Die Unwerten. Volker Dützer
Читать онлайн книгу.sie zurück und bemerkte Schürfwunden an ihren Handballen. Sie mussten von dem Sturz stammen.
Malisha tauchte den Lappen in die Schüssel. »Wer waren die anderen Kinder?«
»Welche Kinder?«
»Die, die mit Steinen nach dir geworfen haben. Joschi hat sie verjagt. Du hattest Glück, dass er ausnahmsweise den Weg über den Börneplatz genommen hat.«
»Sie sind mir nachgelaufen, weil … weil ich …«
»Weil du vor der Klasse ohnmächtig geworden bist«, beendete Malisha den Satz. »Sie haben dich verspottet.«
Sie gab Joschi einen Wink. Er hob Hannah hoch, als wöge sie nicht mehr als eine Feder. Dabei zeigte er sein fürchterliches Zahnlückenlächeln. Sie barg den Kopf an seiner breiten Brust. Die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Stunden verblassten für einen Moment.
»Wir gehen zu Dr. Blumberg«, sagte Malisha.
Joschi schüttelte den Kopf.
»Ich weiß, er darf nicht mehr praktizieren, aber niemand kann mir verbieten, ihn zum Tee zu besuchen, nicht wahr?«
Er zuckte mit den Schultern und nickte. Geschickt wickelte er Hannah in eine Wolldecke, ohne sie abzusetzen, und trug sie die Treppe hinunter.
Eine Viertelstunde später klopfte Malisha an eine mit weißer Farbe beschmutzte Hinterhoftür. Die ungelenke Schmiererei zeigte die Karikatur eines Mannes mit übertrieben großer Nase – einen Juden mit hässlicher Fratze. Überall im Viertel gab es inzwischen solche Zeichnungen. Es war sinnlos, sie abzuwaschen, denn am nächsten Morgen waren sie wieder da. Hannah fand sie schlecht. Sie brachten niemanden zum Lachen. Sie wusste, dass sie treffsicherer zeichnen konnte – einen Ziegenbock mit Goebbels’ Gesicht zum Beispiel.
Dr. Blumberg war ein kahlköpfiger Mann um die sechzig mit Hängebacken und feuchten Augen. Er lächelte, als er Hannah sah. Er lächelte immer, egal wie schlecht es stand; sie hatte ihn niemals ernst erlebt. Als sie klein gewesen war, hatte er ihr mit seinen Späßen die unangenehmsten Untersuchungen erleichtert. Sie vertraute ihm, trotzdem hatte sie Angst. Etwas war in ihrem Kopf und es gehörte nicht dorthin.
Der Doktor bat sie in seine Wohnung, die nur aus einem Wohn- und Schlafraum mit niedriger Decke und einer winzigen Küche bestand. Die Toilette befand sich im Treppenhaus auf halber Höhe zwischen dem ersten und zweiten Stock.
Joschi legte Hannah behutsam auf einem zerschlissenen Sofa ab. Blumberg klappte den Deckel einer Holztruhe auf und nahm ein Stethoskop heraus. Hannah bemerkte die hochgezogene Augenbraue ihrer Mutter und den fragenden Blick.
Der Doktor seufzte. »Sie haben mir meine Arzttasche abgenommen. Ich konnte nicht viel retten. Nun muss es eben so gehen.« Er wandte sich an Hannah. »Na, wo fehlt’s denn, Kleines?«
»Ich werde im März fünfzehn«, empörte sie sich.
»Wie die Zeit vergeht. Mir ist es, als wär’s gestern gewesen, dass ich dir auf die Welt geholfen habe.«
»Sie ist ohnmächtig geworden und kann sich an nichts erinnern«, erklärte Malisha.
Blumberg legte eine Manschette um Hannahs Oberarm, pumpte sie auf und maß ihren Blutdruck. Dann horchte er Brust und Rücken ab, anschließend leuchtete er mit einer kleinen Lampe in ihre Augen.
»Und was geschah, bevor du ohnmächtig wurdest?«, fragte er.
»Mir war schwindelig, alles hat sich gedreht. Es ist, als ob ich durch einen Tunnel blicke. Dann wird es dunkel. Ab und zu blitzt es.«
»Mmh. Das Licht erscheint dir grell, nicht wahr? Und jedes Geräusch schmerzt in den Ohren.«
Hannah nickte.
»Was stimmt denn nur mit ihr nicht?« Malisha klang besorgt.
»Wie ist das genau, wenn dir schwarz vor den Augen wird«, fragte Blumberg, »wie fühlt sich das an?«
»Als ob ein Gewitter in meinem Kopf tobt.«
»Nach ein paar Sekunden wird sie wach«, erklärte Malisha, »einmal hat es fast eine Minute gedauert. Ich bin fast gestorben vor Angst.«
»Träumst du wild?«, fragte der Doktor.
»Ja, manchmal. Wenn ich dann aufwache, bin ich nicht richtig wach. Es ist, als ob ich in Pudding oder Sirup feststecke.«
Blumberg schmunzelte. »Ein guter Vergleich. Und du fürchtest dich, weil alles, was du siehst und hörst, sich anfühlt, als wäre es hinter einer Glasscheibe. Du kannst niemanden erreichen, so sehr du es versuchst.«
»Ja.«
Malisha lief auf und ab, setzte sich auf einen Stuhl und sprang gleich wieder auf. »Als sie klein war, ging es manchmal nächtelang so. Heute passiert es nicht mehr so oft. Das ist doch ein gutes Zeichen, oder?«
»Kommen Sie bitte mit, Frau Bloch.«
Malisha folgte dem Doktor in die Küche. Hannah konnte sehen, dass er etwas auf einen Zettel schrieb. Sie spitzte die Ohren, um der Unterhaltung folgen zu können.
»Ich gebe Ihnen die Adresse eines Spezialisten«, sagte der Doktor.
»Sie glauben, es ist Epilepsie, nicht wahr?«
»Alles weist darauf hin – die Absencen, der Pavor Nocturnus. Oft verliert sich die Erkrankung im Lauf der Jahre. Gibt es in Ihrer Familie Fälle von Fallsucht?«
»Nein, nicht … in meiner«, antwortete Malisha.
»Ich verstehe.«
Malisha senkte die Stimme, bis sie flüsterte.
»Es besteht Meldepflicht für seelische Erkrankungen. Und es gibt Gerüchte, dass sie die Kinder in Anstalten stecken. Sie werden mir Hannah wegnehmen.«
»Vertrauen Sie Dr. Rademann. Er ist ein Freund und wird Hannah niemals melden. Sie müssen die Symptome abklären lassen. Es gibt neue Medikamente, die ihr helfen können.«
»Die kann ich nicht bezahlen.«
Blumberg drückte Malisha den Zettel in die Hand. »Haben Sie Zuversicht. Alles wird gut werden. Fragen Sie Rademann nach Phenytoin. Er wird es Ihnen besorgen.«
Malisha kehrte in das mit Möbeln vollgestopfte Wohnzimmer zurück. Hannah legte schnell den Kopf auf das Kissen und blickte zu Joschi hinüber. Er stand unbeweglich neben der Eingangstür. Er würde niemals zulassen, dass man sie in eine Anstalt brachte.
Marias Worte kamen ihr in den Sinn. »Der schwarze Mann wird dich holen!« Aber das war nur eine Lüge gewesen, um ihr Angst einzujagen. Joschi würde sie beschützen. Vorsichtig hob er Hannah hoch.
»Ich kann alleine gehen.«
Sie versuchte, sich zu befreien. Joschi grinste, schüttelte den Kopf und wiegte sie wie einen Säugling.
»Sagen Sie, Jakob schickt Sie, dann wird man Sie rasch vorlassen«, sagte Blumberg.
Joschi trug Hannah die Stufen hinab. Sie hatte Malisha noch nie so verängstigt gesehen.
4
Das Columbushaus am Potsdamer Platz war ein modern anmutendes, beinahe futuristisches Bürogebäude. Lubeck war von der hoch aufragenden, fast vollständig verglasten Fassade beeindruckt. Seine Heimatstadt Würzburg war kein Dorf, konnte sich mit Berlin jedoch nicht messen. Berlin, das bedeutete eine Fülle an Möglichkeiten, Abenteuer und eine strahlende Zukunft, ein Tor zur Welt, das sich für ihn öffnen sollte.
Er stieg aus dem Fond des Maybach und legte den Kopf in den Nacken. In den vergangenen Tagen hatte er so viele imposante Bauwerke und Monumente gesehen, dass ihm von der schieren Größe der Stadt schwindelig war. Hier also sollte sich sein weiterer Lebensweg entscheiden. Beim Anblick des mit Hakenkreuzfahnen beflaggten Platzes glaubte er beinahe an das Gerede seines Vaters. Vor Lubecks Abreise hatte er wieder von Vorsehung und der Führungsrolle der deutschen Rasse gefaselt. Nun glaubte er selbst zu spüren, dass etwas Großes bevorstand,