Die Unwerten. Volker Dützer

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Die Unwerten - Volker Dützer


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nächsten, ohne dass die Klasse ihm folgen konnte.

      Die quietschende Kreide verursachte stechende Schmerzen in Hannahs Schläfen. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, Pilz’ unleserliche Schrift zu entziffern.

      Er tippte auf die Buchstaben und las laut vor: »Ein Irrenhaus kostet zwei Millionen Reichsmark. Wie viele deutsche Familien könnten von dem Geld eine Wohnung bekommen?«

      Koschka kicherte.

      »Ruhe!«, brüllte Pilz.

      Hannah schwankte, alles drehte sich um sie. Die schrille Stimme bohrte sich wie eine Nadel in ihren Kopf. Jedes Scharren auf dem Dielenboden, die Ausdünstungen der dreißig Schüler in dem engen Klassenzimmer, das grelle Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel, all das drang ungefiltert und überirdisch klar in ihren Verstand. Die Dunkelheit kam. Es gab nichts, was sie tun konnte, um sie aufzuhalten.

      »Nun, was denn, was denn? Zu schwierig für eine Jüdin?« Pilz schlenderte zu Brahmeyers Platz, dessen Vater SS-Standartenführer war, und beugte sich verschwörerisch zu ihm hinab. »Entschuldigung, Halbjüdin«, sagte er leise.

      Brahmeyer grinste und präsentierte eine Lücke zwischen den Schneidezähnen, die sein Gebiss seit der letzten Rauferei zierte.

      Hannah spürte das Unausweichliche kommen. Das aufziehende Gewitter in ihrem Kopf schränkte ihr Denken ein, bis sie die Worte nicht mehr kontrollieren konnte, die über ihre Lippen wollten. Worte, die sich nicht mehr zurückhalten ließen.

      Pilz klatschte mit gespielter Besorgnis in die Hände. »Nun, was denn? Was soll denn nur aus dir werden, Hannah?«

      »Hannah will fliegen«, krähte die blonde Ilsa.

      »Ja, fliegen. Hannah will fliegen«, riefen alle im Chor.

      Pilz wandte sich zu ihr um, seine Glatze glühte tiefrot im Sonnenlicht, die fleckige Haut verlieh ihm tatsächlich Ähnlichkeit mit einem Fliegenpilz.

      »Fliegen?« Er blickte sie verblüfft und mit unverhohlener Neugier an.

      Koschka sprang auf. »Hannah sagt, ihr Vater ist ein Flieger.«

      »Soso. Ja, was denn? Wo doch jeder weiß, dass die Juden lügen wie gedruckt. Sie hat keinen Vater, wisst ihr das denn nicht? Er ist davongelaufen, weil er sich schämt, dass er ein Kind mit einer Jüdin hat.«

      Die Klasse lachte schallend.

      Hannahs Lippen zitterten, ihre Kehle war so staubtrocken, dass sie nicht antworten konnte. Es hätte ohnehin keinen Sinn gemacht und ihre Qualen nur verlängert.

      »Nicht wahr, Sarah-Hannah?«

      Pilz wandte sich an die Klasse. »Und wie nennt man ein solches Kind? Na, was denn, was denn?«

      »Einen Bastard, Herr Lehrer!«, rief Koschka.

      Hannah blinzelte in den fahlgelben Ball, der vor den Fenstern am Himmel stand. Sie hatte das Gefühl, mit ihm zu schweben. Ein winziger Fleck in der Form eines heranfliegenden Flugzeugs verdunkelte ein Stück der Sonne. Der Propeller rotierte so schnell, dass er wie eine flirrende Scheibe auf sie zuraste.

      »Wie lautet also die korrekte Lösung der Aufgabe? Wie viele arische Familien könnten eine Wohnung besitzen?«

      Pilz’ Fistelstimme drang von weit her an Hannahs Ohr.

      »Es kommt auf die Anzahl der Zellen in dem Irrenhaus an«, sagte sie. »Und wie viele Pilze darin Platz haben.«

      Das Schreibheft entglitt ihren Fingern, dann war da plötzlich nur noch Dunkelheit.

      *

      Hannah erwachte auf dem Ohrensofa im Büro des Rektors. Sie öffnete die Augen und sah den hageren Mann mit dem schütteren Haar und den buschigen grauen Augenbrauen an seinem Schreibtisch sitzen. Er hielt den Telefonhörer in der Hand und steckte den Zeigefinger in die Wählscheibe.

      »Was ist passiert?«, fragte sie.

      Berthold sah auf. Als er bemerkte, dass sie wach war, legte er den Hörer auf die Gabel.

      »Du bist uns umgekippt, mein Kind. Hast du heute Morgen nichts gegessen?«

      Hannah versuchte, sich aufzurichten. Ihr war etwas schwindelig, aber die dunklen Flecken am Rand ihrer Wahrnehmung waren verschwunden.

      »Doch, das habe ich. Es geht mir wieder gut.«

      Berthold betrachtete sie sorgenvoll. Im Gegensatz zu Pilz mochte sie ihn. Er ging auf die siebzig zu und war bereits pensioniert. Weil viele Lehrkräfte von der Wehrmacht eingezogen worden waren, hatte er seinen Ruhestand unterbrochen. Berthold hatte ein sanftes Wesen und konnte komplizierte Zusammenhänge anschaulich erklären. Koschka und seine Kumpane aus der Hitlerjugend trieben ihren Spott mit ihm, den er geduldig ertrug. Berthold war als Kind an Polio erkrankt. Er hatte überlebt, behielt jedoch ein verkürztes Bein zurück, das ihn vor dem Militärdienst bewahrt hatte. Wenn er über die Schulflure hinkte, ahmten die Jungen ihn auf grausame Weise nach und nannten ihn einen Krüppel.

      »Sie brauchen keinen Doktor zu rufen«, erklärte Hannah. »Ich glaube, es ist alles in Ordnung.«

      »Passiert dir das öfter?«

      Sie setzte sich auf. »Manchmal. Wie bin ich hierhergekommen?«

      »Frau Busch hat dich gebracht.«

      Sie war Bertholds Sekretärin.

      »Muss ich zurück ins Klassenzimmer?«

      Der Rektor schüttelte den Kopf. »Nein, heute nicht.«

      Angestrengt versuchte sie, sich zu erinnern. Es war etwas geschehen, kurz bevor sie ohnmächtig geworden war. Sie hatte etwas zu Pilz gesagt, aber die Worte wollten ihr nicht wieder einfallen.

      Der alte Rektor nahm ein Heft vom Schreibtisch und setzte sich neben Hannah auf das Sofa. Er begann, darin zu blättern. Es war das Schreibheft, das ihr im Klassenzimmer aus den Händen gerutscht war.

      »Was du zu Herrn Pilz gesagt hast, war dumm«, sagte er. »Ich hätte dich für klüger gehalten.«

      »Ich kann nichts dafür. Manchmal dreht sich alles, und ich sage Sachen, die ich gar nicht sagen will. Ich weiß, dass sie wahr sind, und kann nicht verhindern, dass sie rauswollen.«

      Wenn sie Berthold begegnete, hatte er normalerweise einen Scherz auf den Lippen, wenigstens ein Lächeln. Heute war er ungewöhnlich ernst.

      »Die Sache mit Pilz kann ich geradebiegen, aber das hier nicht«, sagte er kopfschüttelnd. »Was hast du dir nur dabei gedacht?«

      Sie warf einen Blick auf die Zeichnung und wandte sich ab. In manchen Augenblicken verselbstständigte sich der Stift zwischen ihren Fingern und erschuf Karikaturen, die die Welt auf eine simple und entlarvende Weise zeigten: Lächerlich und grotesk verdreht. Malisha wusste um dieses Talent und hatte ihr eingeschärft, niemandem davon zu erzählen. Oft war ihr während des Kritzelns und Malens, als tauschten Verstand und Stift die Plätze. Was herauskam, war nicht aufzuhalten.

      Die Zeichnung in ihrem Heft zeigte einen Ziegenbock, der mit weit aufgerissenem Maul eine Schafherde in seinen Bann zog – ein Ziegenbock mit einem Klumpfuß und dem vor Erregung verzerrten Gesicht von Reichsminister Goebbels.

      Hannah wusste, dass sie das Bild gemalt hatte, konnte sich aber nicht mehr erinnern, wann das gewesen war. Sie hatte es einfach vergessen. Dass sie alltägliche Dinge vergaß und sich an andere, weit zurück liegende Begebenheiten mit einer unwirklichen Klarheit entsann, jagte ihr manchmal Angst ein.

      »Mach so etwas nie wieder«, sagte Berthold ernst. »Wir leben in …«, er machte eine Pause und suchte nach den richtigen Worten, »… in gefährlichen Zeiten.«

      »Was geschieht jetzt?«

      »Herr Pilz will die Angelegenheit nicht auf sich beruhen lassen. Er wird sich an den zuständige Amtswalter wenden.«

      »Was ist ein Amtswalter?«

      »Ein Politischer Leiter, eine Art Wächter der Partei. Er passt


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