Die große Pause. Bastian Bielendorfer

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Die große Pause - Bastian Bielendorfer


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alten Freund Philipp im WATT im Kollwitzkiez. In der dunklen Kaschemme trinken Austauschstudenten in schlecht sitzenden Winterjacken neben Lebensverlierern und älteren, pittoresk geschminkten Frauen. Philipp und ich saßen an der Bar und tranken bitteres Pils, das von einer ruppig-herzlichen Bardame mit seltsamen Tätowierungen gezapft wurde.

      Als meine Hand das Glas zum Mund führen will, stocke ich kurz. In einer Folge seines Corona-Update-Podcasts hat der Virologe Dr. Drosten gerade erst empfohlen, man solle tunlichst kein gezapftes Bier trinken. Dr. Drosten kann froh sein, dass er in Berlin wohnt – in Bayern würde er für die Aussage wahrscheinlich öffentlich mit einem Weizenbierglas gepfählt werden.

      Drosten hat wohl auch schon vor der derzeitigen Krise von derartigen lukullischen Suizidversuchen abgeraten. Aus einem Bierglas zu trinken, das nur einmal kurz durchs Wasser gezogen wird, in dem das Spülmittel stärker verdünnt ist als der Wirkstoff in Schüssler Salzen, klingt nach dieser Warnung so, als könnte man gleich seine Zunge am Toilettensitz eines Bahnhofklos entlangführen.

      Lustiger Gedanke, fand ich und nippte an meinem Bier, bis ich irgendwann bedenklich angetrunken meinen Freund umarmte und die paar Schritte ins Hotel ging, in dem ich gerade der einzige Gast bin.

      Klingt ein bisschen wie in einem Wes Anderson-Film oder in einer französischen Novelle. Ein einsamer Autor als einziger Gast in einem Hotel in einer ausgestorbenen Stadt …

      Von meinem Auftritt bei „Nuhr im Ersten“ habe ich mich inzwischen erholt, aber es stresst mich trotzdem, dass ich vom Veranstalter noch keine Nachricht erhalten habe, ob meine morgige Show stattfinden wird.

      Das einzige Beruhigende an Berlin ist, dass egal ist, welchen nervösen Unruhezustand man gerade hat, man wird ihn definitiv mit einem anderen Bewohner der Stadt teilen können. So viele schräge Existenzen, wie ich in den letzten drei Tagen in der Hauptstadt gesehen habe, sieht man sonst wirklich nur in David Lynch-Filmen. Gestern Abend saß ein Mann im Trenchcoat neben uns an der Bar, der sich mit einer Handpuppe unterhielt, die auf seiner rechten Hand steckte. Niemand außer Philipp und mir schien davon Notiz zu nehmen. Die Handpuppe hatte sogar ihr eigenes Bier vor sich stehen, aus dem der Mann abwechselnd trank und sich selbst zuprostete. In München würde der Kellner bei solch einem Verhalten wahrscheinlich einen Arzt rufen, in Berlin dagegen zapft man dem Verrückten lieber ein zweites Bier.

      Am Frühstücksbüfett bin ich am nächsten Morgen der einzige Gast. Eine irgendwie verunsichert wirkende Servicekraft zieht die Tischdecken an den leeren Plätzen stramm und stochert mit einer Riesenkelle in der Warmhaltetheke herum.

      Ein Kollege von mir hat mal getwittert, dass es eines der Lebensziele eines Stand-up-Comedians ist, in ganz Deutschland einmal schlechtes Rührei gegessen zu haben. Wenn es danach geht, kann ich mich bald zur Ruhe setzen. In meinem heutigen Hotel ist es ihnen gelungen, aus der Fertigeimischung einen soliden vier Kilo schweren Block zu gießen. Die gelbliche Masse gleicht in Form und Farbe einem offen aufgebahrten Spongebob und liegt nun vor mir im Warmhaltebehälter.

      Ich schaufle mir einen klitzekleinen Brocken auf den Teller und sehe sofort die hochschießende Augenbraue der Servicekraft. Das soll wahrscheinlich so viel heißen, wie: „Wir haben das gekocht, jetzt wird es aufgegessen!“

      Nadja wirkt am Telefon etwas besorgt. Ihre Mutter wohnt jetzt seit vier Tagen bei uns und hat begonnen, die Schränke aufzuräumen. Klingt banal, bedeutet aber, dass eine knapp ein Meter fünfzig kleine Frau schon vor Sonnenaufgang in den Kleiderschränken herumkriecht und ihre Tochter abwechselnd mit Aussagen wie „Was haben wir denn da?“ und „Das trägst du doch eh nicht mehr, das ist Altkleider“ in den Wahnsinn treibt.

      Schwiegermutter wollte nur ein paar Tage bei uns bleiben, weil sie einen Wasserrohrbruch hatte, jetzt aber, wo stündlich neue Meldungen zu Corona über die Nachrichtenticker laufen, deutet Nadja schon an, dass sie ihre Mutter nicht guten Gewissens nach Hause schicken kann.

      Wenigstens haben wir ein Gästezimmer, sonst könnten wir uns nach meiner Rückkehr nur das Boxspringbett teilen. Nadja und ich, getrennt durch meine 69-jährige Schwiegermutter in der Besucherritze, ein 1,50 großer menschlicher Keuschheitsgürtel durch unser Eheleben.

      Ich bin ganz froh über die Ausmistaktion, sage aber lieber nichts.

      Ich liebe meine Frau wirklich sehr, aber wenn es ein thematisches Minenfeld gibt, auf das ich mich jetzt nicht einlassen will, dann ist es ihre Unfähigkeit, Dinge wegzuschmeißen. Sie ist imstande, jeden Gegenstand mit Bedeutung aufzuladen. Ich bin froh, dass ich zumindest alte Spülschwämme entsorgen darf.

      Am schlimmsten ist es bei Kleidung. Sie kann jedes Kleidungsstück in ihrem Schrank sofort einordnen, weiß, wann sie es getragen hat und warum es eine Bedeutung für ihr Leben hat.

      Nach Sätzen wie: „Aber diese Socken habe ich doch bei unserem ersten Date getragen“ oder „Das T-Shirt habe ich am Tag meines mündlichen Abis angehabt, das kann auf keinen Fall weg“, habe ich aufgegeben und ihre offensichtliche Störung in den mentalen Abstellschrank für Schrulligkeiten einsortiert, die man bei jedem Partner findet.

      Ob das so eine gute Idee war, wage ich zu bezweifeln, seit sie letztens mit Tränen in den Augen drei völlig verblichene Kelly-Family-Shirts im Schrank gefunden und wie ein Neugeborenes an sich gedrückt hat. Auf meinen Einwand hin, dass sie nun 37 Jahre alt sei und seit etwa 20 Jahren nicht einen Song der irischen Großfamilie gehört habe, schenkt sie mir einen Blick wie einen Axthieb. Ich bin mir recht sicher, dass sie, sollte ich vor ihr sterben, mit einem „Over the Hump“-Shirt vor meinem offenen Sarg stehen wird. Joey, Angelo und Paddy werden mich davon in ewig eingefrorener Begeisterung anstarren, und statt „Du fehlst mir“ wird Nadja ein triumphierendes „Siehst du, ich trage es doch“ flüstern.

      Da ich immer noch nicht weiß, ob meine Show stattfinden wird und ob die Züge nach Köln noch fahren, gehe ich gegen Mittag zu Philip, der mir in Unterhose die Tür öffnet. Ich glaube nicht, dass sein Aufzug viel mit dem drohenden Lockdown zu tun hat, sondern mit Philipps sympathischer Zerstreutheit. Ihm würde ich auch zutrauen, dass er gedankenverloren genug ist, in seinen grünen Boxershorts in den Rewe zu wackeln und erst an der Kasse beim vergeblichen Griff in die nicht existierende Hosentasche merkt, dass er gerade in Unterhose im Supermarkt steht.

      „Na, kommst du nicht weg? Das ist in Berlin nichts Neues“, umarmt mich mein Freund und grinst.

      Besser kann man diese Stadt in zwei Sätzen wohl nicht zusammenfassen. Ich nehme mir ein Bier aus dem Kühlschrank und setze mich auf die Couch.

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      ALLEIN IN DER HAUPTSTADT

      Berlin tut mir nicht gut. Das ist vielleicht eine unfaire Wertung, aber heute ist der zweite Tag, an dem ich mit einem massiven Schädel aufwache, weil das „kleine Pils“ mit Phil sich über zahllose Runden Fifa doch noch zu einem Gelage entwickelt hat.

      Fairerweise müsste man sagen: Phil tut mir nicht gut. Aber den Gedanken lasse ich nicht zu, dafür mag ich diesen lustigen Wicht mit der Plauze und der stets schiefen Brille, die wie in sein Gesicht geweht wirkt, viel zu sehr.

      Ich schaue aus dem Fenster meines Hotelzimmers auf die Straßen des Kollwitzkiezes. Dort, wo sich sonst das Leben überschlägt, wo Straßenmusiker um den besten Platz in der Sonne kämpfen, während englischsprachige Touristen mit Berliner Keller um einem Cappuccino to go streiten, ist jetzt … nichts. Gähnende Leere. Eine alte Frau zieht einen kleinen Rollwagen mit einem Netz Orangen hinter sich her, das wie ein Farbtupfer in einem HR Giger-Gemälde daraus hervorragt.

      Ich gehe zum Frühstück, anders als gestern läuft heute Musik. Udo Jürgens singt „Griechischer Wein“, während ich versuche, die roten Trauben aus dem aufgetauten TK-Obstsalat zu fischen, von dem jedem Hotel zur Eröffnung wohl eine Bruttoregistertonne geschenkt wird.

      Wenn mein Leben verschiedene Regisseure hätte, dann wäre gerade Stanley Kubrick am Zug. Ich sitze unbequem auf Kunstleder in einem zu hellen, leeren Raum, während über mir unpassend fröhliche Musik erklingt und die Servicekraft mir bei


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