Gesang der Fledermäuse. Olga Tokarczuk

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Gesang der Fledermäuse - Olga Tokarczuk


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spitze Nadeln. Wenn mein Blick an ihnen hängen blieb, zitterten meine Lider, das Auge verletzte sich an diesen Holzbauten, die auf Feldern, auf Lichtungen und an Waldrändern in die Höhe schossen. Auf dem ganzen Hochplateau gab es acht Stück davon, ich kannte sie alle genau, denn ich tat mit ihnen dasselbe, was Don Quichotte mit den Windmühlen getan hatte. Sie waren aus über Kreuz genagelten hölzernen Bohlen zusammengezimmert, sie bestanden quasi aus lauter Kreuzen. Diese klobigen Gebilde hatten vier Beine, und auf diesen stand eine Hütte mit Luken oder Fenstern, aus denen geschossen wurde. Kanzeln. Schon immer hatte mich dieser Name irritiert und geärgert. Was für Lehren werden denn von diesen Kanzeln verkündet? Welches Evangelium? Ist das nicht der Gipfel des Hochmuts? Ist es nicht ein teuflischer Einfall, den Ort, von dem aus gemordet wird, Kanzel zu nennen?

      Wenn ich eine von ihnen vor mir sehe, schließe ich die Lider so fest, dass die Umrisse verschwimmen oder das ganze Gebilde fast verschwindet. Das tue ich, weil ich ihre Gegenwart nicht ertrage. Doch es stimmt, dass einer, der begehrt und nicht handelt, die Pest brütet. Das sagt unser Blake.

      Wenn ich so mit zusammengekniffenen Lidern vor einer Kanzel stehe, kann ich mich jederzeit umwenden, um die zackige, scharfe, haarfeine Linie des Horizonts zu sehen. Um über sie hinauszusehen. Dort ist Tschechien. Dorthin flüchtet die Sonne, wenn sie die Schrecknisse hier gesehen hat. Dort zieht meine Göttliche ihre Nachtbahn. Ja, so ist es, die Venus geht in Tschechien schlafen.

      Die Abende verbringe ich so: Ich setze mich in der Küche an meinen großen Tisch und widme mich meiner Lieblingsbeschäftigung. Auf dem großen Tisch steht der Computer, den ich von Dyzio bekommen habe und in dem ich vorwiegend ein Programm benutze. Ich brauche dazu die Ephemeriden, einen Notizblock und einige Bücher. Dazu etwas Trockenmüsli, das ich bei der Arbeit esse, und ein Kännchen Schwarztee, der einzige Tee, den ich trinke.

      Eigentlich könnte ich alles von Hand berechnen, und es tut mir sogar ein bisschen leid, dass ich es nie getan habe. Doch wer benutzt heute noch einen Rechenschieber?

      Wenn ich jedoch einmal in der Wüste irgendein Horoskop berechnen müsste, ohne Computer, ohne Elektrizität und ohne irgendwelche Geräte, dann könnte ich das. Ich bräuchte dazu nur meine Ephemeriden. Sollte mich also je einer fragen (leider wird es niemand tun), welches Buch ich auf eine unbewohnte Insel mitnähme, wäre meine Antwort: Die Ephemeriden der Planeten. 1920–2020.

      Es interessiert mich, ob man aus dem Horoskop eines Menschen sein Sterbedatum ersehen kann. Der Tod im Horoskop. Wie er aussieht. Wie er in Erscheinung tritt. Welche Planeten spielen die Rolle der Moiren? Hier unten, in der Welt des Urizen, gilt ein Gesetz. Vom Sternenhimmel bis hin zum moralischen Gewissen. Es ist ein strenges, erbarmungsloses Gesetz, das ausnahmslos gilt. Wenn es eine Ordnung der Geburten gibt, warum soll es dann nicht auch eine Ordnung des Todes geben?

      Über die Jahre hinweg hatte ich eintausendzweiundvierzig Geburtstage gesammelt und neunhundertneunundneunzig Todesdaten. Und ich führe weiterhin meine kleinen Untersuchungen durch. Ein Projekt ohne EU-Gelder. Ein Küchenprojekt.

      Ich dachte immer, Astrologie soll man durch Praxis lernen. Sie ist eine exakte Disziplin, in hohem Maße empirisch und genauso wissenschaftlich wie etwa die Psychologie. Sie erfordert die genaue Beobachtung einiger Personen in ihrer Umgebung und die Verknüpfung gewisser Momente in ihrem Leben mit der Stellung der Planeten. Man muss auch die Ereignisse, an denen verschiedene Menschen teilgenommen haben, überprüfen und analysieren. Ganz schnell wird man merken, dass ähnliche astrologische Muster ähnliche Ereignisse beschreiben. Das sind die Momente, in denen es zur Initiation kommt. O ja, eine Ordnung besteht und sie ist zum Greifen nahe. Sie wird von den Sternen und Planeten gebildet, wobei der Himmel die Schablone ist, die das Muster unseres Lebens vorgibt. Nach längeren Studien kann man hier auf der Erde aus kleinen Details die Lage der Planeten am Himmel herauslesen. Das Gewitter am Nachmittag, der Brief, den der Postbote in den Türspalt geklemmt hat, die kaputte Glühbirne im Badezimmer. Nichts kann sich der Ordnung entziehen. Auf mich wirkt das wie Alkohol oder wie eines dieser neuen Rauschgifte, die, so stelle ich es mir vor, den Menschen in pure Verzückung versetzen.

      Man muss Augen und Ohren aufsperren, die Fakten miteinander verknüpfen. Man muss Ähnlichkeiten dort erkennen, wo alle anderen diametrale Unterschiede sehen. Man darf nicht vergessen, dass manche Dinge auf einer ganz anderen Ebene geschehen, oder anders gesagt, dass viele Ereignisse nur Aspekte ein und derselben Sache sind. Die Welt ist ein großes Netz, eine Ganzheit, und es gibt nichts, was nicht dazugehört. Auch das allerkleinste Stückchen Welt ist mit anderen verbunden, durch den komplizierten Kosmos der Korrespondenz, der mit normalem Verstand nicht leicht zu ergründen ist. So funktioniert das. Wie ein japanisches Auto.

      Dyzio, der sich gerne weitschweifig über die seltsame Symbolik bei Blake auslässt, hat meine Leidenschaft für die Astrologie nie teilen können. Das kommt daher, dass Dyzio zu spät geboren ist. Seine Generation hat Pluto in der Waage, was ihr Gespür dafür etwas schwächt. Diese Menschen versuchen ein Gegengewicht zur Hölle zu sein. Ich glaube nicht, dass ihnen das gelingen wird. Vielleicht können sie Projekte und Anträge verfassen, aber die meisten von ihnen haben kein Gespür mehr.

      Ich bin in einer schönen Epoche groß geworden, die leider schon vergangen ist. In ihr herrschte sowohl enorme Veränderungsbereitschaft als auch das Vermögen, revolutionäre Visionen zu entwickeln. Heute wagt es niemand mehr, etwas Neues zu denken. Alle sagen nur pausenlos, wie es ist, und spinnen die alten Gedanken weiter. Die Realität ist alt und mürrisch geworden, schließlich unterliegt sie definitiv den gleichen Gesetzen wie jeder lebendige Organismus – sie altert. Ihre kleinsten Bestandteile – die Sinne – unterliegen der Apoptose ebenso wie die Körperzellen. Die Apoptose ist ein natürlicher Tod, der durch Materialermüdung und -abnutzung entsteht. Im Griechischen bedeutet das Wort das »Abfallen der Blätter«. Der Welt sind die Blätter abgefallen.

      Doch danach muss etwas Neues kommen, so ist es immer gewesen – ist das nicht ein komisches Paradoxon? Uranus steht in Fische, und wenn er in den Widder wechselt, dann beginnt ein neuer Zyklus und die Realität wird wiedergeboren. Im übernächsten Frühling.

      Ich habe immer sehr gerne die Horoskope studiert, selbst dann, als ich die Ordnungen des Todes entdeckte. Die Bewegung eines Planeten hat etwas Hypnotisches und Schönes, man kann sie weder anhalten noch vorantreiben. Es ist gut zu denken: Diese Ordnung geht über die Zeit und den Ort von Janina Duszejko hinaus. Es ist gut, sich vollkommen auf etwas verlassen zu können.

      Also: Um den natürlichen Tod zu bezeichnen, überprüfen wir die Position des Hyleg, also desjenigen Himmelskörpers, der für uns aus dem Kosmos die Lebensenergie zieht. Bei tagsüber stattfindenden Geburten ist es die Sonne, bei Nachtgeburten der Mond, und in einigen Fällen regiert der Aszendent den Hyleg. Der Tod tritt üblicherweise dann ein, wenn der Hyleg einen radikal unharmonischen Aspekt vom Herrscher des Achten Hauses oder des darin liegenden Planeten erreicht.

      Wenn ich an die Bedrohung durch einen gewaltsamen Tod denke, muss ich den in diesem Haus platzierten Hyleg, sein Haus und seine Planeten in Betracht ziehen. Ich achte dabei darauf, welcher der schädlichen Planeten – Mars, Saturn oder Uranus – stärker ist als der Hyleg und mit ihm zusammen einen ungünstigen Aspekt bildet.

      An diesem Abend setzte ich mich an die Arbeit und zog das zerknüllte Blatt Papier aus der Tasche, auf das ich mir die Daten von Bigfoot notiert hatte, um zu überprüfen, ob sein Tod ihn zur rechten Zeit heimgesucht hatte. Als ich sein Geburtsdatum eingab, bemerkte ich, dass ich dieses auf ein Blatt aus einem Jagdkalender geschrieben hatte. Die Seite hieß »März«, und in einer Tabelle waren darauf die Figuren der Tiere gezeichnet, die man im März jagen durfte.

      Auf dem Bildschirm vor mir sprang das Horoskop auf und fesselte meinen Blick eine ganze Stunde. Zuerst besah ich mir den Saturn. Der Saturn im fixen Zeichen weist nicht selten auf einen Tod durch Ersticken, Erwürgen oder Aufhängen hin. Zwei Abende lang plagte ich mich mit dem Horoskop von Bigfoot. Dann rief Dyzio an, und ich musste ihn davon abbringen, mich zu besuchen. Sein alter, wackerer Fiat polski wäre in dem Schneematsch stecken geblieben. Nein, Dyzio, diese Seele von Mensch, sollte bei sich daheim im Arbeiterwohnheim Blake übersetzen. Er sollte in der Dunkelkammer seines Geistes polnische Sentenzen aus englischen Negativen hervorholen. Es wäre besser, wenn er am Freitag käme, dann könnte ich ihm alles erzählen


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