Im gleißenden Licht der Sonne. Clare Clark

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Im gleißenden Licht der Sonne - Clare  Clark


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Grausamkeiten ich fähig bin.«

      »Ich weiß, dass du ein guter Mensch bist.«

      »Das bin ich nicht. Ich bin kein guter Mensch.« Die Art, wie Matthias ihn daraufhin ansah, brachte Julius fast zum Weinen. »Ich kann mir das Leben ohne dieses Gemälde nicht vorstellen, dabei habe ich einen Sohn. Was ist das für ein Mensch, dem ein Gemälde wichtiger ist als sein eigener Sohn?«

      »Aber du hast dich doch noch gar nicht entschieden.«

      »Nach außen hin vielleicht nicht. Aber was auch immer ich sage, was auch immer mein Anwalt im Gerichtssaal für mich fordert, ich weiß, dass es anders ist. Ich habe mich entschieden.«

      Matthias schüttelte den Kopf. »Du irrst dich. Die tiefsten Wünsche unseres Herzens suchen wir uns nicht aus. Unsere einzige Entscheidung besteht darin, ob wir danach handeln oder nicht. Ob das Leid, das wir verursachen …«

      Er brach ab, die Hände zu Fäusten geballt, doch Julius war zu betrunken, um etwas anderes als seinen eigenen Schmerz wahrzunehmen. »Und was soll mir das helfen?«, fragte er. »Glaubst du denn, das Wissen, dass du dich nicht ändern kannst, dass du tief im Kern verdorben bist, macht irgendetwas besser, nimmt dir die Schuld, das Schamgefühl?«

      »Nein, das glaube ich nicht.«

      »Was weißt du schon davon, jemand wie du, dem es im Leben nur um die Schönheit geht?«

      »Denkst du denn, ich habe keine Geheimnisse, ich schäme mich nie für das, was ich bin?«

      Julius lachte freudlos. »Du bist jung. Jeder will geheimnisvoll sein, wenn er jung ist.«

      »So ist es nicht, nicht bei mir.«

      »Nein? Dann sag es mir. Komm schon, erzähl mir deine peinlichen kleinen Geheimnisse.«

      Matthias spannte den Kiefer an, ballte die Hände so fest zusammen, als wollte er sich dafür wappnen, etwas zu sagen. Dann stand er unvermittelt auf und verließ den Raum.

      »Warte, wo willst du hin?«, rief Julius ihm nach. »Himmel noch mal, Matthias, komm zurück.« Schwankend stand er auf, torkelnd vor Trunkenheit, und stieß das Glas zu Boden. Auf dem Parkett breitete sich eine Cognacpfütze aus.

      Krachend fiel die Haustür ins Schloss. Julius stand wankend in der Tür des Arbeitszimmers. Er begriff kaum, was gerade geschehen war. Er rieb sich die Stirn, drückte mit den Fingern auf die Schläfen, doch der Alkohol machte ihm das Denken schwer, und er hatte das Gefühl, als würden weder seine Hände noch sein Gesicht ihm gehören. Er drückte stärker, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und ließ den Kopf gegen den Türpfosten sinken. Die kahle Wand im Arbeitszimmer starrte ihm im Feuerschein des Kamins entgegen, triumphierend leer.

      Frau Lang fand ihn am nächsten Morgen im Kinderzimmer, wo er im Sessel schlief. Sie beäugte seinen derangierten Abendanzug, die Arche Noah mit den Tieren, die nicht mehr paarweise aufgereiht standen, sondern verstreut herumlagen, und brachte ihm ein Tablett mit starkem Kaffee und zwei Aspirin, die sie ordentlich auf der Untertasse drapiert hatte. Unten im Arbeitszimmer hatte bereits jemand das zerbrochene Glas weggeräumt. Auf dem Tisch stand eine Vase mit Schneeglöckchen, den ersten Frühlingsblumen, und das Zimmer roch nach Bienenwachs und Lavendel. Er bat Fräulein Grüber, die Arche Noah zu Konstantin nach München schicken zu lassen.

      »Und zwar heute noch«, ordnete er an. Er kritzelte etwas auf ein Blatt Papier, das er in einen Umschlag steckte. »Das soll beigelegt werden.« Auf dem Blatt nur eine einzige Zeile: Ich denke immer an dich, dein dich liebender Papi. Ein Wort mehr und er hätte sich nicht mehr im Zaum halten können. Er bat die Stenotypistin, ihm ein Taxi zu rufen. Er habe eine dringende Verabredung in der Stadt.

      »Und geben Sie Frau Lang Bescheid, sie möchte mir Herrn Rachmanns Mantel und Hut nach oben bringen, ja?«, fügte er hinzu. »Ich liefere die Sachen unterwegs bei ihm in der Galerie ab.«

      Er wartete im Arbeitszimmer auf das Taxi, die Hände in den Taschen vergraben, und blickte reglos in den Garten hinaus. Eine Hand umschloss Noahs Frau. Er zog die Figur heraus und drehte sie zwischen den Fingern. Sie starrte ihn mit ihren blauen Knopfaugen an. Dann öffnete er die Schublade seines Schreibtisches, warf sie hinein und ging hinaus.

      Die Straße war eng und kopfsteingepflastert, die Backsteingebäude schienen sich verschwörerisch aufeinander zuzubewegen, wie um den Himmel auszusperren. Die meisten Häuser beherbergten kleine Geschäfte, einen Eisenwarenladen, einen Frisör, einen Tabakladen, dessen schmales Schaufenster mit gelbem Zellophan bezogen war. Die Schilder wirkten verwittert, die Farbe blätterte ab. Mehrere waren mit Brettern vernagelt. Auf halber Höhe der Straße lud ein Kohlenhändler Säcke von seinem Wagen in eine offene Kellerluke. Sein Pferd glotzte Julius teilnahmslos an. Es hob den Schwanz und ließ eine Portion saftige Pferdeäpfel fallen.

      Bei Hausnummer 98 stand auf einem Pappschild an der zweiten Klingel von oben Galerie für alte & neue Kunst. Die Pappe war wellig und aufgeweicht vom Regen. Julius war aus unerfindlichen Gründen nervös. Er holte tief Luft, strich Matthias’ Mantel über seinem Arm glatt und läutete.

      Niemand kam. Drei Stockwerke waren ein langer Weg, wenn man keinen Besuch erwartete. Er läutete noch einmal und ließ den Finger auf der Klingel. Gedämpft hörte er sie im Innern des Hauses krächzend widerhallen. Immer noch niemand. Julius trat einen Schritt von der Tür zurück. Vielleicht war Matthias ausgegangen. Oder vielleicht, dachte Julius beunruhigt, hatte er die Klingel gehört und wollte ihn nicht sehen. Vielleicht war er immer noch verärgert, aufgebracht. Und wartete bloß darauf, dass Julius ging. Während Julius so dastand und zu den Fenstern des dritten Stocks hinaufspähte, kam ihm in den Sinn, dass Matthias ihn nicht ein einziges Mal in die Neue Grünstraße eingeladen hatte, obwohl er über sein frisch gegründetes Unternehmen doch so begeistert gewesen war. Der Gedanke war wie ein Schatten, der über ihn hinwegzog, und ließ ihn frösteln. Als er Schritte im Haus hörte, wäre er am liebsten davongelaufen. Stattdessen zwang er sich zu lächeln.

      Die Tür öffnete sich. Ein großer, untersetzter Mann blickte ihn finster an. Er trug ein kragenloses Hemd, nicht allzu sauber, die aufgerollten Ärmel entblößten kräftige, dunkel behaarte Unterarme. Julius nahm an, dass es Matthias’ Bruder war, obwohl sie einander nicht die Spur ähnelten. Er hatte sich einen Geschäftsmann vorgestellt, mit angenehmen Manieren und im Anzug, dieser Mann hingegen wirkte wie ein Raufbold. Er roch nach Zigaretten und Terpentin.

      »Was ist?«, fragte der Mann und klemmte den Stiefel in die Tür, um sie offen zu halten.

      »Ich … ich hatte eigentlich gehofft, Herrn Rachmann anzutreffen«, sagte Julius und sah auf den Mantel über seinem Arm und den Hut in seiner Hand. »Ich habe ein paar Sachen von ihm. Sind Sie sein Bruder?«

      Der Blick des Mannes wurde noch finsterer. »Wer will das wissen?«

      Julius nahm eine abweisende Haltung an. Vielleicht waren es doch Brüder. Er schürzte auf dieselbe Art wie Matthias die Lippen und zog dabei die Wangen ein, aber während es bei Matthias immer so aussah, als müsste er sich das Lachen verkneifen, wirkte sein Bruder, als würde er ihm gleich einen Faustschlag verpassen. Er strahlte eine Präsenz aus, die das gesamte Licht dieses grauen Nachmittags aufzusaugen schien.

      »Mein Name ist Köhler-Schultz«, sagte Julius kühl. »Ich bin ein Kollege von Matthias. Ein Freund.«

      Da veränderte sich die Miene des Mannes. Er beugte sich vor und kräuselte spöttisch und verächtlich die Lippen. »Sein Freund? Scheiße, Sie sind wirklich ein arrogantes Arschloch.« Höhnisch räusperte er sich und spuckte einen schleimigen Klecks auf das Pflaster neben Julius’ Fuß. Dann trat er zurück und knallte die Tür zu.

      »Was zum Teufel glauben Sie, wer Sie sind?«, brüllte Julius und drückte erneut auf die Klingel, immer wieder, bis er ihr durchdringendes Krächzen in den Zähnen spürte, aber dieses Mal kam niemand.

      Er kehrte mit Matthias’ Mantel und Hut in die Meierstraße zurück. Matthias konnte sie bei seinem nächsten Besuch mitnehmen. Als das Telefon klingelte, fuhr er zusammen und eilte in den Morgensalon, wo Fräulein Grüber ihm den Hörer reichte. Aber nicht Matthias, sondern Böhm war am Apparat.


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