüllte sie nichts. Im vorliegenden Fall gab es jedoch etwas, das sie tun konnten.

      Tomoe zeichnete ein Symbol in die Luft und murmelte die notwendigen Worte. Eine Windböe fegte den Nebel hinweg. Der Effekt hielt nur wenige Minuten vor, doch das reichte aus.

      »Ein Trümmerfeld«, hauchte Leonardo.

      »Was auch immer hier geschehen ist, die Ruinen sind weit verstreut. Möglicherweise handelt es sich um die Reste von Städten, die über das Splitterreich verteilt waren.«

      »Ein Krieg?«, überlegte er. »Ich habe mehrere davon erlebt, in einem sogar selbst Apparaturen angefertigt, die eingesetzt wurden.«

      In seinem Geist wirbelten die Bilder umher. Er erinnerte sich an Venedig, die Medici und vieles mehr. Auf Gondeln war er durch die Wasserstraßen geglitten, hatte an Maskenbällen teilgenommen und sich in seinen jungen Jahren vergnügt.

      Eine Zeit, die lange zurücklag.

      Eine Ewigkeit.

      In seinem Leben als Nimag, vor der Magie, vor Johanna und Piero.

      »Sind es nicht immer die Kriege, die eine Zivilisation zu Fall bringen?«, fragte Tomoe.

      »Es mag seltsam klingen, aber es kommt durchaus vor, dass Gesellschaften dadurch wachsen.«

      »Auf die falsche Art, möchte ich sagen.«

      »Und da kann ich dir nur zustimmen.« Leonardo erschuf einen Agnosco-Zauber. »Dort vorne. Da ist etwas.«

      Sie eilten zwischen den Ruinen hindurch, wo der Nebel sich das verlorene Territorium zurückeroberte. Immer dichter wurde das Gespinst, sank herab und verschlang die Welt erneut.

      Stufen ragten vor ihnen aus dem Sand, dahinter ein halb eingefallener Eingang. Entgegen ihrer ersten Vermutung, dass die Wesen dieses Splitterreichs von enormer Größe gewesen sein mussten, besaßen die Durchgänge normale Proportionen.

      Von einer Halle zweigten mehrere Gänge ab. Die Böden waren von Mosaiken bedeckt, doch darüber hinaus wies nichts auf die Bewohner hin.

      »Dort.« Tomoe war unvermittelt stehen geblieben und deutete auf einen der Durchgänge »Da lang.«

      »Was ist los?«

      »Ich weiß nicht … Nur ein Gefühl.« Sie ging voraus, doch etwas in ihrer Gestik hatte sich verändert.

      »Tomoe, was ist?«, hakte Leonardo noch einmal nach.

      »Die Bauweise, die Strukturen.« Sie blickte zu Boden. »Die Mosaikmuster. Das habe ich schon mal gesehen.«

      »Wo?«

      Sie schüttelte den Kopf. »In einem Buch? Auf Zeichnungen? Ich weiß es nicht.«

      Erst bei diesen Worten realisierte Leonardo, dass es ihm ähnlich erging. Er war noch nie hier gewesen, das stand fest. Doch etwas an diesem Ort wirkte vertraut.

      Schweigend folgten sie dem Gang, der in eine kleine Halle führte. Zumindest einer Hälfte davon, der Rest war von Sand verschüttet. Das Wenige reichte aus, um die Vermutung zu bestätigen.

      In eine der Wände war ein Satz gemeißelt worden.

      »Möge der Friede erhalten bleiben«, las Tomoe. »Ich denke, wir sollten die anderen holen.«

      Leonardo nickte nur.

      Der Satz an sich war nichts Außergewöhnliches, die Sprache indes durchaus.

      »Wie kann das sein?«, fragte er.

      »Ich habe eine Vermutung«, erklärte Tomoe. »Aber zuerst die anderen.«


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