Das Erbe der Macht - Band 23: Engelsfall. Andreas Suchanek

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Das Erbe der Macht - Band 23: Engelsfall - Andreas Suchanek


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      Kevin hatte seinen Essenzstab bereits auf ihn gerichtet, während Jen und Alex noch realisierten, dass jemand in die Zuflucht eingedrungen war.

      »Wer bist du?«, fragte Kevin.

      »Mein Blut wurde vergossen, jetzt ist es das deine.« Der Unbekannte richtete seinen anklagenden Blick auf Jen. »Auf dem Ball hat es begonnen, beim Untergang hast du es vollendet. Heute endet dein Weg.«

      »Wer bist du?« Sie starrte ihn an, die Augen zusammengekniffen. »Du … Ich kenne dich.«

      Jen sackte zusammen. In einem Augenblick wirkte sie völlig normal, im nächsten verdrehte sie die Augen. Alex konnte sie gerade noch auffangen.

      »Endlich«, flüsterte der Fremde.

      »Du …« Kevin wollte den Immobilus-Zauber aussprechen.

      Doch der Unbekannte war wieder fort.

      »Jen.« Alex legte sie sanft ab und tätschelte ihre Wange. »Hey, wach auf.«

      Sie reagierte nicht. Langsam und gleichmäßig ging ihr Atem, doch die Augen blieben geschlossen.

      Sanft streichelte Alex über Jens Wange. Vom Moment ihrer Bewusstlosigkeit an war er nicht mehr von ihrer Seite gewichen.

      »Was ist passiert?«, fragte Kevin. »Ich dachte, die Bannzauber und der Wald halten alle magischen Attacken fern.«

      Seine Großmutter stand mit verschränkten Armen und Sorge im Blick an der Seite des Krankenbettes. Wesley Mandeville war hinzugekommen, nachdem die Oberste Heilmagierin keinen Grund für die Bewusstlosigkeit hatte finden können.

      »Es ist keine Attacke von außen«, erwiderte Wesley.

      »Erkläre das genauer«, bat Kevins Granny.

      »Meine Gabe versetzt mich in die Lage, Personen innerhalb ihrer Lebenszeit zurückzuversetzen. Hier scheint der umgekehrte Fall vorzuliegen. Es ist wie ein Zeitschatten, der an Jen haftet. Es gleicht einem Fluch.«

      Zögerlich ließ Alex von Jen ab. »Aber die Kleidung des Jungen. Sie sah anders aus, als es heute … Verdammt!«

      »Ein früheres Leben«, sprach Kevin es aus. »In einem davon ist etwas passiert, das sie beeinflusst.« Er hatte sich seine Trainingsjacke übergestreift und einen Säuberungszauber angewendet. »Kannst du das beheben?«

      Wesley schüttelte den Kopf. »Das liegt außerhalb meines Könnens. Um Jen zu helfen, sie aus dem Koma aufzuwecken, müssten wir wissen, weshalb dieser Schemen sich an sie gewandt hat, von welcher Natur der Fluch ist.«

      »Sie wird sterben, das hat er gesagt.« Alex fuhr sich fahrig durch die Haare. »Wir müssen so schnell es geht eine Lösung finden. Aber wenn er aus der Vergangenheit stammt, wie soll uns das dann gelingen?«

      »Zum einen müssten wir exakt wissen, wann der Kerl gelebt hat.« Kevin durchdachte verschiedene Szenarien. »Mit unserer Erinnerung und einem Zauber könnte das möglich sein. Allerdings können wir in den alten Mentigloben nicht mehr suchen. Und selbst wenn es gelingt, die Identität herauszubekommen, könnten wir ihn nur durch eine einzige Möglichkeit finden.«

      »Zeitreise.« Seine Granny sprach das Wort wie eine Krankheit aus. »Ich erinnere mich noch gut an euren Sprung in die 1970er-Jahre. Damals hätte alles geschehen können.«

      »Wir sind heute älter«, merkte Kevin an.

      »Und weiser«, stellte Alex klar.

      Ein belustigtes Funkeln schlich sich in den Blick von Kevins Granny, doch sie kommentierte die Aussagen nicht. »Haben wir denn eine Möglichkeit? Der fixierte Tunnel existiert seit dem Kampf gegen die Schattenfrau nicht mehr und H. G. ist verschwunden.«

      Immer öfter realisierte Kevin, was sie durch die Zerstörung des Castillos und der anderen Häuser verloren hatten. Die Rebellen der Zuflucht besaßen kein Geld, keine Ressourcen. Viel zu langsam bekamen sie einen Zipfel der alten Macht zurück, doch die Gefahr schwebte weiterhin wie ein Damoklesschwert über ihnen.

      »Ich habe eine Idee.« Alex warf sich auf das Krankenbett neben dem von Jen. »Somnus.« Ein kurzer Schwenk mit seinem Essenzstab, und er schlief ein.

      »Jules Verne«, begriff Kevin.

      Kurzerhand legte er sich in ein weiteres der Betten. Es blieb zu hoffen, dass die Oberste Heilmagierin sie nicht bemerkte, sonst würden sie hochkant aus dem Krankenflügel geworfen.

      »Somnus.«

      Die Umgebung verschwand, und dank des Schaltwortes, das Kevin in seinem Unterbewusstsein verankert hatte, trat sein Geist auf die Traumebene ein. Wie immer erschien er dort einfach in einem Gang der Akademie, die Jules Verne leitete.

      »Wo ist Alex?«, fragte er.

      In der Luft erschien ein bernsteinfarbener Nebel, der ihn zu dem Freund führte.

      »Vielleicht weihst du mich das nächste Mal ein«, sagte er vorwurfsvoll.

      »Sorry, ich mache mir Sorgen.«

      »Und wie immer ist unser junger Freund dabei ungestüm.« Jules Verne betrat den Raum.

      Grundsätzlich unterschied dieser sich nicht von einem ganz normalen Zimmer in der Zuflucht. Sah man davon ab, dass die Fenster einen Ausblick auf die Schweizer Alpen gewährten, Blütenduft in der Luft lag und Sonnenschein hereinfiel. Die Zuflucht befand sich aktuell in einem schlammigen Canyon in Amerika. Der Regen schien kein Ende zu nehmen, und der nächste Sprung lag noch einen Tag entfernt.

      Neben ein paar einfachen Möbeln sowie einem Bücherregal gab es ein steinernes Becken im Zentrum. Auf der Oberfläche waren Personen zu erkennen.

      »Jens Traum«, erklärte Jules Verne, der den verblüfften Blick von Kevin bemerkte. »Ich habe gestattet, dass wir Einblick nehmen. Jen mag sich nicht im stabilen Bereich der Traumebene befinden, doch sie träumt.«

      »Es ist mehr als das.« Alex starrte gebannt auf das Wasser.

      Geschwungene Bauten, Anlegestege und Gondeln, dazwischen flanierten lachende Menschen.

      »Venedig«, erkannte Kevin sofort. »Aber wann?«

      Jules Verne betrachtete interessiert, was sich im Becken abspielte. »Schwer zu sagen, doch wenn ich den Schnitt der Kleidung richtig deute, dazu der sichtbare Prunk, handelt es sich um einen Ball. Venedig war für lange Zeit eines der wichtigsten Handelszentren der Welt. Bis zu dem Zeitpunkt, als …«

      »Jetzt bitte keine Lehrstunde«, stoppte Alex den Redefluss.

      Verne seufzte. »Ich sollte einen Kurs für manierliches Benehmen einrichten und dich dazu zwingen, ihn zu besuchen, Alexander Kent.«

      »Er macht sich nur Sorgen um Jen«, sprang Kevin dem Freund zur Seite.

      »Und ich versuche zu helfen«, stellte Verne klar. »Ihr wollt doch die Zeit eingrenzen, aus der der Zeitschatten stammt, nicht wahr?«

      »Tut mir leid«, entschuldigte sich Alex. »Diese Inkarnationssache ist nur komplizierter, als es den Anschein hat. Ohne Erinnerungen zumindest. Jen kann damals auch ein Mann gewesen sein.«

      »Das hatte ich vergessen.« Kevin nickte langsam. »In eurer Inkarnationsfolge wurdet ihr immer wieder mit unterschiedlichen Geschlechtern geboren.«

      Sie wussten, dass Jen und Alex einmal ein männliches Paar gewesen waren. Zum damaligen Zeitpunkt hatte der Freund den Namen Kylian getragen und war mit Johanna, Leonardo und Grace auf der Suche nach Antworten zum alten Pakt gewesen.

      »Das macht es nicht leichter.« Kevin wandte sich Jules Verne zu. »Kannst du uns einen Anhaltspunkt liefern?«

      Die Szenen im Wasser wechselten in kurzer Folge ab. Sie waren Zeuge eines prunkvollen Maskenballs, erlebten eine Verfolgungsjagd magisch angetriebener Gondeln, ein Palazzo stürzte ein, und eine Flutwelle konnte im letzten Augenblick vor Venedig gestoppt werden.


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