von wegen früher war alles besser. Hermann Grabher

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von wegen früher war alles besser - Hermann Grabher


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eintraten. Dabei muss ich offen zugeben, dass insbesondere bei Magdalen mein Aufwand als Lehrmeister eher bescheiden war. Eigentlich brachte sie sich das Lesen und Schreiben eher selber bei. Die kleine Magdalen hatte die typisch extremgute Auffassungsgabe einer Hochbegabten. Wenn ich meiner Schwester einmal einen Buchstaben erklärt hatte, war dieser fortan wie eingebrannt in ihrem Hirn existierend. Das Kind war fasziniert davon, wie durch das Aneinanderreihen von Buchstaben schlussendlich Wörter, Sätze, Begriffe entstanden. Es war für sie eine spannende Erkenntnis, in der Folge Zeitung lesen zu können! Werner lernte parallel mit mir das ABC und das 1x1 und er hätte problemlos direkt mit mir in die zweite, wie anschliessend auch in die dritte Klasse steigen können. Magdalen war als noch nicht Sechsjährige in der Lage das Buch «Pinocchio» mit mehr als 100 Seiten zu lesen und auch zu verstehen. Als kleines Mädchen mit viel Fantasie empfand sie allerdings den in ihren Augen schrecklichen Schluss der Geschichte als nicht akzeptabel. So strich sie den letzten Abschnitt mit einem violetten Farbstift kurzentschlossen durch und schrieb eigenhändig ein Happyend ins Buch. Magdalen war aus den Märchenerzählungen der Mutter gewohnt, dass Geschichten stets gut endeten. Aus diesem Grund konnte sie eine Geschichte mit einem unglücklichen Ende nicht ertragen.

      Die Schule funktioniert heute völlig anders als zu meiner Zeit. Nicht nur das Vermitteln des Stoffes durch die Lehrer, nämlich was ein Schüler zu lernen hat und schlussendlich am Ende des Schuljahres beherrschen sollte, veränderte sich seit der Nachkriegszeit dramatisch, sondern eben auch die Struktur des Schulbetriebs. Damit in der heutigen Zeit die ganze Organisation einer Schule einwandfrei funktioniert, gibt es – ausser den Lehrpersonen - einen sehr ernsthaft arbeitenden Schulrat und in grösseren Schulen ein professionelles Sekretariat mit einem oft vollamtlichen Präsidenten. Der finanzielle Aufwand ist in grösseren Schulgemeinden in der heutigen Zeit ein Multimillionen-Ding, was nicht wenige der Eltern wohl gar nicht richtig wahrnehmen. In vielen Gemeinderechnungen schlagen die Kosten für die Schulbildung der Kinder mit einem Drittel des jährlichen Steueraufkommens der Kommune zu Buche. Dies ergibt dann einen Aufwand per Schüler um die 20.000 Franken. Doch es ist gut investiertes Geld. Je besser der Schulsack eines Kindes bestückt ist, umso einfacher gelingt später der Start ins Berufsleben und damit dessen Existenzsicherung.

      In unserer Schulzeit kam der Inspektor einmal im Jahr in die Schule und er war ein Mann, vor dem man sich nicht fürchten musste. Denn er schien einerseits ziemlich unbedarft und andererseits sehr väterlich zu sein. Und am Ende eines Schuljahres war Elterntag, das heisst die Eltern durften eine Schulstunde zusammen mit den Kindern erleben, eine sehr eingeübte Angelegenheit, bei der alle strahlten, die Schüler, die Eltern, die Lehrperson. Es war vorgesorgt und ausgeschlossen, dass etwas schief gehen konnte!

      Ich persönlich hatte in der Primarschule in gewissen Klassen ausgezeichnete Lehrer, in anderen Klassen sehr mittelmässige (um es mal gnädig auszudrücken). Als angepasstes Kind mit einer Lernfähigkeit über dem Durchschnitt und allzeit bestem Willen es gut zu machen und niemand zu ärgern, hatte ich kaum je Schwierigkeiten im Schulalltag. Kinder mit mässiger Begabung und insbesondere, wenn sie aus ärmlichen Verhältnissen kamen, hatten es allerdings oft schon schwerer. Gewisse Lehrer und auch Mitschüler behandelten sie nicht selten schlecht, abwertend. Dabei hielten sich manche Lehrer nicht zurück mit regelmässiger körperlicher Züchtigung. Sie verteilten Ohrfeigen, Kopfnüsse und Tatzen (Schlagen mit dem Lineal auf die ausgestreckte innere Handfläche) nach Belieben. Sadistisch veranlagte Lehrer – und solche gab es nicht mal selten - schlugen dabei mit der Kante des Lineals. Viele Buben hatten kahl geschorene Köpfe, sodass sie mir wie kleine Gefängnisinsassen vorkamen. Als Grund für die Glatzenschnitte wurde genannt, dass sich Läuse damit weniger gut einnisten könnten. Manche der Kinder erschienen schon am Morgen mit schmutzigen Händen und Füssen, mit verschmiertem Gesicht, dreckigem Hals und ebensolchen Ohren. Unter den Fingernägeln und Zehennägeln ruhte stets eine dunkle Packung Dreck. Dies alles fand ich furchtbar. Dabei sah ich schon damals, dass eigentlich die Eltern ihre Pflichten nicht wahrnahmen. Nicht wenige Kinder trugen armselige Kleider, die wohl schon ihre älteren Geschwister getragen hatten. Sie hatten Rotznasen, weil sie oft erkältet waren, dies als Folge, weil sie bis zum Einsetzen des Frostes barfuss liefen. Den Eltern ging es darum die Kosten für das Schuhwerk zu sparen. Barfuss laufende Kinder zogen sich immer wieder arg entzündete Wunden an den Sohlen der Füsse oder den Zehen zu, weil sie auf spitze Steine, Nägel, Glassplitter oder Stoppeln traten. Manche Kinder rochen schlecht, weil sie einerseits wohl nicht oft mit dem Waschlappen in Berührung kamen, andererseits ihre Kleider selten oder kaum gewechselt wurden. Wahrscheinlich waren manche von ihnen Bettnässer und Hosenbrünzler. Sie litten wohl unter einer permanenten Blasenentzündung. Im Grunde bedauerte diese Kinder. Doch Mitleid zu haben war das einzige, was man damals vor zirka siebzig Jahren haben konnte. Als Kind und Mitschüler hatte man keinerlei Möglichkeiten etwas zu verändern. Ich und meine Geschwister waren andererseits vielleicht eher überumsorgt von Seiten des Elternhauses. Auf jeden Fall besitze ich noch ein Klassenfoto, in dem ich als Einziger der Klasse Schuhe und Kniestrümpfe trage. Dafür bekam ich das Privileg die Schiefertafel in den Händen zu halten «1. Klasse 1947». Meine Frau Judith - in der gleichen Klasse wie ich, mein damaliger Schulschatz - lacht mich deswegen heute noch aus: Ein Mamakind eben!

      Auch wenn ich dank etwas besser situierten Eltern gewisse Privilegien genoss, ein Herrenleben hatte ich im Primarschulalter dennoch nicht. Aber nicht die Schule forderte mich, sondern mein «Teilzeitberuf». Denn im Haus, oder genauer gesagt im Unternehmen meiner Eltern, hatte ich Pflichten zu erfüllen. Als Primarschüler hatte ich die Auflage, jeweils nach Schulschluss sofort nachhause zu kommen. Dort wartete der Fahrrad-Anhänger, der meistens voll war mit Paketen, bereit für den Postversand. Das Geschäft meines Vaters war eine kleine Maschinenbaufirma mit Handel einschlägiger Produkte. In der Werkstätte wurden handbetriebene Maschinen zum Verschliessen von Dosen für die Haushalt-Selbstversorgung produziert. Besitzer solcher Maschinen bestellten regelmässig Dosen und Deckel, damit sie ihre Produkte aus dem Garten (Früchte und Gemüse) oder auch Fleisch einmachen und sterilisieren konnten. Es war meine Aufgabe den Anhänger mit den bereit gestellten Paketen an mein Fahrrad zu koppeln und damit zur Post zu radeln. Die Pakete mussten vor 12 Uhr am Mittag aufgegeben werden, damit sie am nächsten Tag bei den Kunden einlangten. Regulär endete die Schulstunde täglich um Halbzwölf. Also hatte ich wenig Zeit, um mein Pensum durch zu bringen. Ich war der einzige Schüler, der mit dem Fahrrad in die Schule kam. Mein Velo war ein sehr spezielles Exemplar, das explizit für meinen Dienst von meinem Vater und seinen Mechanikern in unserer Werkstatt präpariert worden war. Dabei hatten sie ein normales Herrenrad in ein spezielles Kinderrad umgewandelt. Der Sattel musste tiefer gelegt werden, angepasst an meine Körpergrösse. Entsprechend musste die Längsstange nach unten versetzt werden. Ausserdem wurde das Fahrrad mit einer englischen «Sturmey-Archer»-Übersetzung mit vier Gängen versehen. Wenn ich sehr schwere Last hatte, konnte ich eine kleine Übersetzung einlegen. Nur so war es für mich kleinen Kerl möglich den anstrengenden Job zu erledigen. Bei grossem Paketaufkommen – was im Sommer ein üblicher Zustand darstellte, war der Fahrrad-Anhänger oft zu klein und die Fracht wurde auf einen Handwagen geladen. Bei der Post angelangt, musste ich die Pakete in die Schalterhalle tragen und dort aufgeben. Übrigens: Auf meine «Sturmey-Archer» war ich sehr stolz. Denn eine solche Gangschaltung hatten sonst üblicherweise nur noble Gentlemen-Fahrräder, die aus England importiert wurden und anscheinend sündhaft teuer waren, wie man mir sagte.

      Bei meinem täglichen Dienst hatte ich zwei grössere Hürden zu überwinden. Das erste Problem war die Konfrontation mit dummen, immerhin nicht bösartigen Kindern, die genau wussten, dass ich täglich in Eile war. Sie stellten sich mir in den Weg. Sie klammerten sich an mein Fahrrad und ich kam dadurch in Zeitnot. Der hartnäckigste Dummkopf von allen war Lucky, ein linkisches Kind aus gutem Haus. Weil sich dieser Bub schwach und ungelenk durchs Leben zwängte, war er oft ein Opfer seiner Mitschüler. Er bekam von seinen Mitschülern oft aufs Dach und musste leiden. In mir hatte er seine einzig mögliche Herausforderung erkannt, nämlich seinerseits den Frust abzureagieren, vielleicht noch eher seine beschränkte Macht auszuspielen. Zwar war Lucky zwei Jahre älter als ich, aber im Grund war ich stärker und ohnehin in jeder Hinsicht behender. Es wäre für mich ein leichtes gewesen, mich zu wehren, sprich ihn zu vermöbeln. Aber als gewaltloses Kind tat ich dies aus Prinzip nicht und das wusste mein Kontrahent genau. Meine Waffe war meine Wendigkeit: Wenn mich Lucky abpasste – und das tat er permanent, versuchte ich mit Speed und Wucht ihn zu umkurven, sodass er mich


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