von wegen früher war alles besser. Hermann Grabher

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von wegen früher war alles besser - Hermann Grabher


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dieses Problem, indem ich andere Strassen für meinen Weg von der Schule nachhause wählte. Dieser neue Weg war zwar länger, aber mit weniger Stress verbunden. Ausserdem konnte ich die Zeit besser kalkulieren. Mein zweites Problem erwartete mich, wenn ich mit meinen Paketen zur Post fuhr. Unmittelbar neben der Post befand sich das Restaurant «Bahnhof». Vor der Tür zum Restaurant lag täglich ein Appenzellerbless-Mischlingshund. Das Tier wartete anscheinend nur auf mein Erscheinen. Vielleicht betrachtete mich das Biest als eine Art Leibfeind, möglicherweise aber auch nur als lustigen Spielgesellen, auserwählt, mit ihm seine Possen zu treiben. Wie auch immer, ich war täglich eine willkommene Zielscheibe seiner giftigen Attacken. Sobald er mich mit meinem Gefährt erblickte, raste er wie ein Berserker auf mich zu und versuchte mit seiner Schnauze mein Hosenbein zu fassen. Mein Ziel war es, ihm möglichst auszuweichen oder eben das Bein, wo seine Zähne zupacken wollte, hoch zu ziehen. Auch versuchte ich mich mit den Schuhen zu wehren, auszuschlagen. Aber der Hund war sehr aufmerksam, sodass ich eigentlich kaum eine Chance hatte, ihm einen Tritt zu versetzen. Nur einmal, es war Winter, die Strasse schneebedeckt und gefroren, ich trug Holzknospen (grobe Winterschuhe mit einem Holzboden versehen), da gelang es mir dem Hund den Meister zu zeigen. Und das kam so: Infolge der prekären Strassenverhältnisse war ich mit meinem Gefährt sehr langsam unterwegs. Ich hatte keine Chance dem Tier durch eine rasante Fahrt zu entkommen. Also war ich gezwungen meine Strategie zu ändern: Als der Hund auf mich losstürmte, konzentrierte ich mich gar nicht mehr auf das Treten der Pedale, sondern nur auf das Tier. Mit einem gezielten Fusstritt mit dem Holzschuh in die Hundeschnauze beendete ich dieses lästige Katz- und Mausspiel für immer. Den Bless überschlug es. Anschliessend trottete er jaulend und mit eingezogenem Schwanz zurück zur Eingangstür seines Restaurants. Das Biest tat mir nicht leid, im Gegenteil. In der Folge wurde ich von diesem Hund nie wieder angegriffen. Wenn ich auf der Bildfläche erschien, blieb er regungslos auf seiner Decke liegen und beäugte mich misstrauisch aus sicherer Distanz. Ich war mächtig stolz auf mich, kam mir vor wie der Hero in einer Heldensage.

      Und weshalb tat ich mir diese Kinderarbeit an? Erstens, weil ich solidarisch mit meiner Familie war und damit bewusst meinen Anteil beitragen wollte. Zweitens wurde ich bezahlt. Ich musste alle Pakete zählen und in eine Liste eintragen. Für jedes Paket bekam ich 2 Rappen – ein sehr geringer Lohn! Dennoch läpperte es sich zusammen mit dem Resultat, dass ich der mit Abstand «reichste Schüler» meiner Klasse war, ja sehr wahrscheinlich gar des ganzen Schulhauses. Ich hatte stets Geld zu meiner Verfügung, worüber ich beim Ausgeben keinem Menschen Rechenschaft abzulegen hatte. Allerdings war ich sparsam, überlegte genau, wofür ich meine Moneten investierte. Es waren stets sinnvolle Anschaffungen, beispielsweise eine Uhr, ein Portabelradio oder eine Fotokamera. Damit konnte ich mir Träume verwirklichen, wie sonst kein anderes Kind meines Alters.

      Am Ende meiner regulären Schulzeit mit fünfzehn (nahe sechzehn), meldete ich mich für eine Reise nach Rom an, für welche der Jungmannschafts-Verband Werbung gemacht hatte. Die Reise von einer Woche kostete 250 Franken - Fahrt, Essen, Schlafen inklusive. Ich war der jüngste Reiseteilnehmer, alle anderen jungen Männer waren schon in der Lehre oder hatten diese beendet. Die Ältesten der Gruppe sprach ich in der Höflichkeitsform an, ich siezte sie. Immerhin waren die über doppelt so alt wie ich. Meine Anmeldung zu dieser Reise erfolgte ohne dass ich meine Eltern fragen musste, denn es war mein Geld, mein eigenes Geld, das ich hiermit investierte. Diese Reise war für mich die Initialzündung des Reisevirus, der nie mehr aus meinem Körper und vor allem nie mehr aus meinem Geiste weichen sollte. Zwei Jahre später – 1958 – besuchte ich die Weltausstellung in Brüssel. Dabei leistete ich mir unter anderem einen Rundflug im Helikopter über die belgische Hauptstadt – für meine Verhältnisse sündhaft teuer, damals eine Sensation, vor allem aber für mich ein Riesenspass. Helikopter waren in jener Zeit eine rare Sache, insbesondere zivil genutzte. Als ich zuhause von meinem Helikopter-Flugerlebnis erzählte, fragte mich manch einer in meinem Umfeld ernsthaft, ob ich wirklich so viel Geld besitze, dass ich in der Lage sei, es auf diese Weise sinnlos zum Fenster hinaus zu werfen. Meine Antwort lautete: «Ich hebe lieber in die Luft ab, statt dass ich die Luft verpeste!» Damit meinte ich das Zigarettenrauchen, das bei den Leuten, auch bei den jungen und sehr jungen, damals immer beliebter wurde. Ich verabscheute dieses Laster. Denn weil Rauchen praktisch überall erlaubt war, litten insbesondere alle Nichtraucher unter dem Tabakgestank. Die Raucher hielten sich nirgends zurück, vielleicht mit Ausnahme der Nichtraucher-Wagen in den SBB-Zügen. So kam es, dass die Kleider nach einem Restaurantbesuch, oder wenn ein Raucher im Auto mitfuhr, unweigerlich penetrant nach Tabakrauch stanken und man mit einer entsprechenden Fahne heimkehrte, was ärgerlich war. Und dass Rauchen nicht gesund sei, das wusste auch jeder. Aber diese Tatsache war in den Köpfen der Leute erst schwach verankert und kaum massgebend für einen Entscheid für oder gegen das Rauchen. Das Hauptkriterium war eigentlich nur: Wollte man sein Geld ausgeben für den Kauf von Zigaretten, oder wollte man das nicht!

      *

       5 Den Kinderschuhen entwachsen

      Als ich in die Pubertät kam, war dies bei mir mit keiner grossen Veränderung meines Wesens, meines Charakters, meiner Mentalität verbunden. Ich behielt meinen Modus als anpassungsfähiger und fleissiger junger Mann bei, war weiterhin bestrebt meine Eltern innerhalb des Familienverbandes und die Firma des Vaters nach Kräften zu unterstützen. Mein Verhalten war recht unterschiedlich zu dem meines Bruders Werner. Die Pubertät hatte Werner in dramatischer Weise verändert, was unsere Eltern nicht nachvollziehen konnten und erst recht nicht goutieren wollten. Werner besuchte nun nur noch selten den Frisör, wodurch seine Haare länger und länger wurden. Der Vater gab unserem Familien-Coiffeur Carl Order, dem Werner einen Kurzschnitt zu verpassen. Carls (doch sehr couragierte) Antwort an den Vater war: «Bei mir befielt jener, der mir seinen Kopf hinhält und kein anderer!» Mein Vater widersprach: «Aber ich bin es, der bezahlt!» Der Figaro liess sich nicht umstimmen, stand also auf der Seite des Jungen, obwohl er mit ihm aufgrund der gegebenen Umstände weniger Geschäfte machte als mit unserem Vater. Was unser Familienoberhaupt anbelangte, schien es uns, als würde er den Coiffeur umso eher aufsuchen, je weniger Haare auf seinem Kopf sprossen. Werner trug jetzt manchmal einen Schnauz und manchmal nicht. James Dean gefiel ihm gut, denn dieser war ein Rebell wie er. Deshalb war er sein Vorbild. Mein Bruder gab sich aufmüpfig gegenüber den Eltern und auch gegenüber den Lehrern, insbesondere als er nach der Sekundarschule die Mittelschule besuchte. Seine Lebenseinstellung und insbesondere sein vorlautes Maul entfachten in der Familie und in der Schule Spannungen. Werner war ein Halbstarker mit Lederjacke, wie man solche Jungs damals nannte. Er war ein sehr typisches Exemplar dieses Genres. Vor allem mit dem Vater hatte er nun öfters das Heu nicht mehr auf derselben Bühne und es kam zu Hahnenkämpfen. Die bislang mehrheitlich genossene einträchtige Familienharmonie wurde mehr und mehr auf die Probe gestellt. Diese geriet schliesslich in eine ungemütliche Schieflage, was insbesondere unserer Mutter überhaupt nicht behagte. Dem Vater ging es vor allem darum seinen Sohn, diesen widerspenstigen Kerl, auf jene Linie zu trimmen, von der er glaubte, dass sie richtig sei. Aber Werner war nicht zu bändigen. Werner behielt seine Vorliebe für Provokationen bei und diese gingen auch schon mal über die berühmte Hutschnur. Ich persönlich empfand die Art und Weise, wie der Vater mit seinem zweiten Stammhalter umging, oft als weit übertrieben, kleinlich, unangemessen, ja zuweilen ziemlich ungerecht. Obwohl das Verhalten meines Bruders nicht unbedingt meinem Ideal entsprach, war ich dennoch an seiner Seite. Denn im Grunde war Werner ein patenter, lustiger Kerl mit gutem Wesen und vielen Talenten. Gerne hätte ich mir von unserem Vater mehr Toleranz, ein grosszügigeres Verhalten gewünscht, insbesondere und nicht zuletzt dem Frieden zulieb.

      Zu unseren zwei jüngeren Geschwistern bestand in jener Zeit ein eher distanzierter Kontakt, weil die doch ziemlich viel jünger waren - zwischen mir und dem jüngeren Bruder liegen über 12 Jahre. Wir grossen Buben konnten mit den zwei jüngeren Geschwistern in dieser Lebensphase eher wenig anfangen. Die grossen zwei und die kleinen zwei befanden sich je in einer eigenen Kategorie. Nachstehendes Beispiel soll dokumentieren, weshalb die Kommunikation zwischen dem grossen Duo und dem kleinen Duo nicht auf Augenhöhe funktionieren konnte: Als wir – Werner und ich – uns zu einer grösseren Fahrradtour durch die Schweiz aufmachten, sagte der Vater – auf Drängen der Mutter, dass wir jeden zweiten Tag nachhause anläuten müssten, um mitzuteilen, wie es uns gehe und wo wir uns befänden. Man würde uns dann am Ende der Reise die Telefongebühren vergüten (was natürlich letztlich vergessen wurde).


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