Fesche Lola, brave Liesel. Heinrich Thies

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Fesche Lola, brave Liesel - Heinrich Thies


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Bestem ist, und freut sich, wenn die ihr wieder mit ihrem übermütigen Lachen in die Seiten knufft, obwohl sie sie bestimmt längst durchschaut hat.

      »Liesel ist ein entsetzlicher Tugendmoppel«, notiert Marlene in ihrem Tagebuch. »Sie geht abends nie über die Cavalleriestraße, aus Angst, man könnte sie bummeln sehen.«

      Marlene nimmt sich auch in der Schule mehr Freiheiten als ihre Schwester. Ihre Lehrerin führt akribisch Buch über ihr Fehlverhalten, und oft fühlt sich Marlene ungerecht kritisiert, wie sie ihrem Tagebuch anvertraut.

      30. Januar 1914

      Heute habe ich eine Rüge bekommen, weil eine mich gekitzelt hat und ich gelacht habe. Na und ma maman hat mir natürlich eine Rede gehalten über Freundinnen … Heute hat mir Steffi Berliner mindestens fünfmal die Mütze runtergerissen, und ich bin böse. Ich hab’ nun schon einen Tadel u. fünf Rügen, ich hoffe stark, noch gut zu bringen in Betragen, denn ich habe in Aufmerksamkeit und Betragen einen Tadel, eine Rüge in Ordnung und vier Rügen in Betragen. Heiliger Bimbam!

      Es gibt aber auch Lehrerinnen, denen Marlene zugetan ist – zum Beispiel Fräulein Grützmacher. Regelrecht verliebt ist sie in Madame Breguand, eine gebürtige Französin, »meine geheime große Liebe«, wie sie später schreiben wird. Doch bald ist die Liebe wieder verflogen, und eine neue Schwärmerei tritt an die Stelle der alten. Besonders stark sind die Gefühle, die Marlene ihrer Tante Vally entgegenbringt. Die Frau, die ihr das Tagebuch geschenkt hat, ist anders als die langweiligen Tanten, die wie graue Mäuse ins Haus huschen und bei Kaffee und Bienenstich über Gott und die Welt, die Kaiserin und Kurbekanntschaften plappern. Ganz anders.

      Tante Vally ist wie eine dieser Schönheiten aus den Illustrierten. Sie kleidet sich nach der neuesten Mode und spart nicht an teuren Hüten und Handschuhen. Ihre tief ausgeschnittenen Seidenkleider sind ebenso maßgefertigt wie ihre Schuhe aus rubinrotem oder moosgrünem Leder. Sie hat eine gute Partie gemacht und leistet sich ein Leben in Luxus. Ihr Mann Otto Varnhagen ist im selben Jahr gefallen wie ihr Bruder Eduard, aber die stilvoll zelebrierte Trauer ist bald überwunden. Was bleibt, ist ein klingender Name. Und viel Geld. Marlene ist betört von Vallys eleganter und aufreizender Erscheinung mit der Brüsseler Spitze und dem Duft der vornehmen Welt. Eines Tages will auch sie so eine feine Dame sein. Immer wieder vertraut sie ihrem »Rotchen« an, wie sie diese schöne Frau anhimmelt.

      3. Februar 1916

      Tante Vally ist hier; es ist wundervoll. Eben habe ich auf ihr Bett einen Tannenzweig mit roten Papierrosen hingelegt und dazu ein Gedicht gemacht:

      Hätt’ ich schöne Rosen,

      Pflückt ich sie für Dich,

      Doch zu Winterszeiten,

      Hab’ ich diese nicht.

      Sieh die Blumen an

      Und denk an mich.

      Ich liebe Dich.

      Zwei Tage später schreibt sie:

      Tante Vally ist so himmlisch wonnig. Gestern hatte sie ein schwarzes Ribkleid an mit weißem Kragen u. weißen Manschetten. Sie sah so himmlisch aus … Kleine Lackhalbschuhe hatte sie an. Ich habe sie gestern viel geküsst, aber trotzdem fehlt mir etwas, ich bin nicht so selig über einen Kuss, den sie mir gibt, wie bei Grete aus Harzburg. Es ist doch meine Tante; Liese gibt sie doch auch einen Kuss. Als ich gestern den Sehnsuchtswalzer von Beethoven ihr vorspielte, da hat sie geweint. Ich hätte die Geige wegwerfen können u. zu ihr hinlaufen u. ihr die Tränen abküssen.

      Aber auch die Schwärmerei für Tante Vally ist bald verflogen. Am 15. Juni desselben Jahres vermerkt Marlene in ihrem Tagebuch:

      Übrigens, ich schwärme nicht mehr für T. Vally. Jetzt für niemanden! In drei Wochen sind wir ja in Harzburg, da schwärme ich gewiss wieder für jemand anderen.

      Meistens sind es ältere Frauen, die Lenis Herz entflammen. Bisweilen verknallt sie sich aber auch in junge Mädchen. »Ich fange jetzt an, Margot Rosendorff, aus Lises Klasse, zu lieben«, notiert sie zum Beispiel am 18. Juni 1917.

      In Jungen oder junge Männer verliebt sie sich nicht so oft – und meist bleibt es bei einem koketten Flirt aus der Ferne wie im Falle eines jungen Soldaten:

      10. Dezember 1916

      Heut hat er wieder gelächelt. Er ist verwundet, geht in Zivil, heißt F. Schuricke, u. guckt mich immer frech an. Frühmorgens seh ich ihn in der Bahn u. mittags, wenn er zurückkommt, u. abends auf dem Bummel. Das werd ich mir doch nicht nehmen lassen!

      Liesel verliebt sich selten. Wenn es aber mal bei ihr funkt, stürzt sie dies gleich in ein Gefühlschaos, das sie zu zerreißen droht, und die Angst vor Zurückweisung ist so groß, dass sie in Gegenwart des oder der Angebeteten Schweißausbrüche bekommt und keinen vernünftigen Satz hervorbringt. Das bleibt auch Marlene nicht verborgen, für die die Liebe vor allem ein Spiel ist. »Lise ist total verliebt in Hanni«, schreibt sie zum Beispiel am 3. Februar 1915 in ihr Tagebuch. »Es gibt Tiere, die heißen Affen, dazu gehört meine Schwester. Ach, ich bin zu fuchsig über Lise, so verliebt zu sein. Verliebt, verlobt, verheiratet.«

      Liesel spürt selbst, dass sie diese Art von Verliebtheit nicht froh stimmt. Umso mehr bewundert sie ihre schöne Schwester, der das alles ganz leichtzufallen scheint.

      Es kommt aber auch vor, dass Marlene das Gleichgewicht verliert. Besonders die Stummfilmdiva Henny Porten (1890–1960) bringt ihr Blut zum Kochen. Die oft nur kurzen Filmdramen mit der blonden Filmschönheit, die als Symbiose von Gretchen und Germania gefeiert wird, begeistern sie – egal ob ihr Idol als jugendliche Naive oder als von Dämonen heimgesuchte Furie glänzt. Und Marlene begnügt sich nicht damit, wie andere Fans Zeitungsausschnitte zu sammeln und Autogramme zu erbitten. Sie lauert der vergötterten Schauspielerin, die in einem Film auch für Kriegsanleihen wirbt, an Bühnenausgängen und Zeitungskiosken auf, schreibt ihr glühende Liebesbriefe, fiedelt ihr in der Lobby eines Hotels ein Ständchen auf der Geige vor und schickt ihr zu Premieren Cremetörtchen und ein selbstbesticktes Gobelinkissen. Als die Angebetete dann das Kissen in einem ihrer nächsten Filme als Requisit verwendet, schreit Marlene bei der Premiere im vollbesetzten Kino entzückt auf. Sie sieht sich bestätigt, dass ihre Verehrung Widerhall findet, fühlt sich ermutigt, ihre Werbungsoffensiven fortzusetzen. Mit doppelter Kraft. Sie stellt ihrem Idol mit der Hartnäckigkeit und Leidenschaft einer Besessenen nach. Ihre Tagebucheintragungen lesen sich wie die Chronik einer Verfolgungsjagd.

      22. November 1917

      Am Sonntag war eine große Feier im Mozart-Theater, mit zwei Filmen mit Henny Porten. Ich wartete auf sie und schenkte ihr vier weinrote Nelken, die mich vier Mark kosteten. Sie sah absolut göttlich aus und gab mir den schönsten Händedruck der Welt. Manchmal überwältigt mich die Sehnsucht nach ihr so sehr, dass ich schnell in einen Laden gehen und eine Postkarte mit ihrem Bild kaufen muss, nur um ihr schönes Gesicht zu sehen.

      Als Marlene bei einer Klassenfahrt im bayerischen Geigenbauerstädtchen Mittenwald ist, schleicht sie sich am frühen Morgen aus der Unterkunft von ihren Mitschülerinnen fort und fährt mit dem ersten Zug nach Garmisch, wo Henny Porten gerade mit ihrem Mann, einem Psychiater, frische Alpenluft tankt. Marlene, die vorher die Kurliste von Garmisch studiert hat, steuert zielgerichtet das Haus der Schauspielerin an und weckt sie mit einem Geigenständchen. Die Diva ist gerührt. Doch schon bald hat sie genug von dem Frühkonzert, schließt entnervt das Fenster und beobachtet erleichtert, wie die Nervensäge mit der Geige von dannen zieht.

      Die Schauspielerin reagiert immer gereizter auf das aufdringliche Mädchen. Henny Porten fühlt sich verfolgt und belagert – und gibt Marlene zu verstehen, dass sie ihre Annäherungsversuche ziemlich lästig findet. Doch es dauert viele Monate, bis die Botschaft bei der Verehrerin ankommt.

      Viele Menschen haben in dieser Zeit ganz andere Sorgen. Der Krieg steuert auf die finale Katastrophe zu. Mehr als dreihunderttausend Soldaten fallen allein in der Schlacht bei Verdun. Andere versinken im Schlamm der Schützengräben oder werden wahnsinnig im Angesicht sterbender Kameraden. Die ganze Welt gerät in den Strudel des Todes, und im Deutschen Reich wandelt sich die Siegeszuversicht in Trauer, Bitterkeit und Verzweiflung.

      Liesel


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