Herrenfahrrad "Partizan". Dragan Aleksić
Читать онлайн книгу.tat sehr weh, aber ich weinte nicht. Er schlug mich wieder, ich schwieg und legte mir die Hände übers Gesicht. Er schlug mich auf die Hände. Ich weinte nicht. Papa war erstaunt, er schaute Mama an, dann mich. Mama schrie: „Verlass dieses Haus oder ich rufe die Polizei, du hast das Kind geschlagen.“
Papa drehte sich um und ging. Er schlug die Haustür zu. Ich konnte hören, wie er die Autotür aufmachte und dann zuknallte. Ich schaute aus dem Fenster. Er hatte seinen Kopf aufs Lenkrad gelegt. Ich verließ das Haus und schlich mich zum Auto. Das Fenster war offen. Papa weinte laut. Ich kehrte ins Haus zurück und sagte zu Mama: „Ich will, dass Papa wieder zurückkommt. Ich hole ihn jetzt. Dich hat er nicht geschlagen. Mich hat er geschlagen, ich verzeihe ihm.“
In unserer Nachbarschaft lebte eine alte Indianerin. Einmal hatte sie mich weinen gesehen, als ich noch ganz klein war. Sie sagte zu mir, ich solle sofort damit aufhören. Sie sagte zu mir, ich müsse so sein wie die Indianerkinder – sie weinen niemals. Wenn ein noch ganz kleines Indianerbaby zu weinen beginnt, legt seine Mutter ihre Hand über den Mund und die Nase des Babys. Auf diese Weise lernen die Babys ganz schnell – Weinen bedeutet, nicht mehr atmen zu können.
Mama gab mir den Namen Elethia, aber sie rief mich nicht so, sondern Annie. Ich weiß nicht, warum. Ich fragte nie.
Papa sagte, er hätte zu trinken und zu rauchen aufgehört. „Du machst Witze“, sagte ich und konnte ein Lachen nicht unterdrücken. Papa schaute mich ernsthaft an: „Prinzessin, hüte deine Zunge.“
Dieses „Prinzessin, hüte deine Zunge“ hatte ich schon ewig nicht mehr gehört. Ich war noch klein gewesen, ich hatte irgendetwas gesagt, Papa hatte mir eine Ohrfeige gegeben und gesagt: „Prinzessin, hüte deine Zunge.“ Ich wiederholte es, kassierte wieder eine Ohrfeige und dann: „Prinzessin, hüte deine Zunge.“ Ich sage es noch einmal, aber leiser, weil mir das Gesicht weh tat, und Papa erhob die Hand, um mich zu schlagen, tat es aber dann doch nicht. Mama hatte ihn mit einer Bierflasche auf den Kopf geschlagen.
„Der Arzt sagt, ich habe Lungenkrebs“, sagte Papa. Ich denke, ich habe ihn in diesem Moment so angeschaut, wie Mama mich mehrmals angeschaut hat, wenn ich ihr etwas Wichtiges mitteilte: stumpf, ausdruckslos, ohne zu blinzeln. „Der Arzt sagte, der Krebs wurde rechtzeitig entdeckt, alles wird okay sein. Ich muss nur aufhören zu rauchen und zu trinken und eine Therapie machen. Er hat gesagt, ich werde meine Haare verlieren. Es ist nicht schade um die Haare. Viele habe ich ja ohnehin nicht mehr, aber es ist schade um den Bart und um den Schnauzer. Ich habe mir ein Rasiergerät gekauft. Deshalb habe ich dich auch angerufen, du sollst mir die Haare schneiden, ganz ganz kurz.“
„Wo ist deine Freundin?“, fragte ich und betrachtete Papas braunen Schnauzer und Bart, ohne ein einziges graues Haar. Papa lachte: „Auf und davon. Sobald sie gehört hat, was mit mir los ist, hat sie gesagt, ihr Vater ist daran gestorben und sie will nicht ein zweites Mal das gleiche durchmachen. Schlampe.“
Papas Haare fielen bald aus. Er litt unter Schlaflosigkeit. Häufig rief er mich an, ohne auf die Uhrzeit zu achten. Ich ging immer ans Telefon. „Ja, Papa.“ Ich hörte eine Zeitlang zu, was er zu sagen hatte, dann legte ich den Hörer auf den Teppich und schlief weiter. Papas Stimme sprach zur Dunkelheit meines Schlafzimmers. Papa sprach über vieles, aber meistens sprach er über seine Kindheit, die er auf einer kleinen, ärmlichen Farm verbracht hatte, und über seinen gewalttätigen Vater, der die Kinder geschlagen und die Frau vergewaltigt hatte. Papas Vater war mit sechsundvierzig gestorben. Er hinterließ sieben kleine Kinder, das eine reichte dem anderen gerade mal zum Ohr, und eine schwangere Frau. Einige Monate später fanden die Kinder ihre tote Mutter auf dem Küchenboden, als sie aus der Schule zurückkehrten. Zwischen ihren nackten Beinen lag in einer Blutlache ein totes Baby, durch die Nabelschnur mit der Mutter verbunden.
Papa war zweiundfünfzig Jahre alt, als er starb. Ich war damals zweiunddreißig Jahre alt, mein fünfter Sohn war gerade unterwegs.
Mama schlief im Sessel. Der Fernseher war an: Werbung für zehn CDs mit Musik aus den Sechzigern. Links von Mama stand ein Beistelltisch, darauf ein überquellender Aschenbecher und drei Bierdosen. Ich nahm jede von ihnen kurz in die Hand; die erste war leer, die zweite ebenfalls, in der dritten war noch ein wenig Bier. Ich trank es aus und stellte die Dose zurück auf den Beistelltisch. Diesen Beistelltisch, die Lampe daneben, den zweiten Staubsauger und noch den einen oder anderen Gegenstand im Haus hatte Mama beim Container hinter dem großen Gebäude zwischen dem Einkaufszentrum und dem Hotel „Radisson“ gefunden, in der Nähe der Autobahn 480. Papa hatte ihr diesen Bergwerk von Schrott gezeigt. Er brachte unterschiedliche Dinge von dort mit. Bei Umzügen ließen die Bewohner einige Sachen zurück, Regale, Lampen, Kinderspielzeug, Weihnachtsbäume aus Plastik ... Papa brachte alles nach Hause, er konnte immer alles gebrauchen. Was kaputt war, wurde von ihm repariert, er reinigte die Sachen, malte manche an und verkaufte dann alles vor seiner Garage. In der Nachbarschaft brachte er dann Plakate mit der Information an, GARAGE SALE an dem und dem Tag, an der und der Adresse. Als er uns verließ, wegen einer Frau aus dem Büro der Autoreparaturwerkstatt, in der er damals arbeitete, und zwar weil die Frau nach einigen Malen, die sie mit ihm in seinem Jeep in den Pausen Liebe gemacht hatte, schwanger wurde, sagte Mama: „Jetzt soll er diesen ganzen Müll zu ihr nach Hause schleppen.“ Aber nachdem Papa weg war, ging Mama manchmal zu dem Gebäude und schaute nach, ob es bei dem Container noch etwas gab, das man zu Hause gebrauchen könnte.
Ich setzte mich in den Sessel und schaute Mama beim Schlafen zu. Viel Arbeit, vier Kinder, unterschiedliche Typen vor und nach Papa, viel Bier und auch etwas Härteres – all das hatte dafür gesorgt, dass Mama gealtert war. Schlafend, mit offenem Mund, ohne ihre Zahnprothese, ohne Schminke schaute sie zehn Jahre älter aus als sie tatsächlich war. Leider habe ich ihre schönen blauen Augen nicht geerbt. Die Halbschwester und die beiden Halbbrüder ebenfalls nicht.
Ich ging zum Kühlschrank. Eine Bierdose legte ich in die Tasche, die andere machte ich auf und kehrte zum Sessel Mama gegenüber zurück. Aus dem Fernseher ertönte Musik aus den Sechzigern, zehn CDs für Hundertzwanzig Dollar, gratis Zustellung. Von jedem Lied waren einige Takte zu hören. Zehn Minuten später ging ich wieder in die Küche; eine Bierdose machte ich auf, die andere legte ich in meine Tasche, damit ich später noch etwas hätte bei mir daheim. Wieder betrachtete ich Mama, sie hatte besseres Haar als ich. Ich dachte: „Nächstes Jahr um diese Zeit wirst du tot sein, Mama.“
Nachdem ich das Bier getrunken hatte, stellte ich beide Dosen auf den Beistelltisch neben die anderen drei. Lautlos öffnete ich die Haustür, ging auf den Flur hinaus, und als ich die Tür zumachte, glaubte ich, von innen zu hören: „Ich weiß ... du hellseherische Schlampe.“
Ich kehrte nicht ins Haus zurück. Ich stieg ins Auto, machte den Motor an und fuhr langsam los. Nach dem zweiten oder dritten Haus hörte ich im linken Ohr Mamas Flüstern: „Die Mutter deines Vaters, die Ärmste, hieß Elethia. Dein Vater mochte keine Namen. Er erwähnte nie die Namen seiner Eltern, Geschwister oder Arbeitskollegen ... den Namen seiner Mutter sprach er ein einziges Mal aus, zu Beginn unserer Beziehung, nachdem wir auf dem Rücksitz seines alten Buick LeSabre Sex gehabt hatten, während wir rauchten, nachdem du in meinem Inneren gezeugt wurdest.“
Die Frauen von Dubrovnik
Sie sagte, sie wäre sechzig Jahre alt. Eine schöne Frau.
Mit neunzehn hatte sie einen Marinekapitän geheiratet. Sie hatte zwei Kinder zur Welt gebracht. Einige Jahre später wurde ihr Mann in Chile getötet. Dort wurde er auch begraben. Jedes Mal, bevor in See stach, sagte er zu ihr: „Wenn irgendwas passiert, dann ist besser, wenn ich dortbleibe. Man soll mich nicht hierher zurückbringen.“ Diesen Wunsch erfüllte sie ihm.
Sie zog die Kinder alleine groß. Sie arbeitete in einer Bibliothek.
Der Sohn ging nach Zagreb zum Studieren. Zwei Jahre später entschloss sich die Tochter, es ihm gleich zu tun. Bevor sie wegzog, sagte sie zu ihrer Mutter: „Du hast dich um uns gekümmert, kümmere dich jetzt ein wenig um dich selbst. Gib mir deinen Ehering. Ich werde ihn an einer Kette um den Hals tragen. Und du such dir einen anderen Ehering. Der Goldschmied Vido stellt noch immer Eheringe her, er ist noch immer ein gutaussehender Mann, er ist noch immer alleinstehend, er liebt dich noch immer genauso wie damals, als du die Wahl zwischen Papa und ihm