Fünf Minuten vor Mitternacht. Celina Weithaas

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Fünf Minuten vor Mitternacht - Celina Weithaas


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oder Wirklichkeit.

      Ich sollte mich zusammenkauern und darauf warten, dass ich aufwache, auf meiner Fensterbank, die Wange an dem Glas ruhend. Ich will mich in den dumpfen Schlaf spülen lassen. Eine schreiende Angst treibt mich dazu, fester gegen das Holz zu schlagen. Was, wenn man mich nicht unter Drogen gesetzt hat? Was, wenn das hier, wider jeden Verstand, wirklich passiert? Wenn ich gerade jetzt erfriere? Hier? In einer fremden Zeit.

      „Machen Sie die Tür auf!“, rufe ich.

      Meine Stimme hallt durch die vereisten Straßen. Das Grölen hat sich gemeinsam mit dem Schlagen der Turmuhr ins Nichts verflüchtigt.

      Die ganze Welt scheint stehengeblieben.

      Kraftlos lehne ich mich gegen das kalte Holz. Mein Atem dampft stärker, wenn er auf die Eisblumen trifft, die sich die Fassade hinaufranken. Das kann alles nicht wahr sein. Ich stehe hier nicht. Ich sitze in meinem Zimmer.

      „Bitte! Machen Sie die Tür auf, ich flehe Sie an!“

      Schritte? Kommen sie von innen? Einbildung, Wirklichkeit? Jemand reißt die Tür auf und ich taumle ins Innere. Einen Temperaturunterschied spüre ich nicht. Der leichte Gestank von Schwefel und Säure liegt in der Luft. Der scharfe Geruch von Rauch. „Chrona? Himmel, was tust du hier?“

      Bin ich Zuhause? Desorientiert hebe ich den Blick. Der Bewohner ist mir fremd. Nie zuvor bin ich ihm begegnet. Seine braunen Augen sind warm. Warm wie das Holz einer Parkbank an Sommertagen.

      „Warte, ich hole dir eine Decke. Oder zwei. Bleib hier stehen.“

      Ich kann mich nicht bewegen. Verzweifelte Tränen brennen mir in den Augen. Mir ist so kalt. So kalt, dass ich das Gefühl habe, zu verbrennen. „Willst du einen Tee haben?“, ruft der junge Mann von irgendwo her. Teilnahmslos versuche ich die Schultern zu heben. Meine Arme sind blau, die Zehen violett. Die Tränen zwicken, als sie mir über die Wangen laufen. Er kommt zurück.

      Im ersten, schrecklichen Moment glaube ich, dass Gioseppe vor mir steht. Der junge Mann vor mir ist ungefähr in Gioseppes Alter, ebenfalls brünett. Ich verwerfe den Vergleich. Wärme. Warum strahlt dieser Mann nur so viel Wärme aus?

      „Chrona, verdammt, warum bist du nicht reingekommen?“

      Er reibt mir über die Arme, als wäre es das Natürlichste der Welt. Ich kann ihn nur anstarren. Warum fürchtet er sich nicht? Warum fragt er sich nicht, warum ein Mädchen im Schlafanzug vor seiner Tür steht? Ich bin ihm nie begegnet, er befindet sich außerhalb meiner Zeit, woher kennt er meinen Namen? „Ist mein Akzent zu stark oder warum antwortest du mir nicht?“

      Der junge Mann, Anfang zwanzig, klingt panisch. Irritiert runzle ich die Stirn. Er hat keinen Akzent. Einen ganz leichten, wenn man mit der Nase darauf gestoßen wird.

      „Hör auf damit, ja?” Tiefe Falten haben sich zwischen seine Brauen gegraben. „Du machst mir Angst.“ Der junge Mann ist unwirklich blass, fast als hätte er noch nie die Sonne gesehen. Jede Ader schimmert bläulich durch seine Haut. Er wirkt irreal, wie ein Geschöpf aus einem Fiebertraum. Warme Blicke, die mir unter die Haut gehen.

      „Du bist eiskalt“, flüstert der Mann und hebt mich auf seine Arme, als wäre es ihm gestattet. „Komm her.“

      Ich will mich nicht rühren. In einem angrenzenden, winzigen Raum flackert fröhlich ein Feuerchen. Phiolen, Reagenzgläser, Becher stehen auf einem Tisch an der Wand und der Gestank nach Schwefel und Säure ist nicht länger zu ignorieren. Er beschert mir augenblicklich Kopfschmerzen. Vorsichtig setzt der junge Mann mich vor dem Feuer ab und wickelt mich in die Decken. Sie fühlen sich an wie Pelz. Schafswolle? Sie ist schrecklich kratzig, nicht ansatzweise so weich wie alles, wonach ich Daheim gegriffen hätte.

      „Ich bringe dir einen Tee. Versuch bloß, nicht einzuschlafen. Du musst mir die Eitelkeit…” Der Mann stockt und fährt mir hastig mit der Rückseite seiner Finger über die Wange. „Nein, falsch, Vergänglichkeit sagt du, oder?“

      Ich kann ihm nicht antworten. Braune Augen. Was haben seine braunen Augen nur an sich?

      „Auf jeden Fall, du musst das nicht unter Beweis stellen.” Ihm zuzuhören, das fällt mir schwer. Der weiche Klang seiner Stimme lullt mich ein. Unsanft reibt der junge Mann mit den Fingerknöcheln einmal mein Brustbein hinab. Stechender Schmerz. Wimmernd sauge ich die bittere Luft in meine Lungen.

      „Schlaf nicht ein!“

      Aber genau das muss ich tun. Die Kälte zehrt an meinen Kräften. Ich würde für eine heiße Schokolade töten, obwohl ich Getränke dieser Art normalerweise nicht anrühre. Am besten mit einem kräftigen Schuss Wodka. Der Junge entfernt sich, das Feuer bleibt und sticht mir nach und nach in die Nasenspitze. An keinem anderen Körperteil spüre ich es. Meine Zehen sind blau. Ich kann nicht glauben, dass sie zu mir gehören. Zu klein wirken sie, verschrumpelt und geschrumpft.

      „Hier.“ Der junge Mann stürzt nahezu durch die Tür und drückt mir einen unhandlichen, hässlichen Becher in die Hand. „Trink das. Du musst dich wärmen. Warte.“ Er zieht die Decken weg von mir und setzt sich hinter mich, bevor er meinen Körper an seine Brust drückt und die Wolle über mir drapiert. „Gut”, murmelt der Fremde wie zu sich selbst, „das ist gut so. Trink einfach und schlaf nicht ein.“

      Er sollte mich nicht anfassen. Ich müsste ihm sagen, dass ich meinen Anwalt darüber informiere. Ich sollte ihn fragen, wo ich bin, was ich hier soll, was er tut, warum er es für so selbstverständlich erachtet, mich skrupellos zu berühren. Woher er meinen Namen kennt.

      Kein Wort stiehlt sich über meine Lippen. Stattdessen nehme ich gehorsam einen kleinen Schluck des Tees.

      Der junge Mann seufzt erleichtert auf. „Als ich meinte, dass es schön wäre, wenn du schnellstmöglich wiederkommst, meinte ich nicht heute. Ich dachte, du musst Zuhause etwas klären.“ Wovon spricht er? Ich lasse die Tasse sinken und sehe ihn befremdet an. Der junge Mann seufzt tief und streicht mir die Haare über die Schulter. Sein Daumen streift meinen entblößten Hals. „Es ist wirklich schön, dich zu sehen, Chrona. Die paar Stunden haben gereicht, um dich zu vermissen.“ Mühsam klärt sich mein Verstand. Ich öffne den Mund, um zu protestieren und den jungen Mann für verrückt zu erklären. Er gibt mir keine Gelegenheit dazu. Stattdessen küsst er mich.

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