Neuland unter den Sandalen. Christoph Müller

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Neuland unter den Sandalen - Christoph Müller


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der Jakobsweg viel bedeutete, denn die beiden hatten sich dort kennengelernt. Sie waren eng mit unserem Kloster verbunden. Eines Tages gingen sie zum frisch gewählten Abt Martin. Es wäre gut, meinten sie, wenn er als junger Abt auch Anregungen aus anderen Klöstern bekäme. Sie schlugen vor, dass einer der Mönche mit ihnen eine Reise zu französischen Abteien unternehmen sollte, um ihm nachher darüber zu berichten.

      Abt Martin fand die Idee gut, und ich war der Auserwählte. So kam es, dass ich mit dem Ehepaar verschiedene Abteien im Burgund besuchte. Nach meiner Rückkehr berichtete ich dem Abt ausführlich. Als ich mich verabschiedete, vertraute ich ihm noch etwas an, das mich seit dieser Reise nicht mehr losließ:

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      In Vézelay tauchte plötzlich der Wunsch auf, den Jakobsweg zu gehen.

      Fünf Kilometer vor Vézelay, einer berühmten Station am Jakobsweg, hatten wir unser Auto geparkt. Meine Begleiter drückten mir einen Pilgerstab in die Hand. Gerne ging ich auf ihren Vorschlag ein, die kurze Strecke bis zur Kathedrale zu Fuß zurückzulegen. Doch dieses Wegstück mit seinem langsamen Aufstieg zur Kirche, der Anblick der alten Steinfliesen, das Betreten der romanischen Basilika und das stille Verweilen im heiligen Raum, der Gedanke an Tausende Pilger, die im Laufe der Jahrhunderte hier gebetet hatten – das alles berührte mich zutiefst. Spontan stieg in mir der Wunsch auf, selber den Jakobsweg, den sogenannten Camino, unter die Füße zu nehmen.

      Nach dem jahrelangen „Bete und arbeite!“, wie ich es als Benediktiner gewohnt war, wollte ich Neuland unter meinen Füßen betreten. Zu meiner großen Überraschung sagte der Abt „ja“.

      Kaum einer von uns Einsiedler Mönchen hatte den Camino je gemacht. Gewiss, mein Tischnachbar, der betagte Bruder Alois, rühmte sich immer wieder, dass er den Jakobsweg sehr wohl kenne. Wenn ich nachfragte, wie weit er ihn denn zu Fuß gegangen sei, antwortete er halb prahlend, halb schmunzelnd: „Also, ich stieg jeweils in Santiago aus dem Car und überquerte den Vorplatz bis zur Kathedrale, das waren ganz sicher hundert Meter!“

      Ich hatte mir für den Pilgerweg Folgendes ausgedacht: In Einsiedeln starten und per Fahrrad die Schweiz und Frankreich durchqueren. Erst auf spanischem Boden würde ich den Lenker mit dem Pilgerstab vertauschen. Dann hieß es 700 Kilometer zu Fuß bis nach Santiago und wieder 700 Kilometer zurück, um schließlich per Rad nach Einsiedeln zurückzufahren. Der Abt stellte mir dafür 50 Tage zur Verfügung.

      Was das Übernachten betraf, so wollte ich trotz des zusätzlichen Gewichts auf keinen Fall auf ein Zelt verzichten. Ich hatte einen Film gesehen, der mir den Schlaf raubte. Auf den Betten sitzend, stachen Pilger einander die Blasen auf, überall hing nasse Wäsche herum, und es wurde geschnarcht, dass die Balken krachten. Wie sollte ich, der ich über Jahrzehnte hinweg meine Mönchszelle allein bewohnte, da überhaupt Schlaf finden?

      Rasch ging es ans Packen. Die Frage war jedoch nicht „Was nehme ich mit?“, sondern vielmehr „Was lasse ich alles zuhause?“ Zelt, Schlafsack und Luftmatratze alleine wogen schon drei Kilo. Keinesfalls würde ich mehr als zwölf Kilo mit mir herumtragen! Unverzichtbar erschienen mir aber verschiedene Kleider (auch warme), ein Regenponcho (der gleichzeitig als Zeltunterlage diente), Toilettenartikel, ein Reparaturset für das Rad, Helm, Pumpe, Esswaren, Trinkflasche, Messer, Taschenlampe und Fotoapparat sowie eine kleine Apotheke. Am Abend des 4. Juli 2003 stand das Fahrrad, mit einem unförmigen Rucksack beladen, im Klosterkeller bereit und wartete auf den Morgen.

       „GO WEST!“

      5. Juli

      Um 5.30 Uhr begab ich mich in die Klosterkirche. Vor dem großen Aufbruch wollte ich nochmals mit den Mitbrüdern ins Gotteslob einstimmen. Gleich nach dem kräftigen Frühstück holte ich das Rad hervor und schob es bis zum schweren Klostergitter, das sich ächzend öffnete. Ich hielt einen kurzen Moment inne. Dann fiel das Tor ins Schloss. Und los ging’s.

      Zunächst sollten es jedoch nur 300 Meter sein, denn schon bald bemerkte ich, dass im Hinterrad zu wenig Luft war. Glücklicherweise fand ich bei einer Tankstelle eine Pressluftpumpe. Aber ich hantierte so ungeschickt, dass die restliche Luft auch noch aus dem Schlauch entwich. Ich musste den am Vorabend aufwendig befestigten Rucksack wieder vom Gepäckträger nehmen. Immerhin glückte es im zweiten Anlauf. Endlich konnte es losgehen. Ich wollte nur noch fort, weg von allem, bloß kein bekanntes Gesicht mehr sehen.

      Doch meine Schwester Simone, die in der Innerschweiz wohnt, hatte von meinen Plänen erfahren und wartete irgendwo am Straßenrand, um ein Erinnerungsfoto zu schießen. Im ersten Moment war ich etwas perplex. In ihrer Sorge wollte sie mir unbedingt noch einige Medikamente und Esswaren mitgeben. Nur mit Zwängen und Stoßen fand all das in und außerhalb des Rucksacks noch Platz. Dann gab’s einen Abschiedskuss. Und es ging endgültig los.

      Beim Kloster Werthenstein gönnte ich mir eine Pause. Dort gab es eine unscheinbare kleine Grotte, wo angeblich heilendes Wasser entsprang. So füllte ich alle Flaschen mit dem wundertätigen Wasser. Und tatsächlich: Das erste Wunder ließ nicht lange auf sich warten. Denn in der nächsten Ortschaft war ich in einer langsam fahrenden Kolonne einem Autofahrer dicht auf den Fersen. Als er plötzlich abrupt bremste, konnte ich mit meinem schwer beladenen Fahrzeug einen Crash nicht mehr verhindern. Er kam wütend aus seinem Auto heraus und schimpfte laut. Aber ich besaß scheinbar schon die Abgeklärtheit des Jakobspilgers. Ich zog nur die Schultern hoch und schmunzelte über das ganze Gesicht. Da kein Schaden zu erkennen war, stieg der Fahrer leicht fluchend wieder in seinen Wagen.

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       „Ich wollte vorwärts kommen, alles hinter mir lassen und niemanden mehr sehen …“

      Als ich das Entlebuch und das Emmental hinter mir gelassen hatte, fuhr ich in die helvetische Hauptstadt ein. Dort verlor ich jede Orientierung. Keiner konnte mir den Weg Richtung Murten weisen. So irrte ich verärgert in der Stadt herum und fand nicht mehr hinaus.

      Endlich kam mir, im wörtlichen Sinn, der Himmel zu Hilfe. Denn ich blickte zur Sonne, die sich langsam Richtung Westen neigte. Das war’s! Ich musste mich doch nur immer westwärts halten, der Abendsonne entgegen, um zum Murtensee und schließlich nach Santiago zu kommen. „Go West!“ Das wurde zur wichtigsten Pilgerregel, die mich immer begleitete und mich nie im Stich ließ.

      Bei untergehender Sonne erreichte ich schließlich den traumhaft gelegenen See. Ich fand einen idyllischen Zeltplatz. Die letzten Sonnenstrahlen waren Zeugen eines glücklichen Pilgers, der den ersten Tag seiner Reise mit einem erfrischenden Bad und einem dankbaren Gebet beschloss.

       ERSTE SIESTA IN DER BLUMENKISTE

      6. Juli

      Ich meinte, früh aufgestanden zu sein. Doch es wurde 9.00 Uhr, bis das Zelt zusammengelegt und jedes Ding seinen Platz im Rucksack gefunden hatte. Ich erkannte: Auf dieser Fahrt konnte nur strikteste Ordnung ein sinnloses Herumsuchen und damit verbundenen Ärger und Zeitverlust verhindern. Aber ich stand erst am Anfang meiner Lehrzeit, und es gab noch manche Sucherei auf dem Weg. War endlich alles aufgeräumt, staunte ich jedes Mal aufs Neue, wie all das, was eben noch verstreut herumlag, in einem einzigen Rucksack Platz fand.

      Ich schlug nun den Weg Richtung Westschweiz ein. Um möglichst schnell vorwärts zu kommen, fuhr ich immer auf den Hauptstraßen. Die Autos störten mich nicht.

      Vor Lausanne gab es eine kräftige, in der Mittagshitze mühsame Steigung auf 872 Meter hinauf. Ich wurde richtiggehend schlapp und fragte mich, ob ich mir nicht zu viel zugemutet hatte. Jedenfalls musste ich mich bei nächster Gelegenheit am Straßenrand niederlegen.

      Zufällig befand sich dort ein Blumengeschäft. Ich wählte als Bettstatt zwei wacklige Bretter, die eigentlich zum Aufstellen von Blumenkisten gedacht waren. Trotz des regen Verkehrs und des Gestanks musste ich tief eingeschlafen sein, denn plötzlich fiel ich unsanft auf den Boden. Für einen Moment wusste ich gar nicht mehr, wo ich überhaupt war. Benommen


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