Der Fall Jesus. Lee Strobel
Читать онлайн книгу.steht –, dann ist nichts wichtiger als die Frage, wie Sie auf ihn reagieren.
Aber wer war er wirklich? Wer behauptete er zu sein? Und gibt es mehr als einen glaubwürdigen Beweis, der seine Behauptungen untermauert? Das wollen wir herausfinden, wenn wir ein Flugzeug nach Denver besteigen, wo ich mein erstes Interview führe.
1 Lee Strobel: „Four Years in Jail – and Innocent“. In: Chicago Tribune, 22. August 1976 und: „Did Justice Close Her Eyes?“. In: Chicago Tribune, 21. August 1977.
Teil I Die Prüfung der Aufzeichnungen
Kapitel 1
Die Augenzeugenberichte
Kann man den Biografien Jesu trauen?
Als ich Leo Carter zum ersten Mal traf, war er ein schüchterner, mit leiser Stimme sprechender Siebzehnjähriger, der in dem Chicagoer Viertel mit der höchsten Kriminalitätsrate lebte und für sein Alter schon viel – zu viel – erlebt hatte. Seine Zeugenaussage hatte drei Killer ins Gefängnis gebracht. Und er hatte noch immer eine Kugel von einer .38-Kaliber-Waffe im Schädel stecken – eine grausige Erinnerung an eine schreckliche Geschichte, die begann, als er in diesem Viertel beobachtete, wie Elijah Baptist einen Lebensmittelhändler niederschoss.
Leo und sein Freund Leslie Scott spielten Basketball, als sie sahen, wie Elijah, der damals siebzehn Jahre alt war und schon dreißig Arreste auf seinem Vorstrafenregister stehen hatte, Sam Blue vor seinem Lebensmittelladen ermordete.
Leo kannte den Lebensmittelhändler seit seiner Kindheit. „Wenn wir nichts zu essen hatten, dann gab er uns etwas“, erklärte Leo mir mit leiser Stimme. „Als ich also ins Krankenhaus ging und sie mir sagten, dass er tot war, wusste ich, dass ich aussagen musste, was ich gesehen hatte.“
Aussagen von Augenzeugen haben großes Gewicht. Zu den dramatischsten Augenblicken in einer Verhandlung gehört, wenn ein Augenzeuge in allen Details das Verbrechen beschreibt, das er beobachtet hat, und dann ganz zielsicher auf den Angeklagten als den Täter zeigt. Elijah Baptist wusste, dass er dem Gefängnis nur entgehen würde, wenn er Leo Carter und Leslie Scott irgendwie davon abhalten konnte, ihre Zeugenaussage zu machen.
Also gingen Elijah und zwei seiner Freunde auf die Jagd. Bald spürten sie Leo und Leslie auf, die mit Leos Bruder Henry unterwegs waren, und zerrten sie mit vorgehaltenen Waffen zu einem dunklen Ladedock in der Nähe.
„Ich kann dich eigentlich wirklich gut leiden“, sagte Elijahs Cousin zu Leo, „aber ich muss es tun.“ Und mit diesen Worten setzte er Leo seine Pistole an den Nasenrücken und drückte ab.
Der Schuss ging los; die Kugel beschrieb einen Bogen, ließ Leo auf dem linken Auge erblinden und bohrte sich in seinen Schädel. Als er am Boden zusammenbrach, wurde ein weiterer Schuss auf ihn abgefeuert. Die Kugel traf ihn knapp neben der Wirbelsäule.
Leo lag am Boden, stellte sich tot und musste miterleben, wie sein schluchzender Bruder und sein Freund brutal aus kürzester Entfernung niedergemetzelt wurden. Als Elijah und seine Bande flohen, brachte sich Leo mühsam in Sicherheit.
Irgendwie überlebte er. Die Kugel in seinem Schädel konnte man nicht entfernen; die Operation war zu gefährlich. Trotz seiner bohrenden Kopfschmerzen, die auch starke Medikamente nicht unterdrücken konnten, wurde er zum einzigen Augenzeugen im Prozess, in dem Elijah Baptist angeklagt wurde, den Lebensmittelhändler Sam Blue ermordet zu haben. Die Geschworenen glaubten Leo und Elijah wurde zu 80 Jahren Haft verurteilt.
Auch für den Mord an seinem Bruder und an seinem Freund war Leo der einzige Zeuge, der aussagen konnte, dass Elijah und seine beiden Freunde die Täter waren. Und auch hier war sein Wort gut genug, um die drei für den Rest ihres Lebens ins Gefängnis zu bringen.
Leo Carter ist einer meiner Helden. Er sorgte dafür, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde, obwohl er einen gewaltigen Preis dafür bezahlen musste. Wenn ich heute – mehr als 20 Jahre später – an Augenzeugenberichte denke, dann sehe ich sein Gesicht immer noch vor mir.2
Ein Zeugnis aus einer fernen Zeit
Ja, Augenzeugenberichte sind in der Tat zwingend und überführend. Wenn ein Zeuge die umfassende Möglichkeit hatte, das Verbrechen zu beobachten, wenn er keine Vorurteile oder Hintergedanken hat, wenn der Zeuge vertrauenswürdig und fair ist, dann kann es völlig ausreichen, wenn er im Gerichtssaal auf den Täter deutet, um diesen zu Gefängnis oder zu Schlimmerem zu verurteilen.
Die Berichte von Augenzeugen sind genauso wichtig, wenn es darum geht, historische Fragen zu untersuchen – auch die Frage, um die es hier in meinem Buch geht: ob Jesus Christus der einzigartige Sohn Gottes ist.
Aber welche Augenzeugenberichte besitzen wir zu dieser Sache? Haben wir Berichte von jemandem, der persönlich mit Jesus zu tun hatte, der seinen Lehren zugehört hat, seine Wunder gesehen, seinen Tod miterlebt und ihm vielleicht sogar nach seiner angeblichen Auferstehung begegnet ist? Haben wir irgendwelche Berichte von „Journalisten“ aus dem ersten Jahrhundert, die Augenzeugen interviewt, unangenehme Fragen gestellt und treu berichtet haben, was sie gewissenhaft als Wahrheit bestimmt haben? Und würden diese Berichte den kritischen Einwänden von Skeptikern standhalten?
Mir war klar, dass Augenzeugenberichte aus dem Nebel vergangener Zeiten dazu beitragen könnten, diese wichtigste geistliche Frage zu beantworten. Um solide Aussagen zu bekommen, arrangierte ich ein Interview mit einem landesweit sehr angesehenen Wissenschaftler, der ein Buch zu genau diesem Thema geschrieben hatte: Dr. Craig Blomberg, der Autor von „Die Zuverlässigkeit der Evangelien“.
Ich wusste, dass Blomberg ein kluger Kopf war und seine Erscheinung passte zum Klischee. Er war sehr groß und schlaksig, hatte kurzes, braunes gewelltes Haar, das er ganz zwanglos nach vorne gekämmt hatte, einen krausen Bart und eine dicke, randlose Brille. Er war der Typ, der die Abschiedsrede bei der Abschlussfeier an der High School hält (was er getan hatte), der den Titel eines National Merit Scholar innehat (hat er) und der mit „summa cum laude“ sein Studium an einer angesehenen Universität abgeschlossen hat (was er auch tatsächlich getan hat).
Aber ich wollte jemanden, der nicht nur intelligent und gebildet war. Ich suchte einen Experten, der nicht über Kleinigkeiten hinwegsehen oder ungeniert Aspekte unter den Tisch fallen lassen würde, die die Aufzeichnungen des Christentums infrage stellen könnten. Ich brauchte einen integeren Menschen, jemanden, der sich mit den einflussreichsten Kritikern des Glaubens herumgeschlagen hatte und voller Autorität sprach, sich dabei aber den entscheidenden Fragen stellte, statt sie einfach vom Tisch zu wischen.
Man hatte mir gesagt, dass Blomberg genau der richtige Mann für mich wäre. Und so flog ich nach Denver und fragte mich im Stillen, ob er meinen Erwartungen wohl gerecht werden würde. Offen gestanden hatte ich ein paar Zweifel, vor allem, nachdem meine Nachforschungen eine beunruhigende Tatsache ans Licht gebracht hatten, die Blomberg vielleicht lieber verheimlicht hätte: Er hoffte immer noch, dass die Helden seiner Kindheit, die Chicago Cubs, zu seinen Lebzeiten die World Series im Baseball gewinnen würden.
Und ehrlich gesagt reichte das aus, um mich etwas an seinem Urteilsvermögen zweifeln zu lassen.
Das erste Interview: Craig L. Blomberg
Craig Blomberg ist allgemein anerkannt als eine der führenden Kapazitäten für die Biografien Jesu, die man die vier „Evangelien“ nennt. Er erwarb seinen Doktor im Fachbereich Neues Testament an der Universität von Aberdeen in Schottland, arbeitete später als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Tyndale House an der Universität von Cambridge in England, wo er zu einer Elitegruppe von internationalen Wissenschaftlern gehörte, die eine Reihe anerkannter Werke über Jesus publizierte. Seit über zehn Jahren ist er nun Professor am Lehrstuhl für Neues Testament am Denver Seminary.
Zu Blombergs Büchern zählen Titel wie Jesus and the Gospels, Interpreting the Parabels („Die Gleichnisse Jesu“; dieser Titel ist als einziger bereits auf Deutsch erschienen) und Kommentare zum Matthäus-Evangelium und zum ersten Brief an die Korinther. Außerdem war er an