Gesang der Fledermäuse. Olga Tokarczuk

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Gesang der Fledermäuse - Olga Tokarczuk


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Asphaltweg zurücklassen müssen.

      Es waren zwei uniformierte Polizisten und einer in Zivil, in einem langen schwarzen Mantel. Bevor sie in ihren schneeverklebten Stiefeln schwer atmend das Haus betraten, waren wir alle hinausgegangen. Meiner Meinung nach war das eine Bezeugung der Höflichkeit und der Wertschätzung gegenüber der Obrigkeit. Die beiden Uniformierten waren kühl und förmlich, und man sah ihnen an, dass sie ihren Ärger über den Schnee, den langen Weg und die allgemeinen Umstände dieses Falls mühsam unterdrückten. Wortlos klopften sie ihre Stiefel ab und verschwanden im Haus. Der im schwarzen Mantel trat unvermittelt zu mir und Matoga.

      »Guten Tag, hallo Papa.« Wirklich, er hatte »hallo Papa« gesagt, und zwar zu Matoga. Ich hätte nie gedacht, dass Matoga einen Sohn bei der Polizei haben könnte, einen Sohn, der einen so komischen schwarzen Mantel trug. Matoga stellte uns einander ziemlich ungeschickt vor, er war verlegen. Sie traten rasch beiseite, ich hatte den Namen des Schwarzmantels kaum verstanden.

      Dann hörte ich, wie der Sohn den Vater mit Vorwürfen überhäufte.

      »Warum, um Himmels willen, hast du ihn angefasst? Hast du nie Filme gesehen? Jeder weiß doch, dass man, ganz egal was passiert, eine Leiche nicht anfasst, bevor die Polizei da war.«

      Matoga wehrte sich schwach, als hätte die Tatsache, dass er mit seinem Sohn sprach, ihm alle Kraft geraubt. Ich hätte eher gedacht, dass es umgekehrt sein müsste, dass man aus einem Gespräch mit dem eigenen Kind viel Kraft schöpft.

      »Er hat schrecklich ausgesehen, du hättest dasselbe getan wie ich. Er ist an irgendwas erstickt, und er war ganz verkrümmt, dreckig … er war schließlich unser Nachbar, und wir konnten ihn doch nicht einfach so am Boden liegen lassen wie ein, wie …« Er rang nach Worten.

      »Ein Tier.« Ich war zu ihnen getreten und vervollständigte den Satz. Es war unerträglich, wie der Schwarzmantel seinen Vater zurechtwies. »Er ist an einem Knochen von einem gewilderten Reh erstickt. Die Rache aus dem Jenseits.«

      Der Schwarzmantel streifte mich mit einem Blick und fuhr fort: »Ich könnte dich anzeigen, weil du die Ermittlungen erschwert hast. Sie übrigens auch.« Er wandte sich an mich.

      »Du machst wohl Witze. Das wäre lächerlich. Der Sohn als Staatsanwalt.«

      Der Sohn beschloss, das unangenehme Gespräch zu beenden.

      »Okay, Papa. Ihr werdet dann später beide eine Aussage machen müssen. Es wird wahrscheinlich eine Obduktion geben.«

      Er klopfte Matoga auf die Schulter mit dieser zärtlichen Dominanzgeste, als hätte er gesagt: »Okay, Alterchen, jetzt lass mich mal die Sache in die Hand nehmen.«

      Dann verschwand er im Haus des Toten, und ich, die ich keine Lösung abwarten wollte, ging heim, mit rauer Kehle. Ich hatte genug.

      Aus meinen Fenstern sah ich den Schneepflug vom Dorf heraufkommen. Wir nannten ihn immer »die Weißrussin«. Die Weißrussin ermöglichte es dem Leichenwagen, einem langen, flachen schwarzen Fahrzeug mit dunklen Gardinen, gegen Abend fast bis zum Haus vorzufahren. Allerdings nicht ganz. Denn als ich gegen vier Uhr, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, auf die Veranda trat, sah ich in der Ferne einen bewegten schwarzen Fleck auf dem Weg – es waren die schnurrbärtigen Männer, die den Wagen mit dem Leichnam des Kollegen tapfer den Weg hinaufschoben, zur ewigen Ruhe im Ewigen Licht.

      *

      Normalerweise läuft mein Fernsehapparat den ganzen Tag, schon zum Frühstück. Das beruhigt mich. Wenn draußen der Winternebel herrscht oder das Morgengrauen schon nach ein paar Stunden unmerklich in Abenddämmerung übergeht, dann scheint mir, als gäbe es dort draußen nichts. Wenn ich nach draußen sehen will, spiegeln die Scheiben nur das Kücheninnere, mein kleines, vollgeräumtes Zentrum des Universums.

      Deshalb der Fernsehapparat.

      Ich habe eine große Programmauswahl. Die Antenne, die wie eine Emailleschüssel aussieht, hat mir Dyzio einmal mitgebracht. Es gibt einige Dutzend Kanäle, doch das ist mir zu viel. Selbst zehn wären zu viel. Selbst zwei. Eigentlich schaue ich nur den Wetterbericht an. Ich hatte diesen Wetter-Kanal gefunden und gleich darauf, glücklich darüber, dass ich alles hatte, was ich brauchte, die Fernbedienung verschusselt. Vom frühen Morgen an begleitet mich also der Anblick von atmosphärischen Wetterfronten, von wunderschönen abstrakten Linien auf Landkarten, blauen und roten, die unaufhaltsam vom Westen näher rücken, über Tschechien und Deutschland. Die Fronten brachten die Luft, die vor Kurzem in Prag geatmet worden war, oder auch in Berlin. Die Luft strömte vom Atlantik herüber, strich über ganz Europa hinweg, man könnte sagen, dass die Meeresluft immer hier in den Bergen war. Besonders mag ich es, wenn die Luftdruckkarten gezeigt werden, die den unerwarteten Widerstand gegen das morgendliche Aufstehen, die Knieschmerzen oder sonst etwas erklären, etwa auch eine unerklärliche Traurigkeit, deren Natur ganz bestimmt in einer Wetterfront liegt, in einer launenhaften Linie, die sich durch die Erdatmosphäre schlängelt.

      Mich bewegen die Satellitenbilder und die Krümmung der Erde. Stimmt es, dass wir auf der Oberfläche einer Kugel leben, dem Blick der Planeten ausgesetzt, in eine große Leere geworfen, in die das Licht nach dem Untergang in kleine Stückchen zersplittert und verspritzt wurde? Es stimmt. Wir sollten uns das täglich vor Augen halten, denn sonst vergessen wir es. Wir glauben, wir seien frei und dass Gott uns verzeiht. Ich persönlich denke anders darüber. Jede unserer Taten, in winzige Vibrationen der Photonen verwandelt, fliegt letztlich in den Kosmos, wie ein Film, und die Planeten werden sie bis ans Ende der Tage ansehen.

      Wenn ich mir Kaffee mache, kommt meistens der Wetterbericht für Skifahrer. Die raue Welt der Berge, Abhänge und Täler werden gezeigt, und die inkonsequente Schneedecke bedeckt mit ihrem Weiß nur an wenigen Stellen die schorfige Erdkruste. Im Frühling sind die Skiorte von Allergikern bevölkert, und das Bild kriegt Farbe. Weiche Linien bezeichnen die Gebiete mit ihren Bedrohungen. Wo es rot ist, sind die Attacken der Natur am heftigsten. Diese hat den ganzen Winter über im Winterschlaf gelegen, um jetzt zum Schlag auf das filigrane Immunsystem des Menschen auszuholen. Irgendwann wird sie uns auf diese Art völlig von der Erde verjagen. Vor den Wochenenden kommen die Wetterberichte für Autofahrer, doch deren Realität beschränkt sich auf einige wenige Striche im Reich der Autobahnen. Die Aufteilung der Menschen in drei Gruppen – Skifahrer, Allergiker und Autofahrer – überzeugt mich ganz und gar. Eine simple und gute Typologie. Skifahrer sind Hedonisten. Sie verbreiten sich über die Abhänge. Die Autofahrer hingegen wollen das Schicksal in ihre Hände nehmen, auch wenn dabei oft die Wirbelsäule leidet. Das Leben ist eben einfach schwer. Dann die Allergiker – immer im großen Krieg. Ich gehöre ganz sicher zu den Allergikern.

      Ich würde mir noch einen Kanal zum Thema Sterne und Planeten wünschen. »Kosmische Einflüsse TV« oder etwas Ähnliches. So ein Fernsehen bestünde eigentlich nur aus Karten, es würde Einflusslinien zeigen, die Felder der Planetenvernichtung. »Sehr geehrte Damen und Herren, über der Ekliptik wird nun allmählich der Aufgang des Mars sichtbar, dessen Bahn gegen Abend von der Einflussbahn des Pluto durchkreuzt wird. Wir möchten Sie bitten, Ihre Autos in der Garage oder auf überdachten Parkplätzen abzustellen, bitte räumen Sie auch die Messer weg, seien Sie vorsichtig, wenn Sie in den Keller hinuntergehen, und solange dieser Planet auf seinem Weg durch das Zeichen des Krebses ist, empfehlen wir Ihnen, auf heiße Bäder zu verzichten und bei Familienstreitigkeiten eher einen Rückzieher zu machen.« So oder so ähnlich würde uns eine schlanke, ätherische Moderatorin informieren. Und wir wüssten, warum die Züge heute Verspätung hatten, warum der Briefträger mit seinem Cinquecento im Schnee stecken blieb, warum die Mayonnaise nichts geworden ist und die Kopfschmerzen ohne Tabletten plötzlich von selbst verschwanden, wie sie gekommen waren. Wir wüssten, wann man mit dem Haarfärben beginnen soll und zu welchem Zeitpunkt man am besten Hochzeiten plant.

      Am Abend betrachte ich die Venus, ich verfolge die Wandlungen dieses schönen Himmelskörpers besonders akribisch. Sie ist mir lieber als der Abendstern, wenn sie aus dem Nichts auftaucht, wie hervorgezaubert, und hinter der Sonne nach unten sinkt. Ein Funken des Ewigen Lichts. In der Dämmerung passieren die interessantesten Dinge, denn dann verschwimmen die einfachen Unterschiede. Ich könnte in ewiger Dämmerung leben.

      4 999 Tode

      »Wer


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