Mami Staffel 8 – Familienroman. Lisa Simon
Читать онлайн книгу.Hoffnungen durften sie sich nicht machen, das wußten beide. Auch, daß mit jedem Tag, der verstrich, die Hoffnung geringer wurde, war ihnen klar, doch darüber wollten sie nicht reden.
Wie üblich stieg Julia am späten Nachmittag zu Roland ins Auto, sie hatten stets einen Stadtplan bei sich und führten die Suche systematisch Straßenzug für Straßenzug durch.
»Wir haben noch nicht einmal ein Viertel der Umgebung befragt«, seufzte Julia, während sie auf den Plan sah. »Es ist wie die Suche nach der berühmten Stecknadel im Heuhaufen.«
»Ich habe mich auch schon gefragt, ob es einen Sinn hat, jeden Abend die Leute aus ihren Wohnungen zu klingeln. Aber was können wir sonst tun?« Roland sah kurz zu Julia hinüber, als sie an einer Kreuzung halten mußten.
»Vielleicht hat die Suchmeldung im Fernsehen Erfolg«, sagte sie hoffnungsvoll.
Die Kreuzung war frei und Roland gab Gas. »Ich glaube, das wird höchstens noch mehr Journalisten anlocken. Ach, da ist ja die Körnerstraße.«
»Sieh mal, da ist ein Parkplatz. Die Gegend sieht aus, als wenn es hier nur ältere Leute gäbe. Ein kleiner Junge ist hier möglicherweise sofort aufgefallen.«
»Wenn er hier gewesen ist«, stellte Roland trocken fest. »Also, auf geht’s!«
*
Es zeigte sich bereits kurz nach der Fernsehausstrahlung, daß Roland recht behalten hätte. Das Telefon im Waisenhaus lief heiß, obwohl die Nummer im Fernsehen gar nicht angegeben war. Es riefen auch nur Neugierige oder Reporter an, die auf die Story ihres Lebens hofften.
Bärbel Clasen war extra an diesem Abend im MARIENKÄFER geblieben, wollte wieder auf der Couch im Aufenthaltsraum schlafen. Um zweiundzwanzig Uhr stellte sie den Anrufbeantworter an, wer etwas Wichtiges über Kevins Verschwinden wußte, konnte auf das Band sprechen oder sich an die Polizei wenden. Doch Frau Clasen glaubte nicht daran, daß jemand den Jungen gesehen hatte – niemand schien ihn gesehen zu haben!
Julia hatte auch angerufen, um mitzuteilen, daß die Suche wieder ergebnislos gewesen war und um zu fragen, ob die Suchmeldung etwas ergeben hatte. Resigniert legten beide Frauen auf.
Bevor sie ins Bett ging, betrachtete sich Julia kritisch im Badezimmerspiegel. Ihre Wangen waren im Laufe der letzten Tage richtig eingefallen, und unter ihren Augen lagen tiefe, dunkle Ringe. Sie mußte unbedingt mehr schlafen, aber die Sorge um Kevin ließ sie nachts kaum Ruhe finden. Auch Roland sah schlecht aus, obwohl er seinen Sohn noch nicht kannte und gar keine Beziehung zu ihm hatte, war ihm die Sorge um ihn deutlich anzusehen.
Wenn doch ein Wunder geschehen würde! Doch daran glaubte Julia nicht, vielmehr wurden die Befürchtungen schlimmer, daß sie alle Kevin nie wiedersehen würden…
*
Gleich am frühen Morgen, kaum daß Julia im Heim angekommen war, nahm Diana die Freundin beiseite. »Weißt du, wer heute morgen in Neustadt angekommen ist?« Und ohne auf Julias Antwort zu warten, fügte sie leise hinzu: »Kevins Mutter!«
»Marion Seifert?« fragte Julia, und wußte nicht, ob sie sich über diese Neuigkeit freuen sollte oder nicht. »Woher weißt du das?«
»Frau Clasen hat es mir vorhin gesagt. Da hatte Marion Seifert gerade im Büro angerufen und einen auf besorgte Mutter gemacht. Sie hätte von der Suchmeldung gehört und sich daraufhin gleich in den nächsten Zug gesetzt.«
»Und wo ist sie jetzt?«
»Wahrscheinlich bei Roland Westermann. Sie wollte nämlich seine Adresse wissen.«
Julia versuchte, den leisen Stich der Eifersucht zu ignorieren, eigentlich sollte sie doch froh sein, daß Kevins Mutter nun wirklich gekommen war. Ironie des Schicksals: Kevins Mutter war da, aber der Junge war verschwunden!
»Was hatte Frau Clasen für einen Eindruck von ihr?« fragte Julia leichthin.
»Keinen besonders guten, schätze ich. Als Frau Clasen sie vor ein paar Tagen anrief, schien sie sich keine großen Gedanken um den Jungen zu machen. Eigentlich hat sie gar kein Recht, hier zu sein.«
»Wieso denn nicht? Immerhin hat sie Kevin zur Welt gebracht«, nahm Julia die Frau lahm in Schutz.
»Ja, und ihn dann ins Heim abgeschoben! Nee, das ist für mich keine richtige Mutter!«
Julia gab ihr insgeheim recht, doch das war im Augenblick zweitrangig. Darüber konnte man sich Gedanken machen, wenn Kevin wieder aufgetaucht war.
Wie schon an den Vortagen verrichtete Julia mechanisch ihre Arbeit, vor dem Mittagessen las sie den ganz Kleinen ein Märchen vor und zwang sich zuzuhören, wenn eines der Kinder eine Frage zu der bösen Hexe oder der schönen Prinzessin hatte.
In der Mittagspause sagte Bärbel Clasen: »Frau Seifert hat ihren Besuch für heute nachmittag angemeldet.«
Erstauntes Schweigen war die Antwort, bis Diana gehässig sagte: »Was will die denn hier? Wenn sie sich beizeiten um Kevin gekümmert hätte, wäre das alles nicht passiert.«
Die anderen Betreuerinnen nickten beifällig, und die Heimleiterin sagte bedauernd: »Sie haben ja recht, aber wir können ihr den Besuch nicht verweigern. Sie kann sogar, wenn sie es will, die Adoption rückgängig machen. Wir müssen halt abwarten, wie sich die Dinge entwickeln.«
Als dann Marion Seifert wirklich kam, drückten sich alle Erzieherinnen in der Nähe des Büros herum – außer Julia, die im Obergeschoß zu tun hatte. Doch auch sie sah hin und wieder neugierig aus dem Fenster, von dem sie den Haupteingang sehen konnte.
Über Nacht schienen es immer mehr Reporter geworden zu sein, die gelangweilt vor dem Eingang herumstanden, rauchten, aus Plastikbechern Kaffee tranken und hin und wieder einen Blick durch das Gittertor auf das Gebäude warfen.
Als ein Taxi vorfuhr, zückten alle gleich ihre Kameras. Man konnte ja nicht wissen, ob es lohnte, ein paar Schnappschüsse von dem Besucher zu haben. Aus dem Wagen stieg eine atemberaubend schöne Frau – rote wallende Mähne, makellose Figur und modisch gekleidet. Das mußte Marion Seifert sein!
Julia schluckte hart vor Aufregung. Gegen diese Frau würde sie keine Chance haben, das war ihr klar.
Wenn Roland seine Gefühle für Marion wiederentdeckte, war sie abgeschrieben bei ihm. Aber wenigstens hätte Kevin dann endlich eine Familie.
Julia wußte, daß sie nicht an sich denken durfte, auch wenn es weh tat. Sie konnte beobachten, daß sich Marion mit den Reportern unterhielt. Wie eine Mutter, die sich Sorgen um den Verbleib ihres Kindes machte, sah sie jedoch nicht aus. Vielmehr hatte Julia den Eindruck, daß es Marion genoß, im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen.
Irgendwann ging Julia wieder hinunter; Diana erzählte ihr, daß Marion Seifert schon über eine Stunde mit Frau Clasen im Büro saß.
»Was die wohl zu besprechen haben?« Diana schüttelte den Kopf. »Also, wenn du mich fragst – die Frau ist mir sehr unsympathisch.«
Julia enthielt sich der Meinung, hatte sie Marion doch nur aus der Ferne sehen können.
»Ach ja, da fällt mir ein, daß Herr Westermann angerufen hat. Er läßt ausrichten, daß er heute nicht kommen wird, um mit dir die Suche nach Kevin fortzusetzen. Er sagte, er würde mit Marion weitersuchen. Du sollst dich heute abend zu Hause mal ausruhen.«
Julia starrte ungläubig zu Diana hinüber, die schon wieder damit beschäftigt war, die Bilderbücher in das Regal im Spielzimmer zu sortieren.
Also doch! Jetzt, wo Marion da war, hatte Roland keine Lust mehr, mit der kleinen Waisenhaus-Angestellten loszuziehen. Julia hätte am liebsten vor Wut und Enttäuschung die Bauklötze, die sie in eine Kiste legte, an die Wand geworfen.
Dann würde sie eben allein suchen, dachte sie sich, bis ihr einfiel, daß ihr Wagen ja in der Werkstatt war. Mit dem Bus war es eine halbe Weltreise bis zu dem Gebiet, das sie gerade durchforsteten. Aber immerhin konnte sie in der Nähe der Wohnung suchen, die am Stadtrand lag. Den ganzen Abend tatenlos in der Wohnung zu