Gesang der Fledermäuse. Olga Tokarczuk

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Gesang der Fledermäuse - Olga Tokarczuk


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Stirnen, ihr Lächeln. Und schon war mein Körper bereit für das zärtliche Begrüßungsritual.

      Doch das Haus war ganz leer. Kaltes Weiß fiel durch die Fenster in weichen Wellen nach innen, und das ganze große Hochplateau drängte herein. Ich verwahrte den Rehkopf in der Garage, wo es kalt war, und ich legte Holz nach. So wie ich war, ging ich ins Bett und schlief wie eine Tote.

      »Frau Janina.«

      Und kurz darauf, lauter: »Frau Janina.«

      Eine Stimme im Flur weckte mich. Tief, männlich, schüchtern. Jemand stand im Flur und rief meinen mir verhassten Namen. Das erboste mich doppelt, erstens, weil ich schon wieder am Schlafen gehindert wurde, und zweitens, weil ich meinen Namen weder mochte noch akzeptierte. Er war mir zufällig und gedankenlos verliehen worden. So ist das, wenn der Mensch nicht an die Bedeutung der Worte und noch weniger der Namen denkt, und sie einfach drauflos verwendet. Mich mit »Frau Janina« anzusprechen, konnte ich niemandem gestatten.

      Ich stand auf, strich meine Kleidung glatt, die nicht besonders schön aussah, nachdem ich zwei Nächte darin geschlafen hatte, und verließ das Zimmer. Im Flur standen in einer Pfütze aus geschmolzenem Schnee zwei Männer aus dem Dorf. Beide waren groß, breitschultrig und schnurrbärtig. Sie waren einfach eingetreten, weil die Tür nicht abgesperrt gewesen war, und sie sahen mich schuldbewusst an.

      »Wir möchten Sie bitten, dorthinzukommen«, sagte der eine mit rauer Stimme. Sie grinsten entschuldigend, und ich sah, dass sie fast identische Zähne hatten. Irgendwoher kannte ich sie, sie arbeiteten als Holzfäller. Ich hatte sie schon einige Male im Dorfladen gesehen.

      »Dort komme ich gerade her«, brummte ich.

      Sie sagten, die Polizei sei noch nicht da gewesen, und sie warteten auf den Pfarrer. Der Weg sei über Nacht zugeschneit. Sogar der Weg nach Tschechien und nach Wrocław sei nicht befahrbar, und die Lkw steckten in langen Staus. Nur die Nachrichten verbreiteten sich schnell in der Gegend, und einige Bekannte von Bigfoot seien zu Fuß gekommen. Schön zu hören, dass er Bekannte hatte. Die Widrigkeiten des Wetters wirkten sich offenbar positiv auf ihre Laune aus. Sie nahmen es lieber mit dem Schneegestöber auf als mit dem Tod.

      Sie pflügten sich durch den flaumigen, frischen weißen Schnee, dem die kalte Wintersonne rote Wangen verlieh, und ich folgte ihnen. Die Männer bahnten mir den Weg. Beide trugen hohe Stiefel aus starkem Gummi mit hohen Filzschäften, was hier die einzige Wintermode für Männer war. Mit ihren breiten Sohlen traten sie für mich eine kleine Rinne frei.

      Vor dem Haus standen einige weitere Männer und rauchten. Sie verbeugten sich unsicher und wichen meinem Blick aus. Der Tod eines gemeinsamen Bekannten raubt jedem die Selbstsicherheit. Sie hatten alle den gleichen Gesichtsausdruck aus feierlichem Ernst und förmlicher Trauer. Sie sprachen mit gedämpften Stimmen. Wer fertig geraucht hatte, ging ins Haus.

      Alle, ohne Ausnahme, hatten Schnurrbärte. Sie standen düster um die Couch mit der Leiche herum. In einem fort ging die Tür auf und neue Männer kamen herein, sie brachten Schnee und den metallischen Geruch des Frostes mit. Es waren hauptsächlich ehemalige Arbeiter der staatlichen Landwirtschaftsbetriebe, die jetzt arbeitslos waren und ab und zu beim Abholzen des Waldes halfen. Einige von ihnen fuhren nach England zum Arbeiten, doch irgendwie kamen sie alle schnell wieder zurück, weil das Fremdsein ihnen Angst machte. Oder sie führten hartnäckig ihre kleine unrentable Landwirtschaft weiter, die sie dank EU-Finanzierungen knapp am Leben erhalten konnten. Nur Männer.

      Der Raum dampfte von ihrem Atem, es roch leicht nach Alkohol, Tabak und feuchter Kleidung. Sie warfen einen Blick auf die Leiche, verstohlen und schnell. Sie zogen vernehmlich die Nase hoch, doch es war schwer zu sagen, ob das vom Frost kam. Vielleicht waren diesen riesigen Männern doch die Tränen in die Augen gestiegen? Und nachdem diese dort nicht gesehen werden durften, hatten sie sich in der Nase einen unauffälligen Ausgang gesucht? Weder Matoga noch sonst ein bekanntes Gesicht war unter ihnen.

      Einer zog aus der Tasche eine Handvoll Teelichter und reichte sie mir mit einer derart selbstverständlichen Geste, dass ich reflexartig danach griff, ohne zu wissen, was ich damit tun sollte. Erst nach einiger Zeit begriff ich. Aha, ich sollte um Bigfoot herum die Lichter aufstellen und sie anzünden, dann würde es ernst und feierlich werden. Vielleicht könnten die Flammen den Tränen helfen zu fließen und in die langen Schnurrbärte zu sickern. Das würde allen gut tun. Ich hantierte also mit den Kerzen herum, und dabei fürchtete ich, sie könnten mein Engagement falsch verstehen. Sie hielten mich offenbar für die Zeremonienmeisterin, für die Anführerin einer Bestattungsveranstaltung, denn als die Kerzen brannten, wurde es plötzlich still, und alle hefteten ihre traurigen Blicke auf mich.

      »Fangen Sie an«, flüsterte der eine, den ich zu kennen glaubte. Ich wusste nicht, was er meinte.

      »Fangen Sie an zu singen.«

      »Was soll ich denn singen?« Ich wurde ernstlich nervös. »Ich kann nicht singen.«

      »Egal was«, sagte er, »am besten die Ewige Ruhe.«

      »Warum ich?«, flüsterte ich gereizt.

      Und der neben mir stehende Mann sagte entschlossen: »Weil Sie eine Frau sind.«

      Ach so. So sind heute also die Akzente verteilt. Ich wusste zwar nicht, was mein Geschlecht mit dem Singen zu tun haben könnte, aber ich wollte mich ausgerechnet in diesem Moment auch nicht gegen die Tradition auflehnen. »Der Herr gebe ihm die Ewige Ruhe.« Ich erinnerte mich an dieses Lied von anderen Begräbnissen in meiner Kindheit. Als Erwachsene war ich kaum noch auf Begräbnisse gegangen. Ich konnte mich nicht mehr an den Text erinnern. Es stellte sich jedoch heraus, dass es genügte, nur den Beginn zu summen, und der Chor der rauen Stimmen fiel unverzüglich ein und kam meinem kläglichen Stimmchen zu Hilfe. Daraus entstand eine wacklige, falsche Mehrstimmigkeit, die allerdings bei jeder Wiederholung an Kraft gewann. Auch mir selber wurde plötzlich leichter zumute, meine Stimme wurde fester, und schnell fielen mir die schlichten Worte vom Ewigen Licht wieder ein, in dem, wie wir alle glaubten, Bigfoot nun ruhte.

      So sangen wir etwa eine Stunde lang, immer dasselbe, bis die Worte ihre Bedeutung verloren hatten, als seien sie Steinchen in einem Meer, die, endlos von den Wogen glattgeschliffen, einander glichen wie zwei Sandkörner. Tatsächlich verschaffte uns das Erleichterung, der vor uns liegende Leichnam wurde immer unwirklicher, bis er nichts anderes mehr war, als der Vorwand für diese Begegnung schwer arbeitender Menschen auf unserem windigen Hochplateau. Wir sangen vom Licht, das es irgendwo in der Ferne gibt und das vorerst nicht sichtbar ist. Um es zu erblicken, braucht man nichts anderes zu tun, als zu sterben. Jetzt sehen wir es durch eine Scheibe im Zerrspiegel, doch einmal werden wir ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Und dieses Licht wird uns umarmen, denn es ist unsere Mutter, und aus ihm sind wir entstanden. Jeder von uns trägt ein Teilchen davon in sich, auch Bigfoot. Drum sollte der Tod für uns etwas Tröstliches sein.

      Das alles kam mir beim Singen in den Sinn, doch eigentlich habe ich niemals an eine wie auch immer geartete persönliche Zuteilung des Lichts geglaubt. Kein Herrgott wird sich damit befassen, kein himmlischer Buchhalter. Keine Einzelperson könnte so viel Leid aushalten, am wenigsten eine Allwissende. Sie müsste unter dem Druck dieses Schmerzes zerbrechen, es sei denn, sie hätte sich beizeiten mit einem wirksamen Verteidigungsmechanismus ausgerüstet, wie der Mensch. Nur eine Maschine wäre imstande, den ganzen Schmerz der Welt auszuhalten. Nur eine Maschinerie, simpel, effektiv und zweckmäßig. Und da nun sowieso alles mechanisch ablaufen sollte, waren unsere Gebete unnötig.

      Als ich hinausging, sah ich, dass die Schnurrbärtigen, die den Pfarrer gerufen hatten, ihn gerade vor dem Haus begrüßten. Er hatte nicht gleich herkommen können, war in den Schneeverwehungen stecken geblieben, und erst jetzt war es gelungen, ihn mit einem Traktor zu holen. Pfarrer Raschel (so nannte ich ihn in Gedanken) schüttelte seine Soutane und sprang mit einer Dankesgeste vom Traktor. Ohne jemanden anzusehen ging er rasch ins Haus. Er ging so nahe an mir vorbei, dass mich sein Geruch anwehte: Kölnisch Wasser und Rauch aus dem Kamin.

      Matoga hatte alles ausgezeichnet organisiert. In seinem Arbeitspelz, als Zeremonienmeister, schenkte er aus einer großen chinesischen Thermoskanne Kaffee in Plastikbecher, die er an die Trauernden verteilte. Wir standen vor dem Haus und tranken heißen, süßen


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