Griechische Kulturgeschichte, Band 3. Jacob Burckhardt
Читать онлайн книгу.wagte; denn es ist nicht ohne weiteres zu erwarten, daß deshalb sofort auch das Kultbild, wenn auch nur als Xoanon, entstand. Vielmehr ist es denkbar, daß die Kunst sich noch lange Zeit, nachdem das Epos die Schönheit der Götter selbstverständlich gemacht hatte, nicht recht an dieses wagen wollte, mit anderen Worten, daß die rohen Steine aufgestellt wurden, als man sich bereits bewußt war, die Götter müßten eigentlich schön gebildet werden, und dies könne man nicht16.
Aber auch mit dem Monströsen hatte das Kultbild seinen Kampf noch zu bestehen. So wurde Hekate in einer älteren Zeit mit drei Köpfen und sechs Armen, ja mit Köpfen von Roß, Hund und Löwe dargestellt17. Aber schon das Xoanon des Myron auf Ägina gab ihr nur ein Gesicht und einen Leib, und Alkamenes18 bildete in seiner Hekate Epipyrgidia beim Tempel der Nike Apteros zu Athen das frühere Monstrum ins Schöne um, indem er es zuerst in jene drei sich enge berührenden Frauengestalten der Artemis, Selene und Persephone auflöste, von denen die Bronzegruppe des Museo Capitolino vermutlich ein Nachbild ist. Man möchte gerne wissen, auf wessen Rat und Recht hin er dies unternommen hat.
Wo Scheußliches sich hielt, mußte es den Griechen gewaltsam aufgezwungen werden. Als in der Höhle am Berg Elaïon das ältere Holzbild der pferdeköpfigen "schwarzen Demeter" verbrannt war, machten die Phigalier kein neues und unterließen auch die betreffenden Opfer und Feste, bis eine Generation nach den Perserkriegen über das Land Unfruchtbarkeit kam und Pythia sie anwies, die Opfer herzustellen und die Höhle mit göttlichen Ehren zu schmücken. Hierauf erneuerten sie den Kult eifrig und gewannen den Onatas, ihnen um jeden Preis wieder ein Bild zu machen. Er fand wohl eine Abbildung von dem alten Bilde oder eine Tradition darüber vor, das meiste aber soll er "nach Traumgesicht", d.h. ohne Zweifel mit irgendwelcher Milderung gegeben haben19.
Anderes Monströse blieb stehen, wenn keine Zerstörung darüber kam, wie z.B. das Xoanon des dreiäugigen Zeus im Tempel der Athene auf der Larissa zu Argos, welches den Zeus nach der Deutung des Pausanias20 als Herrscher in Himmel, Erde und Meer darstellte. Auch konnte das Verschönern auf Bedenklichkeiten stoßen. So verschönerte einst eine Priesterin im Tempel der Hilaeira und Phöbe zu Sparta an einem der beiden Bilder den Kopf, offenbar im Geschmacke der reifen Kunst21; das andere aber ebenso zu verschönern, verbot ihr ein Traum. Auch an dem gefesselten Ares und an der verhüllten und an den Füßen gefesselten Aphrodite Morpho22, mit denen die Treue des Kriegsglücks und der Frauen symbolisiert war, wird man in Sparta nichts haben ändern dürfen.
Noch manche herbe Symbolik, womit sich die frühere Kunst noch ohne die idealen Mittel, und hier noch dazu in kleiner Darstellung, behelfen mußte, war am Kypseloskasten23 angebracht: Geryones in Gestalt von drei aneinanderhängenden Männern; der Phobos auf Agamemnons Schild, eine wahrscheinlich menschliche Gestalt mit Löwenkopf; die Ker mit Zähnen wie ein wildes Tier und mit krallenförmigen Nägeln; ferner die Häßlichbildung der Allegorie des Bösen in Gestalt der Eris, endlich eine Allegorie mit einer Aktion: Dike als schönes Weib schleppt ein häßliches, die Ungerechtigkeit (Adikia), fort und würgt und schlägt es mit einem Stock24. Auch das üble Thema der aus dem Haupte des Zeus heraufkommenden Athene hat plastisch mehrmals existiert, und es gab ein solches Bildwerk auf der athenischen Akropolis25; aber Phidias am Giebel des Parthenon substituierte einen andern Moment. Und ähnlich überwand die Kunst das Schreckliche: Von dem Heiligtum der Semnen (Erinyen) in Athen sagt Pausanias (1, 28, 6) ausdrücklich: "Weder ihre Bilder haben etwas Furchtbares an sich noch die der übrigen unterirdischen Gottheiten: des Pluton, des Hermes und der Gäa"26. Über die Darstellung eines ästhetisch mißlichen Sachlichen half bisweilen die Leichtigkeit der Personifikation hinweg: schon das uralte Bild des Apollon zu Delos27 stellte den Gott mit dem Bogen in der Rechten dar, in der Linken aber nicht direkt drei Musikinstrumente, sondern die drei Chariten mit Lyra, Flöte und Syrinx.
In der Zeit nach Homer, aus unergründlichen Ursachen in Betreff des Wann? und Weshalb erst? erwachte die Lust an reicherer und großartigerer Verbildlichung der Götter und an der massenhaften Darstellung des Mythus; die Kunst erwachte wie aus einem gesunden Schlaf.
Die verschiedenen Techniken fand sie vor. Die großen alten Kulturstaaten hatten dieselben gewiß längst "erfunden", und ihre Übung kannte man schon von den Geräten her, so daß sie an sich schon früher keine Schwierigkeiten würden dargeboten haben. Da also diese äußere Vorbedingung für künstlerisches Schaffen vorhanden war, brauchten die Griechen nur die Augen zu öffnen und ihre Natur walten zu lassen, welche der Kunst nun auch die stärksten positiven Fördernisse bot.
Wir rechnen hierzu die notorische Schönheit der Rasse, von der im letzten Abschnitte dieses Werkes die Rede sein soll, und die bald und rasch zur Höhe gelangte agonistische Gymnastik, deren Betrachtung ihnen das anatomische Studium ersetzte, ferner die entschiedene Vereinfachung und Schönheit ihrer Tracht, welche dem Leibe folgt.
Zumal aber kommt hier endlich die große zentrale Eigenschaft dieser Nation, die sich nur umschreiben läßt, tatsächlich im höchsten Grade zum Vorschein: die Verbindung von Freiheit und Maßhalten, welche allein Lebendig-Ideales schaffen konnte, jener sofortige Respekt der Kunst nicht bloß vor Göttern und Menschen, sondern vor sich selber, das Festhalten und Steigern jedes Gewonnenen; es ist jene so vielgepriesene Sophrosyne, die sich in der besseren Zeit des Staatslebens als Gehorsam bei starker individueller Entwicklung darstellt, und die sich leider im Staate nur gar so häufig vermissen ließ. Hier aber liefert für sie besonders auch nachträglich den stärksten Lebensbeweis die lange Dauer der Kunsthöhe: es folgt nicht wie auf Rafael und Michelangelo ein sofortiger Manierismus mit mühsamen Herstellungen der Kunst durch Eklektiker und Naturalisten.
Ohne knechtische Vorschrift, durch freie Aneignung pflanzt sich die Kunst von einem Geschlechte zum andern fort. Schon im Mythus spiegelt sie sich – anders als im Orient – als eine Sache großer Individuen. Wir treffen hier zuerst Geschlechter: Kyklopen, Daktylen, Telchinen; dann vom Gott Hephästos an die Heroen der Kunst: Dädalos, Trophonios, Agamedes. Schon frühe tauchen weiterhin historische Künstlernamen mit Traditionen von Schülerschaft auf, und endlich finden sich berühmte, ganz freie, über viele Städte verteilte Künstler und ihre Schulen. So setzt sich die mythische Freiheit und Vielheit der Ursprünge fort; gerade aber, weil nicht ein Künstler und seine Schule die ganze Kunst nach sich zieht, ist die Kunst vor dem genial Hingeworfenen bewahrt. Das Subjektive darf sich nicht vordrängen; wir konstatieren bei den Griechen eine gänzliche Abwesenheit der Sensation, des Willkürlichen, des forciert Individuellen, des Geniestreichs. Auch auf die Kunst wurde der allgemeine griechische Begriff von der hohen Bedeutung der Erziehung (paideysis), gleichviel ob mit völligem Recht, angewandt28.
Man wird nun ewig fragen: Wie entstand diese reine Blüte menschlicher Bildung? Wie behauptete sich diese Freiheit im Gesetzlichen und diese Gesetzlichkeit im Freien?
Die anfängliche Beschränkung der Darstellung auf das Tempelbild oder Kultbild würde das Phänomen nicht erklären29; denn Andacht ohne Schönheitssinn schützt nicht vor dem Fratzenhaften und jedenfalls nicht vor dem Plumpen und Unschönen. Entscheidend wird eher sein, daß die Kunst sich zur Belebung ihrer Gestalten erst aufmachte, als die Poesie ihre Aufgabe schon vollbracht hatte. Die Sehnsucht nach dem lebendig Bewegten regte sich schon frühe; für sie zeugen die goldenen und silbernen Hunde des Hephästos vor dem Palaste des Alkinoos30 und der den Schild des Herakles umschwebende Perseus bei Hesiod31. Aber die Gestalten der Götter waren im poetischen und populären Bewußtsein schon zur höchsten Phantasieschönheit durchgebildet, ehe die Kunst an ihre Arbeit ging32. Das Stammeln blieb ihr in dieser Beziehung gänzlich erspart. Und nun gab diese Poesie zugleich auch das Beispiel einer hohen Gesetzmäßigkeit, eines Stils. Der Betrieb des Epos allein schon, wie er vor und seit Homer sich darstellte, war eine Schule für die Kunst: schon hier konnte sie lernen, daß man nicht von einer Gattungsform abzugehen habe, bevor derselben alles mögliche Leben abgewonnen sei. Und schon existierte die ältere Chorlyrik und lehrte ebendasselbe.
Theologie und Priestertum haben nichts zur Kunst zu sagen gehabt, deshalb, weil sie (im Sinne der orientalischen Nationen) nicht vorhanden waren.