Griechische Kulturgeschichte, Band 3. Jacob Burckhardt
Читать онлайн книгу.sprechend und dabei doch von höchster Wahrheit und Schönheit; man merke auch auf den Schimmer von Trauer in den schönsten Götterköpfen (denn die Götter sind ewig, aber doch nicht Herrn des Schicksals): Nie hat man das Gefühl der Motivjagd, des Präsentierens von Attituden um ihrer optischen Wohlgefälligkeit willen. Diese Gestalten sind um den Beschauer im höchsten Grade unbekümmert; abgesehen vom eigentlichen Kultbilde glauben sie sich alle ungesehen und unbelauscht. Wie bei der höchsten Kunst doch eine völlige Naivität bestehen kann, lehrt ein Blick auf die Giebelstatuen des Parthenon.
Die Gewandung ist "das tausendfache Echo der Gestalt" (Goethe)57. Frühe wurde auf alle Stoffpracht im Sinne der assyrischen Kunst verzichtet58; man hat es mit den vereinfachten Stücken der ohnehin einfachen männlichen oder weiblichen Tracht zu tun59, die äußerst frei nach dem Bedürfnis der schönen Erscheinung und der Verdeutlichung der Bewegung gestaltet wird, so daß oft der Gang des Gewandes bis in seine Enden gar nicht nachzurechnen ist. Der verschiedene Stoff ist oft vom Schwersten bis ins Feine vollkommen und doch ohne Raffinement in der Behandlung des Materials ausgedrückt, bei einzelnem aber (z.B. den Gewändern der Amazonen oder der parthenonischen Frauen) läßt sich, so gut wie von einer Idealität des Ganges und der Komposition, auch von einer besonderen Idealität des Stoffes sprechen, der so im Handel nie und nirgends zu haben gewesen wäre und aus einer höheren Ordnung der Dinge zu stammen scheint. An dem Gewande ist wenig Schneiderarbeit, nichts Genähtes oder Geknöpftes; es sind quadratische oder runde (oder in Form von Libellenflügeln gefertigte?) Tuchstücke, welche erst zum Gewande werden, wenn man sie anzieht. Dasselbe ist etwas Getragenes, das den Leib nicht parodiert, kein Futteral für ihn, wie die Röhren und Säcke, in welchen wir gehen; vielmehr drückt es in den aufliegenden glatten Teilen wie in den tiefen Schatten rein nur die Gestalt und ihre Bewegungen aus. Wie es heißt, wurde seine Dicke gar nicht gerechnet; man nahm an den glatten Stellen den Kontur des Leibes selbst; es erscheint deshalb gleich schwer, aber die Form des Leibes bleibt.
Ganz besonders ist an die Fülle von weiblichen Gewandstatuen zu erinnern, mögen es Tempelbilder von Göttinnen oder Darstellungen von Musen, von Priesterinnen usw. sein. Hier entfaltet sich ein Übereinander und in der schönen Folge der Gewänder, in dem bisweilen vorkommenden Durchscheinen des untern durch das obere, in der Halbverschleierung des Hauptes durch ein übergezogenes Gewand, in der manchmal doppelten Gürtung und in der Emporfassung des zu langen Chitons zum faltenreichen Kolpos ein wahrhaft wunderbarer Reichtum der herrlichsten Motive.
Die Bewaffnung der Götter ist oft, z.B. beim Ares-Achill des Louvre, auf den bloßen Helm beschränkt. Die Kunst stellt das Unorganische nicht gerne dar und rechnet darauf, auch mit einer bloßen Andeutung verstanden zu werden.
Vor allem aber durfte diese Kunst es sich zutrauen, das Nackte zur Herrschaft zu bringen. Aphrodite hatte in der früheren Dichtung ihren Gürtel und ihre von Chariten und Horen gefertigten Gewänder, welche in allen Frühlingsblumen gefärbt waren60 – jetzt verließ sich die Kunst auf die reine Gestalt allein. – Auch das frühere prachtbeladene Stirndiadem (stepanh) bleibt nun weg.
Bei aller Freiheit aber bewahrt die Kunst die größte Zurückhaltung gegenüber aller phantastischen Willkür. Diese bleibt völlig abwesend, und kein einziger Ausfall in das Genial-Wüste findet statt. Nachdem jene Schlußredaktion der Göttertypen im IV. Jahrhundert geschehen war, wurde das einmal errungene Treffliche in den Motiven und Typen wiederholt und festgehalten, nicht nur weil es höchst vorzüglich war, sondern weil man kaum mehr anders konnte. Die Kunst verzichtet auf materielles Neuschaffen, empfindet aber dafür das Vorhandene stets neu und hierin wird die Genialität erkannt, und auch hier ist für die Griechen, wie bei der Übereinstimmung in den Formen (vgl. S. 21 f.), der freiwillige Consensus bezeichnend; Ähnliches werden wir auch bei den Formen der Poesie kennenlernen.
Neben der Darstellung des Idealen entwickelt sich nun auch die des Individuellen. Auch diese war im Orient längst bekannt. Wie unendlich vieles Porträtmäßige findet sich nicht als kaum vortretendes Relief aus den Wänden von Ninive und Persepolis herausgemeißelt! Und dann haben wir die ägyptische Kunst mit ihren teils freien, teils angelehnten sitzenden und stehenden Königsbildern, ihren Grabstelen mit fast freier Rundskulptur und Werken, wie der ägyptische Schreiber im Louvre. Hier sucht und erreicht die Kunst oft das Scharfindividuelle61. Aber die ägyptischen Könige sind nur Könige, nicht Krieger, Redner usw., ihnen genügt eine ruhige, götterähnliche Stellung und Bildung, und die Privatleute oder etwa auch Beamten eines gewissen Ranges62 werden dargestellt, weil sie wohlhabend oder amtlich respektiert genug gewesen und hernach gestorben sind. Nirgends aber auf der Welt ist die Darstellung des Individuellen so entstanden wie bei den Griechen. Hier ist nämlich das Entscheidende für die Porträtbildung, daß sie mit dem Athletenbilden beginnt, mit der ersten Siegerstatue, die zu Olympia schon 558 v. Chr. aufgestellt wurde. Das Wesentliche dabei ist, daß das Individuelle hier nicht mit der Ähnlichkeit der Gesichtszüge, sondern mit der Verewigung der ganzen Gestalt in irgendeiner charakteristischen Bewegung, vielleicht im Momente des Sieges, zur Welt kommt. So wurde das Athletenbilden zum zentralen Faktum erstens für das Bilden des Individuellen überhaupt und zweitens für die Belebung des Idealen; denn ohne die stärkste Einwirkung dieser Studien auch auf das Götterbilden wären z.B. Hermes, die Dioskuren, Apoll, Dionysos in ihrer späteren Bildung so wenig denkbar als die weitere, nicht athletische Porträtbildung. Das Athletenbilden macht die ganze Kunst nicht bloß des lebendigsten Charakterisierens fähig, sondern überhaupt zu allen Aufgaben gelenk; auch die Amazone ist die ideale Athletin. Am Ende aber wurde die Athletenstatue selbst aus einem Denkmal zum freien Objekt der Kunst, und wir bewundern in der späteren, bloß um der Schönheit willen erfolgten Ausbildung und Wiederholung bestimmter Athletentypen, z.B. im Diskobol, den Athleten als solchen in seinen schönsten Erscheinungsweisen. Und dabei haben wir des Umstandes noch nicht Erwähnung getan, daß, nachdem die ältesten Athletenstatuen aus Zypressenholz waren gebildet worden, der kausale Zusammenhang, der zwischen dem Athletenbilden und dem Erzgusse bestand, eine der allerwichtigsten Techniken aufs mächtigste förderte.
Was die übrigen Porträtstatuen betrifft, so weiß man jetzt, daß schon frühe Statuen, welche irgendwie – wenn auch nicht eigentlich ikonisch – den Verstorbenen darstellten, an oder in Gräbern aufgestellt wurden. Am Grabe wird auch das Ikonische am ehesten begonnen haben. Wann aber hat zuerst eine Polis Ehrenstatuen für Krieger, Staatsmänner, Redner und Dichter dekretiert? Auch hier hat das Griechentum das Höchste erreicht. In der ganzen Kunstgeschichte gibt es keine Porträtstatue wie der lateranensische Sophokles. Prächtigere Statuen wird man aussinnen können, aber etwas von diesem vollendenten Einklange kommt nicht mehr vor.
Nur mit einem Worte möge schließlich hier auch der Genrefiguren, der Kinder usw. und der Tierbildungen Erwähnung getan werden, welche für sich wieder eine neue Welt der künstlerischen Darstellung ausmachen.
Und nun die plastische Darstellung des Vielen, die Komposition. Auch hier ist der Orient vorangegangen; aber Ägypten und Assur fehlt der Mythus und seine schöne Vielgestaltigkeit; stattdessen finden wir an Wänden, Pfeilern und selbst Säulen lauter Königschronik und Ritualien, d.h. es herrscht lauter Erzählen müssen, die Künstler sind an sachliche Vollständigkeit und ewige Wiederholung gebunden, und das Relief, das seinem Stil nach eigentlich ganz Teppich ist, fließt mit der Architektur zusammen und läuft wie eine Schrift oder wie ein Ornament darüber hin.
Den Griechen dagegen kommt hier, wie bei den einzelnen Gestalten, vor allem die große Vorarbeit zugute, welche die Poesie erledigt hatte. Daß bei den dargestellten Kämpfen nicht gottgleiche Sieger gegen Gestalten der Nacht streiten, sondern daß die Kämpfer, wer sie auch sein mögen, der Kunst als gleichberechtigt gelten, daß es hier ein pro und contra gibt, hat seinen Vorgang in der homerischen Schilderung. Wenn wir z.B. in der Ilias (IV, 457 ff.) lesen63, wie Achäer A den Troer B tötet, Achäer C die Leiche an sich reißen will, um sie zu plündern, Troer D sich an dessen Hüfte, wie er sich bückt, eine ungeschützte Stelle ersieht und ihn durchbohrt und endlich ein mächtiger Kampf um die Gruppe entsteht, so erweckt dies beinahe den Anschein, als hätte der Dichter bezweckt, der späteren Kunst64 eines des Sujets, die wir an ihr gewohnt sind, zu überliefern; werden doch auch bei ihr Hellenen