Respekt schlägt Harmonie. Rachael Robertson

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Respekt schlägt Harmonie - Rachael Robertson


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die Leute galten vielfältige Rechenschaftspflichten; das bedeutete für mich als Stationsleiterin, dass die Leute meines Teams den Leitern von Wissenschaftsprogrammen in Universitäten, Ingenieurteams, Kommunikationsteams und so weiter verantwortlich waren. Es war eine komplizierte Matrix von Verantwortlichkeiten und Berichtsverhältnissen.

      Als Leiterin wusste ich, dass auf mich noch eine Reihe weiterer Herausforderungen zukommen würde. Ich würde immer im Dienst sein. Auch an Sonntagen (normalerweise ein freier Tag im Winter) müsste ich arbeiten und die Chefin sein. Und wie es in Führungspositionen immer der Fall ist, stand ich unter strenger Beobachtung und wusste, dass jede meiner Entscheidungen, wie banal sie auch war, auseinandergepflückt und kritisiert werden würde.

      Dann war da auch noch die spezielle Aufgabe der Leistungsbeurteilung. Wie sollte ich ohne Sanktionsmöglichkeiten mit schlechten Leistungen umgehen, und wie sollte ich herausragende Leistungen ohne handfeste Belohnungsmöglichkeiten würdigen?

      All dies zusammengenommen, war es eine Ehrfurcht gebietende Herausforderung. Und neben all dem mussten wir ja auch noch die wissenschaftlichen Projekte erfolgreich absolvieren, die Station sommers wie winters in Betrieb halten, die Infrastruktur pflegen und warten und uns auf den nächsten Trupp Expeditionsteilnehmer vorbereiten.

      Und das Ganze mit einem Haufen zufällig zusammengewürfelter Fremder.

      Kurz gesagt

       Die Menschen werden von ganz unterschiedlichen Dingen gestresst. Was für die eine Person eine Kleinigkeit ist, kann die andere völlig aus der Bahn werfen. Das Wissen, dass Stressoren individuell sind, hilft Empathie zu entwickeln.

       Die Wirkung von Veränderungen ist in der Regel kumulativ. So wird eine einzige Veränderung, wie etwa ein neuer Arbeitsbeginn, eine Person vielleicht noch nicht besonders stören, aber nehmen Sie dann noch eine Umstrukturierung, Überlegungen zu einer Büroverlagerung und Gespräche über eine Zusammenlegung hinzu, und die kumulative Wirkung kann gewaltig sein.

      Wie schon erwähnt, war das Einzige, was die Mitglieder unseres Expeditionsteams gemeinsam hatten, der relativ radikale Entschluss, in der Antarktis zu leben. Das hatte ich so nicht erwartet. Ich hatte angenommen – zu Unrecht –, dass wir alle einen ähnlichen Background aufweisen würden, in etwa im gleichen Alter wären, alle einen ähnlichen Sinn für Abenteuer haben würden. Das war nicht der Fall, aber es dauerte eine Weile, bis ich das begriff.

      Als ich meine Team‐Fotos durchsah, war ich zunächst verblüfft, wie ähnlich wir uns alle schienen. Alle weiß, überwiegend Männer. Verbindende Merkmale wie gemeinsame Werte, Erfahrungen und Erlebnisse zu finden müsste also leicht sein, dachte ich. Aber je mehr ich meine Leute kennenlernte, desto mehr stellte sich heraus, wie unterschiedlich wir alle waren.

      Diversität reicht natürlich viel tiefer als die sichtbaren Unterschiede. Sie geht weit über Rasse, Alter und Geschlecht hinaus. Wenn nur das allein zählte, würden Sie beim Blick auf mein Team denken, wir wären zu 90 Prozent homogen gewesen.

      Was weit entfernt von der Wahrheit war, obwohl ich das erst nach langer Zeit erkannte, als ich jeden Einzelnen kennen und verstehen gelernt hatte. In meinem kleinen Team der Expeditionsteilnehmer, die über den Winter mit mir auf der Station bleiben sollten, manifestierte sich diese Diversität – abgesehen von Rasse, Geschlecht und Alter – …

       im Ausbildungsniveau (von Handelsschule bis hin zu mehreren Doktortiteln),

       in der Denkart (von logisch und rational bis hin zu emotional und intuitiv),

       im Umgang mit Konflikten (von Hitzköpfen bis hin zu jenen Menschen, die Uneinigkeit und Ärger verinnerlichen),

       im beruflichen Background und in der Berufserfahrung,

       in der Generation (von Millennials bis hin zu Babyboomern),

       im Beziehungsstatus (Single, verheiratet, mit oder ohne Familie, geschieden, verwitwet),

       in der familiären Verantwortung (mit Kindern oder anderen von ihnen abhängigen Angehörigen wie betagten Eltern oder Verwandten mit besonderen Bedürfnissen),

       in der sexuellen Orientierung,

       in Introvertiertheit versus Extrovertiertheit,

       im sozioökonomischen Background,

       in der Lebenserfahrung (manche hatten zuvor nur im ländlichen oder regionalen Australien gelebt, während andere lange Zeit in Übersee gewesen und regelmäßig umgezogen waren),

       im ethnischen Background (Australier der ersten bis fünften Generation),

       in der Antarktis‐Erfahrung (von Ersttätern bis hin zu Veteranen, die schon mehrere Reisen unternommen hatten),

       in der Einstellung zu Risiken und zum Unbekannten (Begrüßen oder Ablehnen von Veränderungen).

      Wenn Sie in Ihrem Team hinter das Sichtbare und Offensichtliche blicken – was für andere Formen von Diversität können Sie da wohl noch entdecken? Das ist eine interessante und lohnende Aufgabe für jedes Team. Je mehr Sie über Ihre Teammitglieder wissen, desto besser werden Sie in der Lage sein, deren Verhaltensweisen zu verstehen und das, was sie antreibt.

      Während demografische Diversität oft sichtbarer und offensichtlicher ist, kann kognitive Diversität die größere Herausforderung darstellen, sich dafür aber auch stärker auszahlen. Kognitive Diversität hat mit unterschiedlichen Denkweisen, Perspektiven und Fertigkeiten zu tun. Dazu gehört auch die kulturelle Intelligenz – das heißt die Fähigkeit, in unterschiedlichen kulturellen Kontexten zurechtzukommen.

      Eine Priorität bei der Arbeit in der Antarktis ist die Notwendigkeit, mit Vertretern anderer Nationen zusammenzuarbeiten. Genau wie in multikulturellen Gemeinschaften oder multinationalen Unternehmen ist die Fähigkeit entscheidend, Empathie und Verständnis für kulturelle Unterschiede aufzubringen. Wenn Sie da Zweifel haben oder unsicher sind: einfach fragen. Es ist viel besser, zu fragen, wenn Sie kulturelle Anspielungen, Reaktionen oder Riten nicht verstehen, und damit Respekt zu zeigen, als wenn Sie nur so tun, als wären Sie im Bilde, weil Sie eine oberflächliche Harmonie wahren wollen, denn dann zeigen Sie echtes Interesse.

      Als ich bei der australischen Haushaltswarenkette Bunnings arbeitete, lernte ich einen Teamleiter kennen, der von einem bestimmten Teammitglied hoch geschätzt wurde. Warum? Weil er sich die Zeit genommen hatte, die richtige Aussprache ihres (nicht angelsächsischen) Namens zu lernen, während andere das nicht getan hatten. Respekt geht über Harmonie.

      Der richtige Mix Ihres Teams ergibt zwar ein viel besseres Ergebnis, erfordert aber auch ein Verständnis unbewusster Vorurteile – der Einstellungen, Perspektiven und Stereotypen, die wir aufgrund unserer Lebenserfahrung gesammelt haben und die unsere Entscheidungen beeinflussen können, besonders wenn wir unter Druck stehen. Dieser Druck kann zum Beispiel durch eine unklare Situation hervorgerufen werden, durch Übermüdung oder durch einen


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