Jedermannfluch. Manfred Baumann

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Jedermannfluch - Manfred Baumann


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war sogar als Erster über die Zielmarkierung gerast. Yannick beugte sich ein wenig nach vorn. Das Realbild, das ihm der Bildschirm zeigte, war noch sehr dunkel. Die schemenhafte Umgebung war kaum auszumachen. Natürlich würde in ein paar Sekunden wieder ein großer Scheinwerfer aufleuchten, und das Areal samt den Autos aus der Dunkelheit schälen. Das war davor auch so gewesen an den ersten beiden Stationen. Doch er wollte jetzt schon wissen, wo in Salzburg das Finalrennen gleich beginnen würde. Er strengte sich an, bis seine Augen zu brennen begannen. Aber er hatte keine Chance. Das am Bildschirm Gezeigte war einfach zu dunkel, zu undurchsichtig. Zum Glück dauerte es nicht lange. Dann flammte endlich der riesige Spot auf, schickte sein Leuchten über das Areal. Zugleich wurden die Frontlichter der beiden Fahrzeuge hell. Das Aufheulen der Motoren war zu hören. Und schon ging es los! Wo war das? Im Süden der Stadt, in der Nähe der Alpenstraße? Er vermutete es zumindest. Gleich würde er es wissen. Gleich würden die beiden Boliden aus dem Realbild verschwinden. Dann würden die beiden Markierungen auftauchen, ein blauer Punkte für Ignaz, ein gelber für dessen Konkurrenten. Die Punkte würden sich entlang der Linien bewegen, die einen simpel skizzierten Ausschnitt des Stadtplanes andeuteten, und zugleich würden die wichtigsten Straßenbezeichnungen aufleuchten. So war es in Wien gewesen, und auch gestern in Linz. Da! Der erste Name flackerte bereits auf. Alpenstraße. Er drosch sich jauchzend mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. Er hatte es geahnt. Die beiden Boliden rasten tatsächlich in höllischem Tempo nach Norden, direkt in Richtung Stadtzentrum. Der gelbe Punkt lag in Führung. Das war deutlich zu erkennen. Umgerechnet waren das sicher mehr als zehn Meter Vorsprung. Komm Ignaz, lass dich in deiner eigenen Stadt nicht abhängen. Schneller, zeig’s dem verdammten Kerl! Das schaffst du schon! Sie waren sicher in Höhe Egger-Lienz-Gasse gestartet, oder auch erst in der Nähe des Wüstenrot-Gebäudes. Auf jeden Fall mussten sie so nicht direkt an der Bundespolizeidirektion vorbeirasen. Wäre ja noch schöner, wenn man gleich eine Polizeistreife mit Blaulicht hinter sich hätte, die auch noch per Funk Absperrungen auf der eingeschlagenen Route veranlasste. Der blaue Punkt holte auf, verringerte die Distanz. Plötzlich bog der gelbe Punkt scharf nach rechts. Karolinenbrücke leuchtete als Schriftzug auf. Alles klar. Jetzt ging es über die Salzach. Dann würden die beiden Boliden sich wohl links halten und über die Imbergstraße weiterrasen. Genau so geschah es. Yannicks Hände begannen wieder zu schwitzen. Komm, Ignaz, steig aufs Gas! Was würde an der Staatsbrücke passieren? Würden die beiden nach links biegen und tatsächlich auf die Altstadt zudonnern? Das wäre ein Hammer! Aber vielleicht würden sie doch geradeaus weiterpreschen in Richtung Landestheater. Mein Gott, war das spannend! Fast nicht zum Aushalten. Dieses Mal hatte er sich keine Cola bereitgestellt, sondern gleich einen ordentlichen Bacardi. Er schraubte die Flasche auf, nahm einen kräftigen Schluck. Der gelbe Punkt war gleich an der Staatsbrücke. Und jetzt? Nein! Er bog nicht nach links, sondern setzte den Weg geradeaus fort. Yannick hatte es vermutet. Das war sicher die weitaus bessere Route für dieses spektakuläre Rennen als rüber in die Altstadt. Hier erwarteten sie mehr Geraden, weniger Kurven. Schwarzstraße. Jetzt würden sie sicher schon beim Landestheater sein. Leider gab es keine entsprechenden Ortsangaben von markanten Punkten neben der Route. Komm, Ignaz! Ab dem Mozarteum kannst du ihn packen! Zeig dem Scheißkerl, was ein echter Lokalmatador draufhat! Und tatsächlich, der blaue Punkt kam näher. Er scherte aus, überholte den gelben Punkt, setzte sich voran. Und erlosch! Yannick schnellte von seinem Stuhl hoch. Was war jetzt passiert? Auch wenn er wusste, dass es sicher nichts brachte, hämmerte er dennoch mit der Handfläche kräftig auf die obere Umrandung des Bildschirmes. Als gälte es, eine Art Wackelkontakt zu beheben.

      RACE INTERRUPTED! Der Schriftzug erschien plötzlich bildfüllend. Flammte sogar mehrmals auf.

      Was sollte das? Rennen unterbrochen? Igor hatte doch eben überholt, war in Führung gegangen. Was war mit dem blauen Punkt geschehen?

      5. Szene, Gegenwart

      Was? Keine Frist willst du mir geben?

      »Geht ihr schon bitte vor. Ich habe nach dem Abschminken noch etwas dringend zu erledigen. Ich komme dann später nach.« Sie verschwand hinter der Garderobentür. »Solistengarderobe. Frau Laudess«, war auf dem Schild am Eingang zu lesen. Isolde schnaubte kurz durch. Das war wieder typisch für ihre Schwester. Sich zuerst langmächtig beknien lassen, dann halbherzig zustimmen und dann in letzter Sekunde mit irgendeiner faulen Ausrede vermutlich doch kneifen. Ihr sollte es recht sein. Sie hatte ohnehin keinen Wert darauf gelegt, dass ihre Frau Schwester zu dieser improvisierten Feier mitkam. Aber Folker hatte es immer wieder versucht, hartnäckig bittend, bisweilen auch zuckermäulig schmeichelnd. Und schließlich hatte Senta sich offenbar erweichen lassen und zugesagt. Ja, sie würde an Folkers kleiner improvisierter Geburtstagsfeier teilnehmen. Gleich nach Ende des Auftritts. Die anderen großen Stars aus dem »Jedermann«-Ensemble waren noch drüben auf dem Domplatz. Doch für die Buhlschaft war die Vorstellung bald nach dem Erscheinen des Todes vorbei. Und für die Mitglieder der Tischgesellschaft auch. Also konnte sich Senta ihnen anschließen, wenn sie gleich zum »K+K« Restaurant aufbrachen. Falls sie überhaupt mitkam. Isolde war es verdammt egal. Auch sie würde nicht lange bleiben. Aber sie hatte es Folker und Bianca versprochen. Zwei weitere Kollegen aus dem Darstellerensemble der Tischgesellschaft würden ebenfalls dabei sein. Stars wie ihre Schwester verfügten natürlich über eine eigene Garderobe. Für die Darsteller der kleinen Rollen, also der Tischgesellschaft, genügten zwei größere Gruppenräume.

      Isolde brauchte keine zehn Minuten. Dann war sie abgeschminkt und umgezogen.

      Sie wartete auf die anderen. Gleich darauf zogen sie zu fünft los, verließen das Festspielhaus.

      »Hey, heute ist gar nicht mehr so viel los in der Stadt!«, bemerkte Isolde und hängte sich bei Bianca und Folker ein. »Dabei ist es erst 22.30 Uhr vorbei.« Sie bogen in die Philharmoniker-Gasse ein. Keine zwei Minuten später waren sie schon am Mozartplatz. Der Waagplatz mit dem angestrebten Restaurant lag gleich dahinter.

      »Nein, nicht schon wieder«, entfuhr es Isolde. Sie hielten gerade auf den steinumfassten Eingang im Erdgeschoss zu, als eine der beiden großen Holztüren aufschwang und zwei Leute herauskamen. Auch die beiden Personen hielten in der Bewegung inne, waren sichtlich überrascht.

      »Was soll das, Isolde?« Die Stimme des jungen Mannes war scharf, er klang ähnlich gereizt wie schon am Nachmittag. »Reicht es nicht, dass du ungebeten bei unserer Vorstellung auftauchst? Spionierst du uns jetzt auch noch im Wirtshaus nach?«

      Die junge Frau, es war Ariana, wie Isolde bemerkte, fasste ihren Begleiter am Arm. »Komm, Cyrano, lass es gut sein. Das bringt doch nichts!« Der andere wollte etwas einwenden, aber die junge Frau zog ihn einfach mit sich fort. Sie verschwanden in Richtung Judengasse. Isolde bemerkte die leicht irritierten Blicke ihrer Kollegen. »Hast du Zoff mit denen?«, wollte Bianca wissen.

      »Ach, das sind, wenn man es so nennen will, Kollegen.« Sie machte mit der Hand eine abschätzige Bewegung. »Die gehören zum Salzburger Straßentheater. Wie man bemerkt hat, sind sie derzeit nicht gut auf mich zu sprechen. Darüber erzähle ich euch vielleicht ein anderes Mal mehr. Aber nicht heute. Jetzt wollen wir auf Folkers Geburtstag anstoßen.«

      Sie ging voraus, die anderen folgten rasch nach, betraten ebenfalls das Restaurant. Der Kellner brachte sie zum reservierten Tisch. Er befragte sie sogleich nach den Getränkewünschen. An der Wand hing eine elegant gestylte Uhr. Sie zeigte 22.43 Uhr. Isolde hatte noch genau zwei Stunden und 51 Minuten zu leben. Aber das wusste sie nicht. Sie bestellte einen Aperitif mit Cranberry und einem kleinen Schuss Wodka.

      6. Szene, Gegenwart

      Hab immer doch in bösen Stunden

      mir irgend einen Trost ausgfunden.

      Der Kopf des langen Zündholzes flammte kurz auf, doch gleich darauf war er wieder verlöscht. Sie zog erneut die Schachtel auf, wählte ein anderes Streichholz. Dieses Mal klappte es. Ihre Hand zitterte zwar. Fast hatte es den Anschein, als vollführe die dreieckige Narbe auf ihrem Handrücken einen kleinen Tanz. Aber sie konzentrierte sich und schaffte es, den Docht der hellen Kerze auf der kleinen Anrichte zu entzünden. So wie jeden Abend. Die langsam pendelnde Flamme warf schmale Lichtstreifen auf das Bild, das neben der Kerze aufgestellt war. Es zeigte Gesicht und Oberkörper eines jungen Mannes. Er hatte dunkle Augen und ein schmales Lächeln.


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