Sommer Roman-Paket Unterhaltungsromane und Erzählungen: In Paris und andernorts. Sandy Palmer

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Sommer Roman-Paket Unterhaltungsromane und Erzählungen: In Paris und andernorts - Sandy Palmer


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war. Dass ich Irmi jetzt nicht allein den Gefahren der nächtlichen Großstadt aussetzen, sondern bis zu ihrer Haustür bringen würde, verstand sich ja von selbst. Es war zwar erst zehn Uhr. Trotzdem war es bereits stockfinster. Damals galt ja noch nicht die Sommerzeit.

      Zunächst zwar hatten wir auf jeden Fall einen gemeinsamen Weg, nämlich zu unseren Fahrrädern, die wir der größeren Sicherheit halber auf dem gewohnten Platz unter den Arkaden des Apothekenhofes der Residenz nahe dem Eingang zur Akademie der Wissenschaften abgestellt hatten; von dort bis zum Hofbräuhaus sind es ja nicht viel mehr als ein paar Schritte. Die Frage war nur: Würde es mir weiterhin gelingen, an mich zu halten? Und was würde überwiegen, die Verzauberung oder die Qual? Um die Antworten gleich vorwegzunehmen: Die Verzauberung. Und nein, es gelang mir nicht. Da nämlich Irmis außerordentliche Heiterkeit ungebrochen war, erkühnte ich mich, sie aufzufordern, sich zum Schutz vor den Dämonen der Dunkelheit bei mir einzuhängen. Mein Herz trommelte freilich im Rhythmus eines Höllentanzes, als ich das sagte. Aber o Wunder, o Glück, o Seligkeit: Ohne jedes Zögern nahm sie meinen Arm und lehnte sich obendrein erneut an meine Schulter. Und da verlor ich mich, um mit dem Dichter zu sprechen, in himmlisches Entzücken und schwebte mit ihr auf einer goldenen Wolke.

      So schwebend, erreichten wir die Residenz. Doch zu meiner Verblüffung schwebte Irmi, ohne unsere Fahrräder zu beachten, zielstrebig mit mir weiter in den unbeleuchteten Hof bis vor die Freitreppe, die zur Terrasse vor dem Herkulessaal hinaufführt. Hier machte sie halt, ergriff meine Hand, blickte mir viele Herzschläge lang in die Augen. Und ich schwöre, dies war das köstlichste Gespräch, das wir je geführt hatten. Und wie schnell ihr Atem ging! Und wie heftig sich ihre Brust hob und senkte!

      Plötzlich begann sie, ohne meine Hand loszulassen, die Treppe hinaufzuschweben; ich ihr verwundert nach. Oben angelangt, fiel sie mir, leise aufseufzend, ohne Vorwarnung um den Hals und hob mir ihre aphrodisischen Lippen entgegen und schenkte mir ihren ersten Kuss. War ich bisher schon einigermaßen beschwipst gewesen, so war ich nun total berauscht. Um Jesus selbst zu zitieren: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.

      Nein, ich wusste nicht, was ich tat. Ich wusste nur: Ich schwebe mit Irmi auf einer goldenen Wolke. Ja, ich schwebte in die Höhe, empor von der unbeleuchteten Terrasse, empor ins Licht, empor bis in den siebten Himmel, atmete den Duft, das Glück, die Seligkeit des Paradieses, hörte die Engelchöre jubilieren.

      Irgendwann verstummten sie. Ich kam zu mir und erkannte, dass soeben meine sehnlichsten Wünsche, meine geheimsten Hoffnungen, meine kühnsten Träume wahr geworden waren. Nicht nur durch die Dunkelheit, sondern auch durch die Begrenzungsmauer der Terrasse vor unbefugten Blicken geschützt, lagen wir in inniger Umarmung auf dem Steinboden und waren, in den Worten der Bibel, ein einzig Fleisch geworden.

      Schließlich kam jedoch der Zeitpunkt, da wir, wieder säuberlich getrennt, unsere Kleidung und wohl noch so manches andere in Ordnung zu bringen suchten und uns dabei immer wieder scheue Blicke zuwarfen.

      „Du, Irmi, ich hoffe ...“, begann ich mit unsicherer Stimme.

      Sie legte mir einen Finger auf die Lippen und flüsterte: „Sag nichts.“

      Schweigen.

      „Du, Benedikt? Soll ich dir was verraten? Das hier ... Das, was jetzt geschehen ist ... Ich hab's mir im Geheimen schon lang gewünscht.“

      „He, ist das wahr?“

      „Sag, liebster Benedikt, warst du schon einmal im Bayerischen Nationalmuseum?“

      „Nein. Wieso?“

      „Weißt du, das älteste Objekt dort ist die Reidersche Tafel, eine frühchristliche Elfenbeintafel aus der Zeit um 400 mit einem wunderschönen und zugleich hochinteressanten Relief: Christus wird von Gottvater einen Berghang hinaufgezogen, der fast wie eine Himmelstreppe aussieht. Gemeint ist natürlich die Himmelfahrt. Daran musste ich oft denken, wenn ich aus dem Fenster meines Arbeitszimmers schaute, und malte mir in Gedanken aus, wie das wohl wäre, wenn ich dich, wie Gottvater Christus, die Stufen dieser Himmelstreppe heraufzöge, und diese Terrasse hier würde zu unserem privaten Himmel.“

      Vor Rührung versagte mir die Stimme. Wortlos umschloss ich mit beiden Händen Irmis Gesicht, presste meine Lippen auf die ihren und versuchte an Küssen all das nachzuholen, was uns bisher entgangen war, so lange, bis sie erklärte, nun müsse sie aber schleunigst nach Hause, sonst gebe ihre Mutter noch eine Abgängigkeitsanzeige auf.

      Also stiegen wir von unserem privaten Himmel ab, schwangen uns auf unsere Räder und fuhren bis zu Irmis Wohnhaus, wo ich wie stets mit einem warmen Händedruck entlassen wurde. Nun aber protestierte ich gegen ein so unfeierliches Ende unserer gemeinsamen Himmelfahrt und verlangte, sie bis in ihre Wohnung begleiten zu dürfen. Aber nein, das gehe leider nicht; dafür sei es schon viel zu spät; ihre Mutter wolle sicher schlafen.

      „Aber vielleicht möchtest du morgen zum Mittagessen kommen?“

      Hochbeglückt und zugleich mit tiefem Bedauern, dass wir uns schon trennen müssen, sah ich zu, wie Irmi meinen Augen entschwand, stand danach noch lange vor der geschlossenen Haustür und glich vermutlich einem jener Unglücklichen, die der Blick der Gorgo Medusa in Stein verwandelt hat. Und sobald mein Denkvermögen wieder zu funktionieren begann, gingen mir der Reihe nach alle die Fragen durch den Kopf, die ich Irmi noch hätte stellen wollen.

      Sonntag, 22. Juni 1969.

      Also kam ich doch noch zur Ehre, Irmi besuchen zu dürfen und sogar ihrer Mutter vorgestellt zu werden. Und hernach konnte ich noch weniger verstehen, wieso mir Irmi dieses harmlose Vergnügen so lange missgönnt hatte.

      Am Nachmittag besuchte sie mit mir das Bayerische Nationalmuseum und zeigte mir das von ihr gerühmte Elfenbeinrelief mit der Darstellung der Himmelfahrt Christi. Und ja, Jesus schwebt hier nicht wie sonst immer zum Himmel empor, sondern besteigt, rüstig ausschreitend, einen Berg und wird gleichzeitig von Gottvater, dessen Hand aus einer Wolke ragt, den Hang hinaufgezogen. (Erschöpfte Bergsteiger würden bei diesem Anblick wohl vor Neid erblassen.)

      Nach Auffassung des Künstlers, bemerkte ich, sind also auch Gottvater und Jesus auf dem Olymp daheim, friedlich vereint mit den übrigen Göttern und Göttinnen.

      Dem widersprach Irmi mit überraschender Heftigkeit. Dies sei ein eindeutig christliches Relief, das erkenne man daran, dass auch die drei Frauen am Grab Christi, einem Mausoleum nach römischer Art, dargestellt seien; und das schließe den Gedanken an die „übrigen Götter und Göttinnen“ aus.

      Ja, aber vielleicht sei der Künstler im Herzen noch Heide gewesen. Er habe ja zu einer Zeit des Übergangs vom Heidentum zum Christentum gelebt. Und wie wolle man den Berghang anders erklären?

      Indes, Irmi blieb hartnäckig bei ihrer Auffassung und schien meine Meinung sogar als Verstoß gegen das erste Gebot zu empfinden: Du sollst an einen Gott glauben. Sie selbst war, das wusste ich schon lange, streng katholisch. Das war ich zwar an und für sich auch, aber offenbar nicht ganz so streng wie sie. Immerhin wurde ich wegen unserer eigenen glückseligen Himmelfahrt in der vergangenen Nacht von einem schlechten Gewissen geplagt, nicht sehr, aber eben doch. Solche Himmelfahrten sind ja, zumindest laut katholischer Morallehre, ausschließlich Paaren erlaubt, denen zuvor ein Gottesmann den Segen der Kirche gespendet hat. Alles andere ist schwere Sünde, für die man, falls man sie nicht rechtzeitig beichtet, in das ewige Feuer der Hölle geworfen wird. Ob auch Irmi deshalb ein schlechtes Gewissen hatte? Ich wagte sie nicht zu fragen. Zugleich wünschte ich mir ja noch unendlich viele Wiederholungen dieser Sünde. Aber vermutlich ja. Und vielleicht hielt sie mich jetzt für einen verdammenswerten Ungläubigen, wer weiß.

      Montag, 23. Juni 1969. Morgen.

      Ich finde Irmi, bereits emsig arbeitend, in der Bibliothek. Freudig erregt, begrüße ich sie im Flüsterton. Sie blickt auf, wirft mir einen langen und, so scheint es, unendlich traurigen Blick zu.

      „Komm, gehen wir hinaus“, murmelt sie anstelle einer Begrüßung. Und draußen, mit steinerner Miene und im Ton einer Grabrede: „Du, Benedikt, so kann das nicht weitergehen.“

      „Ha? Was kann so nicht weitergehen?“, stammle ich, und


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