Blutdorf. Rolf Eversheim
Читать онлайн книгу.schnitt, war der einst unbesiegbare Samson besiegt.«
»Da, sieh an, die Bibel. Wie dem auch sei, keine schulmedizinische Kunst war in der Lage, meinen Haarwuchs wieder zu aktivieren. In einer Vorlesung über die Behandlung von Krebskrankheiten erwähnte der Professor ganz nebenbei, dass er gelegentlich mit einem sogenannten Heiler zusammenarbeite und dass er das Gefühl habe, dass diese Therapiebegleitung den Patienten durchaus helfen würde. Ich ging nach der Vorlesung zu ihm und wollte wissen, was denn dieser Heiler genau mache. Er sagte nur, ich solle ihn selber fragen und nannte mir seinen Namen: Jürgen Bongardt. Wenige Tage später stand ich dann in Rheinbach und klingelte an der Tür, neben der ein Messingschild darüber informierte, dass in diesem Haus das Institut für spirituelle Heilkunst zu finden sei. Während ich noch zögerte, ob alles vielleicht nur Spinnerei sei, wurde die Tür geöffnet und ich stieg eine Treppe hoch, an deren Ende mich ein ebenso freundlicher wie fülliger Mann mit einer ungewöhnlichen Ausstrahlung erwartete. Er schaute mich fragend an. Ich nannte meinen Namen und den Grund meines Besuches. Er bat mich hinein, mit den Worten, dass ich Glück hätte, er habe heute keinen Termin. Ich erzählte ihm von mir und ein Wort ergab das andere.«
»Was war denn das Schicksalhafte an dieser Begegnung?«
»Nun, im Verlaufe des Gespräches erzählte ich ihm von meiner Alopecia universalis, also dem ausbleibenden Haarwuchs, und dass die Medizin mir nicht helfen könne. Dann erzählte Jürgen – wir fanden uns auf Anhieb sympathisch und duzten uns gleich – seine Sicht der Dinge: Siehst du Mingan, sagte er, Haare stehen symbolisch für die Vergangenheit eines Menschen. Alles Wichtige hinterlässt in den Haaren seine Spuren. Darum ist Haarausfall primär ein Signal, dass das Körperbewusstsein dabei ist, Vergangenheit loszulassen. Beziehungsweise konkreter: das Belastende unserer Vergangenheit. Auf der Körperebene findet über die Kopfhaut viel Entgiftung statt, aber natürlich, nur wenn der Mensch zum Beispiel aufgrund seiner Vergangenheit sauer ist, also im Körper übersäuert ist. Das Zuviel an Säure auf der Kopfhaut verursacht dann den Haarausfall. Bei dir ist das Thema, dass du dieses Loslassen nicht zulassen willst.« Mingan sah ins Feuer, während er mit Julia sprach. »Jürgen schaute mich fragend an und ich musste ihm recht geben. Ich hatte weder meinen Stamm noch die Geschichte mit dem Wolf losgelassen. Er schien nichts anderes erwartet zu haben und fuhr mit seinen Erklärungen fort: Viele Menschen, sagte Jürgen, ziehen ihre Lebenskraft aus ihrer Vergangenheit. Man erkennt sie daran, dass sie ständig von vergangenen Ereignissen oder Erfolgen erzählen. Ihr Bewusstseinsfokus liegt viel zu oft in der Vergangenheit, statt im Hier und Jetzt. Nur wenn zwischen dem Fokus auf Vergangenheit und Zukunft Harmonie herrscht, ist der Mensch in seiner Mitte. Die wahren Ursachen deines fehlenden Haarwuchses liegen im Thema: Loslassen der Vergangenheit beziehungsweise dem Loslassen der negativen Bewertung der Vergangenheit. Nur wer mit den Ereignissen seiner Vergangenheit in Frieden ist, kann seine Vergangenheit loslassen und im Hier und Jetzt gut verwurzelt sein. Diese Verwurzelung eines Menschen spiegelt sich im Zustand seines Wurzelchakras,
aber auch in der Verwurzelung seiner Haare in der Haut. So ist auch hier wieder der Haarausfall der direkte Spiegel des Seelenthemas: Loslassen der Vergangenheit.«
Julia betrachtete die Haarpracht des Indianers. »Du hast also losgelassen?«
»Ja, ich konnte alles ganz leicht loslassen, nachdem Jürgen mein Wurzelchakra harmonisiert hatte, also jenes Chakra, in dem mein Festhalten an der Vergangenheit energetisch festsaß.«
Julia hatte einiges von Kassiopeia über die Bedeutung der Chakren gelernt. Verstanden hatte sie trotzdem nicht alles.
Mingan sah es ihr an, kam ihrer unausgesprochenen Bitte aber nicht nach. »Das ist zu viel jetzt, Julia. Vielleicht magst du selber mal nach Rheinbach fahren. Aber lass dir vorher einen Termin geben. Jürgen ist gefragt. Mir wurde durch diese Begegnung und meine Heilung jedenfalls klar, dass die klassische Medizin für mich nicht der richtige Weg ist. Ich besann mich auf unser altes indianisches Wissen und begann, mich intensiv mit Schamanismus und seinen Möglichkeiten in der westlichen Welt zu beschäftigen. Das Medizinexamen habe ich dabei aus den Augen verloren. Mein Weg führte mich irgendwann in diese Gegend und ich blieb hier.«
»Und wo lebst du, wenn du nicht um den Weiselstein, herumstreifst?«
»Behalte es bitte für dich. Ich habe ein kleines Häuschen bei Königsfeld, im Strohdell. Ganz ruhig und versteckt.«
»Wem sollte ich es erzählen? Nur eine Frage noch, bitte: Wovon lebst du eigentlich?«
Mingan lachte verschmitzt und strich sich sein weißes Haar aus dem Gesicht. »In der Bibel steht doch, wir sollen es machen wie die Vögel des Himmels: Sie säen nicht und ernten trotzdem. Aber du bist nicht hergekommen, um meine Geschichte zu hören, Julia. Du bist wegen des Wolfs hier.«
»Natürlich weißt du es!« Julia war gerade dabei, sich das Wundern abzugewöhnen.
»Das war nicht schwer. Der Wolf ist zurück. Ich habe seine Losung gefunden.« Er griff neben sich und legte Julia vorsichtig einen Klumpen angetrockneten Kot in die Hand.
Sie zuckte bei dem Gedanken zusammen, etwas vom Wolf, und sei es auch nur seine Ausscheidungen, in der Hand zu halten. »Bist du ganz sicher, dass es vom Wolf ist?«
»Frische Wolfslosung hat einen ganz typischen Geruch, der sie von Hundekot unterscheidet.« Mingan tat so, als habe er Julias Zurückschrecken nicht bemerkt. »Schau! Sie ist fast drei Zentimeter dick und das ganze Stück war mehr als zwanzig Zentimeter lang. Wenn du genau hinschaust, wirst du Haare seiner Beutetiere, in diesem Fall ein Reh, große Knochenstücke, Klauen und Zähne finden.«
Julia konnte Haare vom Reh erkennen. Schafswolle war zum Glück keine zu sehen. »Was hast du gemacht, als dir klar wurde, dass hier ein Wolf seine Fährte zieht? Es kann ja auch ein durchziehender Wolf auf Wanderschaft gewesen sein oder einer, der aus irgendeinem Wildpark oder so ausgebrochen ist.«
»Der Wolf ist zurück.« Mehr hatte Mingan nicht mehr dazu zu sagen.
Julia atmete tief durch. »Vor wenigen Tagen hat der Wolf eines meiner Schafe gerissen.«
»Wo?«, wollte Mingan sofort wissen, »wo genau war das?«
»Kurz hinter Königsfeld. Zwischen der L82 und dem angrenzenden Waldstück. Fast am Strohdell. Ich bin da gelegentlich mit der Herde.«
»Also gerade mal fünf Kilometer weg von hier. Wirklich keine Entfernung für einen Wolf.«
»Ich weiß nicht, was ich tun soll, Mingan. Ich habe so eine Wut auf den Wolf in mir. Er hat mir Großvater genommen. Seinen Hund. Und jetzt ein Schaf von mir. Dabei wird es nicht bleiben. Am liebsten würde ich ihn töten. Auf der anderen Seite lebe ich tagein, tagaus in und mit der Natur, einer Natur, in der der Wolf auch seinen Platz haben sollte. Aber geht das überhaupt noch in unserer Kulturlandschaft, die von Menschen geschaffen wurde? Zersiedelt, von Verkehrsadern durchschnitten, mit intensiver Nutzung durch Land- und Forstwirtschaft und durch eine immer rücksichtsloser werdende Freizeitnutzung, in der Natur nur noch als Kulisse gesehen wird … Welcher Weg ist der richtige?«
Es wurde bereits dunkel. Das Feuer knackte und die Flammen züngelten sachte.
»Ich kenne das Gefühl nur zu gut, Julia. Es ist, als ob zwei Wölfe in deinem Herzen miteinander kämpfen würden. Einer der beiden ist rachsüchtig, aggressiv und grausam. Der andere hingegen ist liebevoll, sanft und mitfühlend.«
»Welcher der beiden wird den Kampf um mein Herz gewinnen?«, fragte Julia.
»Der Wolf, den du fütterst«, antwortete Mingan lächelnd. »Und nun geh wieder zu deiner Herde.«
6. Kapitel
Pfarrer Lambrecht hatte längst kapituliert, dabei schienen sich die Leute im Dorf entgegen des Zeitgeistes zu verhalten: neunzig Prozent katholisch, keine Kirchenaustritte, die Sonntagsmesse war stets gut besucht und für so gut wie jeden öffentlichen Akt wurde der Segen der Kirche angefordert. Nein, nicht erbeten: angefordert! Lambrecht war zum Büttel und zur Marionette der Leute geworden, die über das Dorf herrschten und nur an ihren eigenen Vorteil dachten, aber wöchentlich ihren Heiligenschein polierten – selbst wenn sie