Die Unwerten. Volker Dützer

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Die Unwerten - Volker Dützer


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hier Wurzeln schlagen? Ihr alter Herr hat mich gewarnt, dass Sie ein Träumer sind.« Werner Heyde lachte, schlug ihm auf die Schulter und schob ihn auf den Eingang des Columbushauses zu. »Na, wir werden Ihnen die Flausen schon austreiben«, fuhr er fort. »Hier beginnt der Ernst des Lebens, große Aufgaben erwarten Sie, der Führer braucht jeden Mann.«

      Lubeck lächelte und murmelte etwas von Überwältigung angesichts des historischen Augenblicks – Phrasen voller Superlative, von denen er wusste, dass sie bei Leuten wie Heyde gut ankamen.

      Er kannte den Mann kaum, der seine Zukunft entscheidend mitbestimmen sollte. Sein Vater hatte Heyde an die Universität nach Würzburg geholt, wo er an den wissenschaftlichen Veröffentlichungen Hermann Lubecks mitgearbeitet hatte. Heyde besaß einen messerscharfen Verstand und einen ebenso bezwingenden Charme, mit dem er den Alten um den Finger gewickelt hatte. Eben diese Zielstrebigkeit und Klarheit war es, die Heyde ihm voraushatte.

      Schnell war Lubeck klar geworden, warum ihn sein Vater nach Berlin geschickt hatte. Heyde besaß beste Kontakte zur Kanzlei des Führers und kannte Gott und die Welt. Um Karriere zu machen, konnte es keinen besseren Mentor geben.

      Trotzdem empfand Lubeck das vertraute Gefühl der Demütigung. Sein Vater traute ihm nicht zu, sich allein durchzusetzen und eine Laufbahn als Psychiater aufzubauen. Also hatte er Heyde beauftragt, ihn in die höchsten Berliner Kreise einzuführen. Im Gegenzug teilte er den Ruhm seiner zweifelhaften Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Psychiatrie und Rassenkunde mit Heyde, was für sich genommen schon erstaunlich war. Der Alte war eitel, überheblich und beanspruchte alle Aufmerksamkeit für sich. Nichts machte ihm mehr Vergnügen, als im Rampenlicht zu stehen.

      Seit drei Tagen hetzten sie von Termin zu Termin. Heyde schleppte ihn hinter sich her wie einen Kofferträger – eine Funktion, die er zuweilen tatsächlich erfüllen musste. Vom Anhalter Bahnhof war es im Eiltempo zur Tiergartenstraße Nummer 4 gegangen. Lubeck hatte erfahren, dass das geheime Projekt, an dem er mitarbeiten sollte, seinen Namen T4 eben jener Adresse verdankte. Von hier aus waren sie in die Reichskanzlei gestürmt, wo sich Heyde alle Türen von selbst öffneten. Man stellte ihnen einen eleganten Maybach nebst Fahrer zur Verfügung, und Lubeck fand kaum Zeit, Luft zu holen, da stoppten sie schon am Potsdamer Platz. Hier sollte er endlich erfahren, was die Zukunft für ihn bereithielt.

      Für die Organisation von T4 hatte man im Columbushaus mehrere Büros und Besprechungsräume angemietet. Vor ihm öffnete sich eine Doppeltür, die in einen kleinen Saal führte. Lubeck zählte über zwanzig Männer, teils in den schwarzen Uniformen der SS, teils in Zivil. Sie standen in lockeren Gruppen zusammen, es roch nach Zigarrenrauch, Cognac und Kaffee. Er war 1932 selbst in die SA eingetreten und hatte es nach dem Röhm-Putsch bis zum SS-Untersturmführer gebracht. Der affige Pomp begeisterte ihn wenig, er sah seine Mitgliedschaft lediglich als Mittel zum Zweck. Was ihn dagegen faszinierte, war die Macht, die mit den Privilegien der SS einherging.

      Ein Mann mit dunklem, streng gescheiteltem Haar und Hitlerbärtchen begrüßte sie. Heyde stellte ihn als Dr. Irmfried Eberl vor, Direktor der Anstalt in Brandenburg. Eberl machte sie mit den Anwesenden bekannt. Heyde schien die meisten zu kennen und organisierte Cognac. Während er den Branntwein hinunterstürzte, nippte Lubeck nur daran. Er vertrug keinen Alkohol und brauchte seine volle Konzentration.

      Schüchtern schüttelte er Hände und versuchte, sich Namen und die dazu passenden Gesichter zu merken – hochrangige Parteimitglieder, die er nur vom Hörensagen kannte. Darunter der verkniffen dreinschauende Viktor Brack, Oberdienstleiter der Kanzlei des Führers Amt 2, und Philipp Bouhler, enger Vertrauter von Hitler und Leiter der geheimnisvollen Aktion T4.

      Lubeck schüttelte die schlaffe Hand von Werner Blankenburg, Bracks Vertretung, und begrüßte ehrfürchtig Karl Brandt, den chirurgischen Begleitarzt des Führers. Die Namen der Psychiater und promovierten Ärzte vergaß er so schnell, wie sie genannt wurden – von Hegener, Conti, Linden, Ernst Baumhard und andere. Wozu mochte diese außergewöhnliche Versammlung von Akademikern dienen? Lubeck fühlte sich gehemmt. Er hatte keine Ahnung, was von ihm erwartet wurde. Angesichts der Prominenz war ihm klar, dass seine Laufbahn als Mediziner enden würde, bevor sie begonnen hatte, falls er hier versagen sollte.

      Philipp Bouhler klopfte mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte. Als Chef der KdF eröffnete er die Zusammenkunft.

      »Meine Herren, Obersturmführer Blankenburg wird Ihnen nun im Einzelnen erläutern, was von Ihnen erwartet wird. Im Anschluss darf ich Sie zu Tisch bitten, für das leibliche Wohl ist selbstverständlich gesorgt. Außerdem wartet da noch eine kleine Vorführung auf Sie, damit Sie sehen, wie die Aktion in der Praxis durchgeführt werden wird.«

      »Na, mit deutscher Gründlichkeit, hoffe ich doch«, dröhnte jemand. Die Bemerkung rief allgemeines Gelächter hervor.

      Lubeck lachte mit, um seine Anspannung zu lösen. Er schien der Einzige im Raum zu sein, der nicht locker war. Schwatzend und scherzend nahmen alle an den T-förmig aufgestellten Tischen Platz. Bouhler, Brandt und Brack saßen an der Kopfseite, Blankenburg in ihrer Mitte. Er sortierte Unterlagen und begann mit seinen Einführungen.

      »Es sind verschiedenste Maßnahmen zur Aufartung des deutschen Volkes unternommen worden, die sich in der Summe aber als unzureichend erwiesen haben«, leitete er in nasalem Tonfall ein. »Aufbauend auf den großartigen Grundsatzwerken zur Rassenhygiene von Hermann Lubeck – und ich freue mich, dass sein Sohn Joachim in seine Fußstapfen tritt und heute anwesend ist – darf ich sagen, dass wir Methoden entwickelt haben, die es nun in der Praxis zu erproben gilt.«

      Alle Augen richteten sich einen Moment lang auf Lubeck. Bei der Erwähnung seines Namens schoss ihm das Blut ins Gesicht, eine Schwäche, der er seit seiner Kindheit hilflos ausgeliefert war. Sein hellblondes Haar verstärkte den Kontrast zusätzlich. Die Blicke von Conti und von Hegener ruhten prüfend auf ihm.

      Heyde, der neben Lubeck saß, lehnte sich zu ihm herüber. »Blankenburg liebt Schachtelsätze«, bemerkte er glucksend. »Und er macht es gerne spannend.«

      »Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 1. Januar 1935 ist hier ein erster, wenn auch unvollständiger Schritt, und dennoch eine legitime, brauchbare und notwendige Grundlage, um Schaden vom deutschen Volk abzuwenden.« Blankenburg nahm seine Brille ab und blinzelte. »Nun, wovon reden wir hier? Wir müssen jede Art von vererblicher Geisteskrankheit sowie Alkoholismus und andere Suchtkrankheiten als Gefahr für die Reinheit der arischen Rasse ansehen. Wir befinden uns im Krieg, der Feind ist mitten unter uns. Der Vermischung des deutschen Volkskörpers mit minderwertigem Erbgut wird durch das oben genannte Gesetz begegnet, aber das reicht nicht aus. Unser Führer und Reichskanzler Adolf Hitler hat somit in weiser Voraussicht Reichsleiter Philipp Bouhler und Dr. Karl Brandt damit beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte dergestalt zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann. Dazu installieren wir ein System, um Volksschädlinge frühzeitig zu erkennen und auszusondern. Kommen wir nun zur praktischen Durchführung und Organisation.«

      Lubeck versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Es hatte bereits Gerede gegeben. Er hatte Statistiken von Heilanstalten und psychiatrischen Einrichtungen studiert, die eine signifikante Zunahme an Todesfällen aufwiesen. Was er geahnt hatte, wurde in diesem Moment zur Gewissheit. Wen die Nazis als krank oder unbrauchbar einstuften, der sollte vom Erdboden getilgt werden.

      »Endlich hat man sich in der KdF zu einem entschlossenen Handeln durchgerungen«, raunte Heyde ihm ins Ohr. »Das ist die Gelegenheit für Sie, Ihrer Karriere einen ordentlichen Schub zu verpassen.«

      Lubeck nickte stumm. Ein Schweißtropfen rann kitzelnd an seinem Rückgrat herab.

      »Eine vernünftige Sache ist das«, murmelte Heyde, »und längst überfällig dazu. Denken Sie nur, welche immensen Kosten so ein Schwachsinniger erzeugt – das Essen, die Unterbringung, Medikamente, die das Leiden nur verlängern.«

      Blankenburg erklärte die Mechanismen hinter der Aktion T4. Lubecks Aufgabe würde es sein, Patienten zu begutachten und Meldebogen auszufüllen. Mit anderen Worten: Er war fortan Herr über Leben und Tod. Das Blut rauschte in seinen Ohren, Blankenburgs Worte drangen kaum bis zu ihm vor.

      Bouhler


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