Jedermannfluch. Manfred Baumann

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Jedermannfluch - Manfred Baumann


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auch, wahrscheinlich Hunderte Mal. Ich kann mich noch erinnern, als sie, da war sie vielleicht sieben, die alte Platane erklimmen wollte, um noch eine bessere Aussicht zu erhalten.«

      Sie schloss die Augen. Vielleicht ließ sie im Inneren die eben geschilderte Begebenheit nochmals ablaufen, zur Erinnerung an ihre Schwester, die damals wohl ein glückliches Kind mit sieben Jahren war und die jetzt als lebloser Körper in einer der Kühlboxen der Salzburger Gerichtsmedizin lag.

      Er wartete. Er ließ ihr Zeit, behutsam aus ihren von glücklichen Momenten überstrahlten Erinnerungen wieder in die harte Realität zurückzukommen.

      Immerhin hatte sich nunmehr eine der Fragen geklärt, die ihm und gewiss wohl auch seinem Kollegen Otmar durch den Kopf schwirrten. Isolde Laudess hatte den Weg über die Nonnbergstiege gewählt, weil sie das immer so machte. Egal, zu welcher Tageszeit. Er nahm wahr, dass sie langsam wieder ihre Augen öffnete.

      »Entschuldigen Sie, Herr Kommissar, jetzt kann ich mich wieder ganz Ihren Fragen widmen.«

      Er wollte ihr trotzdem noch etwas Zeit geben. Er deutete mit der Hand zum Fenster, durch das man den traumhaften Ausblick auf den Kapuzinerberg hatte.

      »Die Salzburger Festspiele haben Ihnen wirklich eine wunderbare Wohnung zur Verfügung gestellt, Frau Laudess. Dass Sie heuer in Salzburg zugegen sind, freut nicht nur die Festspiele, sondern auch viele Salzburger und Salzburgerinnen, wie ich weiß. Immerhin waren Sie schon sehr lange nicht mehr in Ihrer Geburtsstadt, wenn ich richtig informiert bin. War es für Sie von Anfang an klar, dass Sie ein Appartement beziehen würden? Hätten Sie auch bei Ihrer Schwester wohnen können? Oder wäre das nicht möglich gewesen?«

      Es kam ihm vor, als würden plötzlich ihre Augen überschattet. Nur ganz kurz.

      Dann war ihr Antlitz schon wieder in jene freundliche Miene gekleidet, mit der sie ihn auch begrüßt hatte. Sie löste die verschränkten Finger, griff nach ihrem Glas.

      Sie trank es zur Hälfte aus. Dann blickte sie ihn direkt an.

      »Ich will gar nicht lange um den heißen Brei herumreden, Herr Kommissar. Außerdem werden Sie im Zuge Ihrer Recherchen gewiss auf den einen oder anderen Hinweis stoßen. Eine abfällige Bemerkung im Internet ist gewiss leicht zu finden, eine Andeutung von irgendjemandem aus der Kollegenschaft schnell geliefert. Und es ist ja nicht so, dass Ähnliches nicht auch in anderen Familien vorkommt. Ich spreche es also lieber selber ganz klar aus. Isolde und ich verstehen uns …« Sie zuckte kurz zusammen. Er wartete, ob der Hauch des Schattens sich wieder zeigen würde. Doch sie sprach schon weiter, im gleichen Tonfall. Nur in den Augen vermeinte er wieder die Trauer zu erkennen. »Entschuldigen Sie, bitte, es muss wohl heißen, ›verstanden uns‹. Aber es fällt mir schwer, die unvorstellbar brutal hereingebrochene Wahrheit zu akzeptieren, dass Isolde nicht mehr am Leben ist. Und dass wir genau genommen nur Halbschwestern waren, macht es um keinen Deut leichter.« Wieder griff sie nach dem Glas, nahm einen tiefen Schluck.

      »Also dann. Isolde und ich, wir verstanden uns nicht allzu gut. Das war schon in unserer Kindheit so. Mein Vater starb, als ich drei war. Als ich fünf war, heiratete meine Mutter wieder. Etwa ein Jahr später kam Isolde zur Welt. Mein Stiefvater war gewiss ein netter Mann. Endlich hatte meine Mutter sich einen Traum erfüllt und einen begeisterten Wagnerfan geheiratet. Er stammte noch dazu aus Bayreuth. Meine Mutter hatte oft davon geschwärmt, Salzburg zu verlassen und ins Wagner-Mekka Bayreuth zu übersiedeln. Doch daraus wurde nichts. Mein Stiefvater verließ uns bald, ließ sich scheiden und nahm ein lukratives Jobangebot in Australien an. Dass bei dieser Entscheidung auch eine attraktive Frau eine Rolle spielte, hat meine Mutter im Grunde nie überwunden. So blieb der glühende Wagnerfan wieder alleine, mit Isolde und mir. Kein Bayreuth. Dafür weiterhin Salzburg, die Pilgerstätte der Mozartfangemeinde.«

      Merana horchte auf. Er dachte an die Namen der beiden Schwestern. Eine Ahnung beschlich ihn. »Wagnerfan? Hat Ihre Mutter Sie beide deswegen so benannt?« Nun kehrte das Lächeln zurück in ihre dunklen Augen. Sie nickte. »Ja, das ist der einzige Grund dafür. Aber es hätte weit schlimmer kommen können. Brünnhilde oder Wellgunde hat sie uns immerhin erspart.« Das Lächeln erlosch. Merana war kein ausgesprochener Wagnerkenner, bei Weitem nicht. Aber ein wenig kannte er sich schon in dessen Opernwelt aus. Der Name Senta stammte aus der romantischen Geschichte rings um den »Fliegenden Holländer«. Senta verliebt sich in den geisterhaften Seefahrer und erlöst ihn von dessen Fluch durch ihren eigenen Tod, wie er wusste. Und Isolde ist die irische Königstochter aus einer anderen Wagneroper, die sich unsterblich in den Helden Tristan verliebt.

      »Lebt Ihre Mutter noch?«

      Ihr Kopfschütteln war deutlich zu bemerken. Die rötlich schimmernden Locken zuckten.

      »Leider nein, sie ist vor vier Jahren gestorben. Auch mein Stiefvater lebt nicht mehr. Er starb vor zwei Jahren in Melbourne, wie ich von Isolde erfahren habe.«

      »Die Gründe, warum Sie und Ihre Schwester sich schon seit Ihrer Kindheit nicht sehr nahe standen, tun im Augenblick nichts zur Sache. Aber wie war es in der Gegenwart? Tauchten irgendwelche Probleme auf, wenn Sie miteinander auf der Bühne standen? Gab es Spannungen?«

      Die freundliche Miene im Augenspiel kehrte zurück. Sie beugte sich leicht nach vorn.

      »Aber nein, Herr Merana, so schlimm dürfen Sie sich das auch nicht vorstellen. Wir hatten immer wieder Kontakt in den letzten Jahren. Wir gingen einander ja auch nicht aus dem Weg. Sonst wäre ich wohl gestern auch nicht zur Feier ins ›K+K‹ mitgekommen. Unser Umgang war vielleicht etwas reservierter als unter Verwandten üblich. Da zeigten sich halt zwei Halbschwestern, die einander zwar nicht viel zu sagen hatten, aber die schon wussten, wie man sich professionell und zivilisiert verhält.« Plötzlich richtete sie sich auf, ihr Oberkörper straffte sich.

      »Halbschwester!« Sie klopfte sich gegen die Stirn. »Mein Gott, unsere Mutter ist gestorben, somit bin ich ja die einzig lebende Verwandte. Ich muss mich augenblicklich um die Bestattung und all den Kram kümmern, der damit verbunden ist.« Sie sah ihn direkt an. »Wann geben Sie den Leichnam meiner Schwester frei?«

      Er zuckte leicht mit den Schultern.

      »Das wird die Staatsanwaltschaft in Absprache mit der Gerichtsmedizin entscheiden.«

      Die freundliche Miene erlosch. Ein rätselhafter Ausdruck schlich sich in ihre Augen. Ihr lauernder Blick erinnerte ihn an das Porträt einer ihrer Bühnenfiguren, das er vor Kurzem gesehen hatte. Da war sie in die Rolle der antiken Medea geschlüpft.

      »Ich weiß zwar immer noch nicht, was meiner Schwester genau zugestoßen ist. Aber es dürfte sich nicht bloß um einen bedauerlichen Unfall handeln. Sonst würde nicht die Kriminalpolizei involviert sein. Können Sie mir wenigstens dazu mehr sagen, Herr Kommissar?« Die letzten Worte hatte sie lauter gesprochen, dabei jede Silbe extra betont. Als stünde sie immer noch als Medea auf der Bühne. Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich hoffe, dass ich Ihnen bald mehr Einblick verschaffen kann, Frau Laudess. Im Augenblick geht das leider noch nicht. Werden Sie Salzburg verlassen? Wenn ja, bitte ich Sie, mir bekannt zu geben, wo ich Sie erreichen kann.«

      Nun warf ihm Medea einen nahezu verächtlichen Blick zu. »Ich bleibe natürlich hier. Erstens habe ich mich um das Begräbnis zu kümmern. Und zweitens habe ich morgen zwei Termine. Vormittags mit den Festspielfreunden und abends die nächste ›Jedermann‹-Vorstellung.«

      »Sie wollen sich tatsächlich morgen zum Domplatz begeben und auftreten?« Ihre Ankündigung verblüffte ihn. »Werden Sie das schaffen, Frau Laudess? Vielleicht sollten Sie besser überlegen …«

      »Hier gibt es nichts zu überlegen, Herr Kommissar.« Sie schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Ich bin Schauspielerin. Das ist mein Beruf. Meine Gefühlslage, welcher Art auch immer, hat weit hinten anzustehen. Das Publikum interessiert nicht, welchen Launen oder sonstigen Schwankungen ich gerade ausgesetzt bin. Es will mich auf der Bühne sehen. Und zwar in meiner Rolle! Deshalb spiele ich!« Sie griff nach der Karaffe und schenkte sich erneut das Glas voll. Im Trinken beruhigte sie sich langsam. Das war ihr deutlich anzusehen. Medea zog sich zurück. Die Augen blickten wieder freundlicher. Jetzt noch ein ebenso verschmitztes wie gewinnendes Lächeln, und schon hätte


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