Jedermannfluch. Manfred Baumann
Читать онлайн книгу.zu werden. Zumindest, was das Wetter anbelangte. Ansonsten konnte der Kommissar noch nicht abschätzen, ob dieser Tag noch irgendeinen schönen Moment für ihn bereithielt. Immerhin befand er sich auf dem Weg zu einem Ort, an der die Leiche einer jungen Frau lag. Ob Unfallstelle oder Tatort würde sich wohl noch erweisen. Er eilte in die Gasse, sah die Fahrzeuge der Tatortgruppe, dahinter zwei weitere Streifenwägen. Der Aufgang zur Nonnbergstiege war ebenfalls mit gelben Absperrungen versehen. Auch hier waren zwei uniformierte Kollegen postiert. Zwei weitere kümmerten sich um die Passanten, die, aus der Innenstadt kommend, die Gasse entlang wollten. Einige harrten aus, wollten sich nicht weiterschicken lassen. Schaulustige, Neugierdsnasen, Merana kannte das zur Genüge aus vielen ähnlichen Situationen. Er blickte kurz nach oben. Vor einer Stunde hatte er die Festung noch aus der Entfernung gesehen, war in Begleitung eines zutraulichen Hundestrawanzers quer durch die gefällige Landschaft von Aigen getrabt. Er hatte den Anblick der mächtigen Burg genossen, wie immer. Er hätte nicht gedacht, dass er kaum zwei Stunden später sich direkt am Fuß des Festungsberges einfinden würde. Nicht, um den prächtigen Blick auf die Burg aus direkter Nähe auszukosten, sondern um einen mysteriösen Todesfall zu untersuchen. Wann bin ich diese steinernen Stufen eigentlich das letzte Mal nach oben gestiegen? Das muss vor rund einem Monat gewesen sein, überlegte er, als er die Großmutter aus dem Pinzgau bei sich hatte. Die alte Frau, immer noch rüstig, hatte es sich nicht nehmen lassen, den Weg zum Frauenkloster und weiter bis zur Festung über diesen zauberhaften Aufgang zu nehmen.
»Nochmals einen guten Morgen, Martin.«
»Hallo, Otmar.« Der Abteilungsinspektor erwartete ihn auf einer der ersten Stufen. Er reichte ihm die Hand. »Was für ein prächtiger Sommermorgen. Es wäre weitaus angenehmer, an den Wolfgangsee zu fahren. Aber was machen wir? Wir begeben uns zu einem Platz, an dem eine Leiche liegt. Kannst du mir schon mehr über die Tote sagen als vorhin am Telefon?«
»Zumindest haben wir die offizielle Bestätigung. Bei der Toten handelt es tatsächlich um Isolde Laudess.«
Also doch. Laudess. Er hatte schon befürchtet, dass es stimmte. Dabei handelte es sich nicht einfach um irgendeinen Namen. Laudess. Dahinter verbarg sich viel. Der Name kündete von Erfolg und Ruhm. Von großer Publikumsbegeisterung genauso wie von nahezu hymnischem Kritikerzuspruch. Und das nicht nur in Salzburg während der Festspielzeit, sondern das ganze Jahr über im gesamten deutschsprachigen Raum. Allerdings war die geballte Aufmerksamkeit dabei nicht auf den Vornamen Isolde gerichtet. Die frenetische Begeisterung galt Senta Laudess, der derzeitigen Buhlschaft bei den Salzburger Festspielen. Senta Laudess, gefeierter Star auf den Bühnen bedeutender Theaterhäuser. Dazu kam eine Reihe glänzender Auftritte in Film- und Fernsehproduktionen. Nicht wenige davon mit großen Preisen ausgezeichnet. Genau darauf hatte auch der Chef Bezug genommen. Merana hatte noch während der Herfahrt mit ihm telefoniert.
»Immerhin geht es hier um die Schwester der großen Senta Laudess, der von allen gefeierten Buhlschaft im heurigen Festspiel ›Jedermann‹. Da will ich überhaupt keine Diskussion, Martin. Ich wünsche, dass sich der Chef unserer Kriminalpolizei höchstpersönlich genau dieses Falles annimmt. Um die oberschlauen Kollegen aus dem Innenministerium soll sich gefälligst Carola kümmern. Das schafft sie locker. Wer weiß, ob es tatsächlich neue Verdachtsmomente gibt, wie sie behaupten. Oder ob die Herren Terrorspezialisten wieder einmal das Gras wachsen hören, wo noch nicht einmal die Spitze eines Halms aus dem Boden hervorlugt. Du wirst dich gefälligst um die rasche Auflösung dieses Verbrechens bemühen, Herr Kommissar. Eine junge Frau liegt tot am Aufgang zum Nonnbergkloster. Und dabei handelt es sich nicht um irgendein dahergelaufenes Salzburger Mädel, sondern um die Schwester der Salzburger Buhlschaft. Du bist ja gewissermaßen Stammgast im Festspielbezirk, kennst dich in jedem Winkel des Festspielhauses aus, bist mit allen dort per Du. Genau so einen Mann brauchen wir jetzt, um den Fall im Höchsttempo aufzuklären. Immerhin blickt die halbe Welt nach Salzburg wegen der berühmten Festspiele, in diesem Sommer noch mehr als sonst.«
Wie immer hatte sein Chef maßlos übertrieben. Dass die kulturinteressierte Welt ihre Aufmerksamkeit heuer noch stärker als sonst auf Salzburg richtete, stimmte schon. Immerhin feierten die Festspiele ein großes Jubiläum. Aber dass er, Martin Merana, »gewissermaßen Stammgast« im Festspielbezirk wäre, traf einfach nicht zu. Gut, der Zufall hatte ihn in den letzten Jahren immer wieder mal in diese Szenerie geführt. Er hatte den Mord an einer bedeutenden Sängerin aufgeklärt, an der gefeierten Darstellerin der Königin der Nacht in Mozarts »Zauberflöte«. Und davor war es ausgerechnet das »Jedermann«-Spektakel gewesen, das Merana erstmals in beruflichen Kontakt mit den Salzburger Festspielen brachte. Auf der »Jedermann«-Bühne war der bekannte Schauspieler Hans Dieter Hackner gelegen. Mit einem nachgemachten Renaissancedolch in der Brust. Und Merana musste sich damals die Frage stellen, wer um alles in der Welt ausgerechnet Hackner, dem gefeierten Darsteller des Todes, den Tod geschickt hatte. Er hatte die Frage schließlich beantworten können. Aber das war es schon im Großen und Ganzen gewesen, was ihn bei seiner Ermittlungsarbeit ins Reich der Festspiele geführt hatte. Keine Rede davon, dass er sich »in jedem Winkel« des ohnehin äußerst unübersichtlichen riesigen Festspielhauses auch nur halbwegs auskannte. Und die Anzahl der Menschen, mit denen er im Laufe seiner Arbeit auf das Du-Wort gekommen war, ließ sich locker an den Fingern einer Hand abzählen. Auf keinen Fall zählte da jemand aus dem Kreis der verantwortlichen Persönlichkeiten dazu. Er war mit einem der Beleuchtungsmeister per Du und noch mit ein paar gewiss sehr fachkundigen, aber eher unauffälligen Leuten, die vor allem im Hintergrund agierten.
»Ich gehe voran, Martin«, ließ Otmar Braunberger sich vernehmen und nahm die nächsten Stufen. Merana folgte seinem Abteilungsinspektor. Der Stufenaufgang bildete eine eigene schmale Gasse, flankiert von Fassaden hoher alter Häuser, die links und rechts emporragten. Dem Gemäuer war immer wieder deutlich anzumerken, dass der ansteigende Klosteraufgang schon sehr alt war. Nach etwa 30 Metern rückte ein Teil der zur Kaigasse gelegenen Häuserfront etwas von der immer noch steil ansteigenden Treppe ab. Dadurch ergab sich ein schmaler Freiraum, etwa zwölf Meter lang und an der breitesten Stelle etwa vier Meter tief. Der Untergrund war aus Steinen geformt, teilweise von Moos überwuchert. An der aufragenden Seitenmauer, die zur steil ansteigenden Treppe auf der rechten Seite gehörte, hatte sich allerlei Gesträuch und Blattwerk angesiedelt. Sie wichen zwei Kollegen der Tatortgruppe aus, die damit beschäftigt waren, Teile der Umgebung mittels Kameras festzuhalten. Andere sammelten Proben ein. Am hinteren Teil des Freiraums, knapp bevor die Häuserfront wieder im rechten Winkel zur Treppe stieß, erkannte Merana die Gerichtsmedizinerin. Der Körper der Frau, neben dem sie kniete, war bizarr verrenkt. Das konnte der Kommissar auch aus der Entfernung feststellen. Braunberger hielt inne, ließ dem Kommissar den Vortritt. Auch Merana blieb stehen, als schiene er abzuwarten. Fast zwei Minuten verharrte er in dieser Position. Erst dann macht Merana den nächsten Schritt, blieb wiederum stehen, wartete, ehe er einen weiteren Schritt und dann behutsam den nächsten setzte.
»Guten Morgen, Martin.« Die Gerichtsmedizinerin hatte noch nicht einmal den Kopf gehoben. Offenbar wusste sie auch so, dass er sich behutsam näherte.
»Hallo, Eleonore.«
Er blieb stehen, ließ sich neben ihr nieder, stützte die Arme auf die Knie. Er vermeinte, zweierlei wahrzunehmen. Die entschlossen anmutende Ausstrahlung der Ärztin, die jeden Handgriff mit professioneller Routine setzte. Und zugleich glaubte er, eine Art Aura zu verspüren, die den Platz umgab, auf dem die Tote lag. Offenbar war die junge Frau mit dem Hinterkopf aufgeschlagen, stellte er fest. Die dunkle Lache auf dem Untergrund war nicht sehr groß. Das Blut war längst eingetrocknet. Die Augenlider der Leiche waren offen. Die gebrochenen Augen starrten glasig in den Himmel. Er richtete seinen Blick zur Ärztin. »Kannst du mir schon Näheres sagen, Eleonore?«
Die Medizinerin wandte sich ihm zu, dann wies sie mit dem Kopf zur ansteigenden Steintreppe. Die Stützmauer war an dieser Stelle etwa fünf Meter hoch.
»Es steht wohl fest, dass sie von da oben herunterfiel. Das lässt sich einerseits aus den Verletzungen nachvollziehen. Außerdem haben Thomas Brunners Leute entsprechende Spuren am Gesträuch entdeckt, dass am oberen Teil der Mauer wuchert. Wann die bedauernswerte junge Frau hier herunterstürzte, kann ich natürlich nicht exakt sagen. Dazu weiß ich wohl mehr, wenn ich sie auf meinem Untersuchungstisch in der Gerichtsmedizin habe.«
»Ich weiß, Eleonore …«
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