Fesche Lola, brave Liesel. Heinrich Thies

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Fesche Lola, brave Liesel - Heinrich Thies


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»Dass ein schönes Mädchen mit Violine seine Jungfräulichkeit auf dem Altar einer Händelsonate darbot.« Weniger romantisch klingt es, wie Marlene Dietrich selbst dieses »denkwürdige Ereignis« vom November 1920 schildert:

      »Nicht einmal die Hosen hat er ausgezogen. Ich lag auf dem alten Sofa, der rote Plüsch kratzte mich am Hintern. Mein Rock war über meinem Kopf. Er stöhnte und schwitzte. Es war furchtbar.«

      3 Neues Leben im Klassenzimmer

      »Guten Morgen, Kinder.«

      »Guten Morgen, Fräulein Dietrich.«

      Elisabeth musste lächeln, als sie ihren Blick über die dreißig Kinder schweifen ließ, die sich da vor ihren Pulten aufgestellt hatten, um ihren Morgengruß im Chor zu erwidern. Einige starrten schüchtern auf den Boden, andere guckten sie keck an, und wieder andere knufften ihre Nachbarn mit dem Ellenbogen und machten dazu ein Gesicht, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Fast alle aber wirkten noch ziemlich verschlafen. Kein Wunder, es war ja erst acht Uhr. Der Beginn der ersten Stunde.

      »Setzt euch.«

      In einer Ecke des Klassenzimmers glühte ein Kanonenofen. Aber warm war es nicht. Elisabeth erlaubte es deshalb den Jungen und Mädchen, ihre Jacken anzubehalten. Nur ihre Mützen mussten sie abnehmen. Draußen begann es zu dämmern. In der Nacht hatte es leicht geschneit, sodass sich eine dünne Schneedecke über die Straßen und Dächer gelegt hatte. In drei Wochen war Weihnachten. In vielen Familien würde die Bescherung äußerst mager ausfallen. Die Inflation galoppierte, die Preise verdoppelten sich von einem Tag auf den anderen, die Ersparnisse zerrannen zu nichts. Ein paar Heringe waren für viele ein seltenes Festessen, und manche Mütter konnten ihren Kindern nicht einmal eine Stulle mit zur Schule geben.

      Elisabeth taten die Kinder leid. Obwohl auch sie nicht im Überfluss lebte, steckte sie manchen heimlich ihr eigenes Schulbrot zu, verteilte Äpfel oder selbstgebackene Kekse an die Bedürftigen. Zu allem Überfluss hatten acht der Jungen und Mädchen auch noch ihre Väter im Krieg verloren.

      Trotzdem mühte sie sich, »ihre« Kinder auf Weihnachten einzustimmen, Vorfreude zu entfachen. Unter der Decke hing ein Adventskranz, die Tafel war mit Tannenzweigen geschmückt. Und obwohl Elisabeth gar nicht besonders gut singen konnte, stimmte sie jeden Morgen mit ihrer vierten Klasse ein Weihnachtslied an. Heute war es »Bald nun ist Weihnachtszeit«. Den Text hatten die Kinder in der Woche zuvor auswendig lernen müssen.

      Natürlich gehörten zur Adventszeit auch Gedichte. Elisabeth liebte Gedichte, wusste aber, dass sie damit bei einigen ihrer Schüler nicht auf Gegenliebe stieß – manche waren auch gar nicht in der Lage, viele Verse auswendig zu lernen. Sie nahm darauf Rücksicht und verteilte Gedichte von unterschiedlicher Länge, wobei die langen natürlich mit besseren Zensuren belohnt wurden als die kurzen.

      Die Lernschwachen hatten für diesen Tag nur einen Vierzeiler aufbekommen. Elisabeth rief Fritz auf, der gerade mit seinem Nachbarn tuschelte. Bevor der blonde Junge zögernd nach vorn kam, wischte er sich erst einmal mit dem Jackenärmel über die laufende Nase.

      »Schön laut und langsam, Fritz.«

      Fritz legte sofort los: »Niklaus, Niklaus, huckepack …«

      Da fiel ihm seine Lehrerin auch schon ins Wort: »Ich glaube, du hast was vergessen, Fritz. Was tun wir, bevor wir ein Gedicht aufsagen? Wie haben wir das gelernt?«

      »Häh?«

      »Du sollst nicht immer ›häh‹ sagen. Das heißt ›Wie bitte‹. Also noch mal: Wie leiten wir einen Gedichtvortrag ein?«

      »Einleiten?« Fritz kicherte.

      Elisabeth seufzte. »Bitte, Fritz! Darüber haben wir doch schon gesprochen. Aber gut. Wer kann Fritz helfen?«

      Sofort schossen zwanzig Finger in die Höhe. Elisabeth rief die kleine Dora auf.

      »Mit’m Knicks. Die Mädchen machen einen Knicks.«

      »Gut. Sehr schön. Die Mädchen machen einen Knicks. Und was machen die Jungen, Fritz?«

      »’n Diener.«

      »Bitte im ganzen Satz.«

      »Die Jungs mach’n ’n Diener.«

      »Gut. Also dann fang doch noch mal an – und zwar mit einem Diener.«

      Fritz verbeugte sich mit schelmischem Grinsen und begann von vorn.

      Niklaus, Niklaus huckepack,

      schenk uns was aus deinem Sack!

      Schütte … schütte …

      »Ja, wie geht’s jetzt weiter? Wer kann helfen?«

      Wieder meldeten sich viele Kinder. Diesmal hatte Willi die Ehre, mit seinem Wissen zu glänzen, und Fritz konnte endlich den zweiten Teil seines Vierzeilers vortragen:

      Schütte deine Sachen aus,

      gute Kinder sind im Haus.

      Endlich durfte er sich wieder setzen.

      Die Vortragsreihe steigerte sich bis zum Knecht-Ruprecht-Gedicht von Theodor Storm:

      Von drauß’ vom Walde komm ich her,

      ich muss euch sagen, es weihnachtet sehr …

      Viktoria schaffte es, das lange Gedicht ohne Stocken aufzusagen, und Fräulein Dietrich überschüttete sie mit Lob.

      Das waren Momente, in denen sie von einem Glücksgefühl durchrieselt wurde. Solche Kinder waren es wert, dass man sich für sie einsetzte, um sie so gut wie nur irgend möglich zu fördern. Und Viktoria hatte es nötig. Ihr Vater war im Krieg gefallen, und ihre Mutter hustete den ganzen Tag, sodass sie sich nach der Schule auch noch um ihre kleinen Geschwister kümmern musste.

      Elisabeth hatte sie wie andere Schüler auch schon mal zu Hause besucht. Die Familie lebte zu viert in einer schlecht geheizten Zweizimmerwohnung. Sie hatte der Mutter einen Hundertmarkschein zugesteckt.

      Dabei war es auch in der Kaiserallee finanziell eng geworden. Die Rente, die Josephine von Losch als Offizierswitwe bezog, verlor zusehends an Wert, und ebenso rapide schrumpften ihre Ersparnisse. Sie verdiente sich daher immer wieder etwas dazu, indem sie im Uhrengeschäft ihres Bruders aushalf. Aber auch da gingen die Geschäfte schlecht. So war sie ihrer Tochter dankbar, dass sie einen Teil ihres Lehrerinnengehalts der Haushaltskasse zuführte.

      Und Elisabeth war stolz darauf, ihre Familie zu unterstützen. Erst vor einem Dreivierteljahr hatte sie ihr Lehrerseminar – mit der Bestnote – abgeschlossen, sodass sie nach den Osterferien in den Schuldienst eintreten konnte. Ihr war eine Volksschule in Wilmersdorf zugewiesen worden. Gern hätte sie am Gymnasium unterrichtet, auch Englisch oder Französisch, doch dafür hätte sie länger studieren müssen.

      Aber das ließ sich vielleicht noch nachholen. Erst einmal tat sie alles, um ihre Arbeit hier an der Volksschule möglichst gut zu machen. Das war nicht leicht.

      Schon die vielen Namen! Und nicht alle Schüler waren so brav wie die Kinder ihrer Vierten. Es gab auch Klassen, die sie nicht ernst zu nehmen schienen, die einen solchen Lärm machten, dass sich die Kollegen in den Nachbarräumen gestört fühlten. Einmal war sogar die Schulleiterin zu ihr in den Unterricht gekommen, um für Ruhe zu sorgen. Peinlich war das gewesen, schrecklich peinlich. Sie wäre vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. Nächtelang hatte sie verzweifelt überlegt, was sie tun konnte, um sich mehr Respekt zu verschaffen. Härtere Strafarbeiten in Erwägung gezogen, ihrer Stimme einen festeren Klang zu geben versucht und auch an ihrem Erscheinungsbild gearbeitet. Dabei hatte sie sich notgedrungen auch vor den Spiegel gestellt. Aber das war ganz furchtbar gewesen. Ihr Spiegelbild erschien ihr wie eine Witzfigur, ein jämmerlicher Anblick. So klein, so pummelig, so hässlich. Kein Wunder, dass die Kinder über sie lachten. Mochte sie sich noch so stramm aufrichten, den Kopf zurückwerfen, streng blicken oder freundlich lächeln, alles wirkte nur albern und verkrampft. Zu allem Überfluss war sie bei ihrer Selbstbespiegelung auch noch von ihrer Mutter überrascht wurden. »Was machst du denn da?«, hatte die nur gesagt. »Fängst


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